Читать книгу Die Wende im Leben des jungen W. - Frederic Wianka - Страница 12

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UNGARNs Farben waren es, die unbekannten, nach denen ich mich vor Beginn schon sehnte …

Verschwitzt erreichten wir den Aussichtsturm, ein hölzernes Gebilde wie von einer Feuerwacht, verwittert und bemoost, enge, steile Leitern im Innern. Oben blies ein heftiger Wind durch unsere feuchten Sachen. Kurz ließ er mich fürchten, bis ich die Abendsonne sah, seine Frische nicht mehr wahrnahm, fasziniert wie ich war von dem reifen Gelb, seinen Spiegelungen in den Giebelblechen, einem vereinzelten Blinken der Häuser, die sich bergab, dem See entgegen zu einer Siedlung verdichteten. Oder von ihrer Reflexion auf der anderen Seite, von der kleinen Landwirtschaft her, die am Fuß eines Weinbergbogens das Zentrum eines grünen Amphitheaters war. Zum See hin offen, der Hof im Abendlicht, ringsum dramatisch wachsende Schatten.

Nicht mehr türkis, ostseegrau war das Wasser jetzt. Und gegen die Sonne geschaut, Richtung Westen, aus einer graugrünen Melange heraus, wechselte der See gegen unser Ufer in ein sich kräftigendes Blau. Der Blick war frei nach allen Seiten, fünfzig Kilometer oder mehr. Jetzt, in Erinnerung der Mittagssonne, verstand ich Ferne: das Zusammenspiel von ausgedünnten Farben – ein Kontrastverlust, mit einem Verschwimmen der Konturen … Die sinkende Sonne … ein Feuerrot … Glutrot … Blutrot, in das Blau der Nacht ausgestrichen.

Ich schaute, während Du von unten zur Eile mahntest und bald laut heraufgerufen hast. Ich hätte die Nacht auf dem Turm verbracht, einen Mond erhoffend.

Der Abstieg auf Trampelpfaden, hart und ausgetreten, begonnen im letzten Rot, der schwindende Tag unser Begleiter durch verdorrtes Geäst. Jesuslatschen, das gefährlichste Schuhwerk für Wanderungen solcher Art. Tastend am Gestrüpp, wie blind über Wurzelstufen, auf ausgetretenen Terrassen den Berg hinab. Dein Fluchen war mein Wegweiser voraus. Dein Ziel ein spärlicher Schein in der Nacht. Eine Biegung führte weg, die nächste wieder hin. Steil bergab, kein Halt in den Riemen, die Zehen krallten vor der Sohle in den Boden. „Bist du taub oder hast du mich nicht hören wollen?“ Der Schein war bald heller. Laternen hinter dem letzten Dickicht, einseitig der Dorfstraße, alle zwanzig Meter an schiefen Holzpfählen verschraubt. Durchhängende Kabel, ein sandiges Plateau zuvor, dann der abschüssige Asphalt. „Keine Antwort kann auch eine Antwort sein.“ Der Teer im Streit mit den Laternen, ein lichtschluckendes Band, träge funkelndes Gestein im Asphalt. Hunde bellten durch Lattenholz, schürften sich die Schnauzen, andere verbissen sich in Maschendraht. Ein Mofa kreischte von hinten vorbei, verschwand und tauchte auf, kleiner und leiser in jedem Lichtkegel. Noch ein Gasstoß, eine abschüssige Kurve, das schrille Sägen verklang. Eisiges Neon blendete hinter der Kurve, überblendete kalt die Lichterketten eines Gartenlokals, die Lampions über den Tischen. Am Eingang mühte sich ein halber Quadratmeter Colarot um Gastlichkeit. Stimmengewirr, angeregt und lauter mit jedem Schritt, ein hörbarer Wegweiser, übertönt vom Quietschen des Tores, nicht laut, aber deutlich in anderer Lage. Ein verkündender Ton. Der alte Ober vor leeren Tischen, grußlos gegen die neuen Gäste, das Tablett unter dem Arm, Eile in kurzen, schnellen Schritten. Ein abrupter Stopp, ein schneller Schritt rückwärts, eine sichtbare Entrüstung am letzten Tisch vor dem Haus. Eine ruckartige Bewegung des Oberkörpers, eine Welle, die daraus folgte, die über Schulter und Arm in die Serviette lief, die ein ungehöriges Laubblatt von seinem Tisch fegte … Das sorgsame Glattstreichen der Decke. Die Wiederaufnahme des tantenhaften Trippelschritts. Die Straffung des Rückens im Lauf, als ein halbes Dutzend Biergläser zusammenstieß, als ihn das laute Prost seiner letzten Gäste erreichte. Die folgende Beschleunigung der Schritte, die doppelt genommenen Stufen, sein Schwungholen mit dem Oberkörper, bei jedem Schritt ähnlich einem pickenden Huhn … unser Lachen hatte etwas Versöhnendes.

Der Ober war in der Tür unter dem Neon verschwunden. Sein freier Arm hatte in weiten Bögen Luft geschaufelt, das Tablett hatte er fest unter den anderen geklemmt, wie ein Militär die Mütze beim Rapport vor einer alten, ehrgebietenden Majestät: Schnell an der Kasse gekurbelt, klingend springende Lade, fröhlicher Ton seit k.u.k. Der Digitalrechner zwischen bierklebrigen Fingern, die Summe der vielen Runden, der tagesaktuelle Faktor, das Produkt ist eine utopische Zahl. Eigenes Geld in die Kasse gezählt, das Bier fröhlich aufgefüllt, beschwingt von der lohnenden Arbeit. Das Haus dankt vielmals und schmeißt die letzte Runde …

Er war in der Tür stehengeblieben. Er war erstaunt. Er erwartete uns nicht mehr, oder wir waren bereits vergessen. Er trug schwer an seinem Tablett, beidhändig über der Schulter. Ein Säulenheiliger für drei Terrassenmeter. Ein Beladener mit tastenden Fußspitzen auf der Treppe, der alte Rücken gebeugt, steif bis zur letzten Stufe. Ebenerdig wieder ganz der Herr Ober, der Hausherr mit zurückgeworfenem Kopf, seine Gäste abschätzend im Vorübergehen: Schuhe, Hose, T-Shirt, Schnauzflaum … Das Knirschen des Kieses unter seinen Schuhen vermischte sich mit der Frage: „DDR?“ „Nein Deutschland.“ Ein zackiges Nicken zur Begrüßung, Herr alter Schule. Er nickte noch einmal für den freigemachten Weg. Und er nickte dankbar am letzten Tisch, den großzügigen Gästen zu jedem servierten Bier: „Bietscheen … Bietscheen … Bietscheen …“

„Wie kannst du das sagen?“

„Hab ich gelogen?“

„Der will doch Westmark haben.“

„Aber Forint wird auf der Rechnung stehen.“

„Das wird peinlich.“

„Schämst du dich etwa für dein Geld und alles andere?“

„Ich will mich nicht für dich schämen.“

Ich war schon dem Winken des Obers gefolgt, seiner Geste des zurückgezogenen Stuhls: Voilà … Ein übertriebener Handschwung hatte den Tisch präsentiert, ein weiterer das Reserviert verschwinden lassen, ein Zupfen die verrutschte Manschette im Ärmel der Kellnerjacke zurechtgeschoben. Er trug das Schild weg, mit ausgestrecktem Arm, schnelle Trippelschritte an leeren Tischen vorbei, sichtbar war die Freude über den sich so spät noch abzeichnenden Erfolg. Er kam mit den Karten wieder. Er tippte mit einem Diener auf seine Empfehlung. Die Bekräftigungen, die sich anbiedernden Versuche in Deutsch, die geküssten Fingerspitzen sagten mir, dass sonst nichts mehr zu haben sei: „Zweimal Gulasch bitte und zwei große Bier!“

Nun wieder wie unter einer Last gebeugt rannte er Richtung Restaurant davon. Er rannte mit den Karten unterm Arm, wie jemand, der in sein Büro eilt, der mit seiner untergeklemmten Aktentasche der immer gleichen Verspätung hinterherläuft, die ihm täglich widerfährt … Wie ein ausgedienter Schreibstubenbeamter dachte ich und hörte ihn von der Treppe schon die Bestellung in die Küche rufen.

„Hast du die Veränderung gesehen“, staunte ich.

„Hast du die Preise gesehen?“

„Rechne doch mal um!“

„Habe ich. Aber wir sind zwei Wochen hier und dürfen nichts mehr umtauschen.“

„Egal. Ich habe Hunger“, sagte ich ungeduldig, von meiner Lautstärke selbst überrascht.

„Bietscheen.“ Der Alte warf zwei Filze zwischen uns und stellte das Bier darauf. Am anderen Tisch war es seltsam still geworden. Zu mir gebeugt entgegnetest Du leise: „Geben wir heute die Hälfte aus und morgen vielleicht die andere, dann sind es bloß noch zwölf Tage …“

„Ich habe Westgeld dabei. Prost.“

Ich hatte mein Glas gehoben und allein getrunken. Du warst in die Lehne zurückgefallen. Du schautest Deinen Händen zu, ihrem unwillkürlichen Kneten, wie die Daumen nervös in den Handflächen rieben, wie sie abwechselnd die Knöchel zählten.

„Du hast was?“

„… D-Mark mitgenommen.“

„Wo hast du die her?“

„Ist doch egal.“

„So was kann nicht egal sein.“

„Das tut doch nichts zur Sache. Geht dich auch nichts an.“

„Hast du die etwa von deinem Vater?“

„Von meinem Vater? Den hab' ich seit Jahren nicht gesehen.

Und es ist auch egal. Hat doch jeder was.“

„Das ist nicht egal!“

„Warum ist es nicht egal? Warum willst du wissen, woher ich das Geld habe?“

„Weil das ein Devisenvergehen ist.“

„Ein Devisenvergehen …“, wiederholte ich mit lautem Lachen. „Da kann ich dich beruhigen. Mein Vater sieht in jeder nicht abgelieferten Westmark kein Devisenvergehen, für ihn ist das ganz klar ein Fall von Landesverrat.“ Mir unterlief eine wegwerfende Geste.

„Ich meine deinen richtigen Vater.“

Sprachlos sah ich diesen kurzen Triumph eines Wissens. Eine Sekunde nur, aber ich habe ihn bis heute nicht vergessen. Diese Häme, wie sie der Jugend leicht widerfährt, offensichtlich noch im kleinsten Mienenspiel. (Deine kleine, verräterische Rache für das Warten vor dem Turm?) Angriffslust, sichtbar in einem Flackern schmaler Augen. Und ein Grinsen, das nur zu ahnen ist, hinter dem starren Ausdruck der Überheblichkeit. Aber keine Spur mehr davon, wenn sie das Unbedarfte ihrer Äußerung bemerkt, wenn sie selbst feststellt, einen dummen Fehler gemacht zu haben. Röte im Gesicht, ein verschämtes Ausweichen, das bald in sichtbares Nachdenken wechselt. Eine angespannte Suche, Gedanken, die zu keiner glaubhaften Erklärung führen wollen … Du hattest zu dem anderen Tisch hinübergeschaut, als wäre sie dort zu finden gewesen. Oder war es aus der Befürchtung heraus, man beobachte uns? Und von diesem Tisch, als könne Hilfe von dort herbeitreten, nach dem Gartentor hin, das allerdings still im Rahmen lehnte. Vielleicht entsprang Dein Ausweichen auch dem Wunsch, das Gesagte unausgesprochen zu machen, die Zeit bis zu unserem Eintritt in diesen Garten zurückzudrehen? Du schautest Dich nach dem Ober um, wie aus eingeübter Vorsicht. Bestimmt nicht, weil Du hungrig warst. Vielleicht weil Du mit dem Essen die so dringende Ablenkung erwartet hast? Oder um dieser Eingebung zu folgen, selbst dem Ober eine Bestellung zu geben, welcher aber nicht zu sehen war? Vergeblich. Schließlich hattest Du vertraulich nach meiner Hand gefasst: „Wenn die uns erwischt hätten?“ Ich zog sie vor Deiner Berührung weg. „Was weißt du über meinen richtigen Vater?“

„Gar nichts …“, sagtest Du. „Abgehauen ist er“, folgte einem Moment des Überlegens.

„Abgehauen …?“

„Von deiner Mutter … meine ich.“ Du hattest gestottert, brauchtest Pausen, die ich an Dir nicht kannte. „Verraten hat er sie … Oder sie hat ihn verlassen …? Was weiß ich?“

„Woher weißt du das?“

„Der ist doch nicht mehr da.“

„Wo ist der denn?“

„Was weiß ich. Ich meine nur, der hat euch im Stich gelassen.“

Du schienst Deine Sicherheit zurückzugewinnen, als ich nichts darauf sagte, wie wieder zu Dir gefunden mit der Stille zwischen uns. Beruhigend war bestimmt auch die wieder aufgekommene Biergartenakustik. Die hörbar sich selbst genügenden Gespräche. Das laute Gelächter, das vom letzten Tisch herüberwehte. Aber ich fragte Dich noch einmal, was Du über meinen richtigen Vater wusstest.

„Wirklich gar nichts …“, beharrtest Du. Deine Erklärung aber war schwach: „Du hast einmal von dem Mann deiner Mutter gesprochen und nicht von deinem Vater.“

„Ich habe niemals von einem richtigen oder falschen Vater gesprochen. Ich habe auch nie das Wort Stiefvater benutzt.“

„Aber das ist doch das Gleiche.“

Das Wortspiel mit Dasselbe aber ist es nicht, hatte ich mir geschenkt. Mein Zweifel, wie ich heute weiß, blieb zu Recht, der zwingende Schluss aber, dem ich noch auswich, weil ich ihn nicht zu Ende denken wollte, weil er unüberwindlich zwischen uns gestanden hätte, über diese zwei Wochen hinaus, war es nicht.

„Du bist mein Freund …“, unterbrachst Du meine Gedanken. „Wir verreisen zusammen. Und ich wäre genauso dran gewesen. Ich musste das fragen.“

„Ein Devisenvergehen von vielen. Schau dich doch mal um!“

„Aber wir sind nicht zuhause. Wir sind an zwei Grenzen kontrolliert worden.“

Ich schlug mir auf die Brust, auf den Beutel unter meinem Hemd. „Dieses Geld nimmt man überall.“

Der Ober knallte die Teller auf den Tisch. „Viel Appetit“, sagte er und wies auf seinen Feierabend hin: „Halbe Stunde, dann Schluss. Bier schnell noch?“ Ich zeigte ihm ein V aus zwei gestreckten Fingern. Er schlurfte davon, den Tag in den Füßen.

„Du hättest mir das sagen müssen.“

„Damit du dagegen bist?“

„Weil ich dein Freund bin.“

„Deswegen habe ich es dir nicht gesagt.“

„Wie freundlich von dir, geradezu nobel … Aber ich wäre genauso dran gewesen. Verstehst du das nicht?“

„Jetzt lass mal locker!“

„Locker lassen?“, hattest Du Dich vorgebeugt und gesagt: „Mein Vater hat mich schon vor deiner Renitenz gewarnt.“

Letztendlich war es dieser Satz, nicht die Erwähnung meines Vaters, die sich damit stellende Frage, die von da an unausweichlich zwischen uns stand. Der Verdacht, der von nun an fortwährend in mir arbeitete, noch verstärkt in Deiner Gegenwart, ganz unbeabsichtigt, der umso mehr bohrte, sich immer wieder von selbst in Erinnerung brachte, der immer wieder überraschte, nie gewollt war, ein nicht zu unterdrückender Zweifel … Die Frage, die ich mir selbst hätte beantworten können, mit Vertrauen nur, ganz schlicht, wie ich heute weiß: Wie kommt er dazu? lautete ihr erster Teil. Dein Vater kannte mich nicht, hatte nie mit mir gesprochen. Nur einmal war er mir begegnet, allein auf den Fluren. Der Herr Direktor, der mich bloß meiner Verspätung wegen registriert hatte, mit einem erzieherischen Blick zur Uhr: Fünf Minuten vor der Zeit ist des Lehrlings Pünktlichkeit … Fünf Minuten, die mich verdächtig gemacht haben sollen? Ein zweites und letztes Mal bei meiner Verhaftung aus dem Unterricht heraus. Leicht zu beantworten ist dieser Teil der Frage, zwingend der Verdacht: Seine Warnung vor mir und Dein Wissen um meinen Vater. Die Position Deines Vaters sprach mehr für eine Zusammenarbeit als dagegen. Wie aber lautete die Antwort auf ihren zweiten Teil? Das Denken kreist um die schlimmste Annahme, immer wieder, bald andauernd, alles wird zum Indiz, bis jeder bewahrte Zweifel abgetragen ist: Warum eigentlich wurdest Du nicht verhaftet?! Was hast Du ausgesagt? Was ist mit Dir geschehen? Oder berichtest Du selbst, aus freien Stücken sogar?

Wir aßen wortlos, vom Ober, der die anderen Tische abdeckte, mehrfach umrundet: „Schmecken gut?“ Eine Böe staubte durch den Garten. Das Tischtuch wehte über die Kante. Es winkte, als ob es mitgenommen werden wollte. Ich schob den Teller fort. Der Ober dachte, es schmecke nicht. Er zog die Schultern hoch, es war ihm egal.

„Hey … ihr da …!“ Am hinteren Tisch stemmte sich jemand in die Höhe und legte sich unsicher tastenden Fußes den Weg zurecht. „Hey … Wo seid ihr her?“ Ich trank mein Bier aus und winkte dem Ober mit dem leeren Glas. „Wir haben nämlich 'ne Wette am Laufen“, lallte er, schwenkte vom Weg ein und nahm sich einäugig unseren Tisch zum Ziel. Eine notwendige Stütze, die es schnellstens zu erreichen galt. Er stürzte voran in kurzen, immer schnelleren Schritten, als versuchten seine Beine den vorgelehnten Oberkörper einzuholen. Mit Glück bekam er unseren Tisch zu packen, dann rief er dem Ober hinterher: „Drei Große noch!“ Der Ober auf der Treppe, eine schwarze Silhouette vor dem Neon, hörte den Befehl und verschwand in der Tür.

„Seid ihr aussem Osten? Mal ganz direkt gefragt.“

Der Tisch bog sich unter der Last, schwankte wie ein Floß. Wellen schwerer See, als würde er ihn mit sich in die Tiefe reißen, sobald er fiele. Links, rechts, ein balancierendes Spiel. Bizeps, Trizeps. Ein ärmelloses T-Shirt. Querstreifen. Gespannter Stoff. Wie ein Ruderer trainiert. Ihm gefiel, was er mit einem Auge sah. Und als hätte er mit dem servierten Bier auch unser Einverständnis gehabt, zog er einen Stuhl heran und krachte hinein. Er klopfte dem Ober auf die Schulter und schaute über den Glasrand: „Prost … Ich bin der Mark …“ Kurze Stille. Ein Moment, der für unsere Namen gedacht war. Dann ein großer Schluck allein. „Also wir sind aus Frankfurt … am Main, meine ich … hahaha. Witzich, oder? Wir haben gewettet … ich mit meinen Freunden da drüben, dass ihr aussem Osten kommt.“

„Und …“, hatte ich gefragt, „wie hast du gewettet?“

„Das sag' ich ma' später … Das könnte ja beeinflussen … haha.“ Ein einsames Lachen. Ein blinzelndes Auge. Ein Spirellilöckchen, das davor hing, das er fortstrich. Er saß breitbeinig, die rechte Hand am Bier auf dem Tisch, der linke Ellenbogen auf dem Knie. Ein Auge, das fragend schaute. Das andere nach wie vor zugekniffen, was ein Schielen verhinderte oder ein Taumeln.

„Osten oder Westen, das hängt vom Standpunkt der Betrachtung ab.“ Ich sah Dich angeekelt das Bier wegschieben. „Wir jedenfalls kommen aus der Deutschen Demokratischen Republik. Schon mal gehört? DDR? Ostdeutschland meinetwegen.“

„Scheiße …“, rief der Typ, und meinte nicht unser etwaiges Schicksal. Sein Auge suchte den Tisch mit den Freunden. „Ich hab' auf meine Menschenkenntnis gesetzt … Auf euch hab' ich gesetzt!“ Er stemmte sich mit einem Armstütz hoch. Ein kräftiger Schluck half ihm über das Gelächter aus der hinteren Ecke des Gartens hinweg. „Jetzt muss ich eure Rechnung zahl'n.“

Das kommt überhaupt nicht in Frage hattest Du gesagt, oder wolltest es. Ich rief: „Halt's Maul! Du Arschloch!“


SCHWERIN. Über die Kimme gelinst, das Auge nun auf fern gestellt, das Korn gesucht, dann noch ferner – alles in eine Linie gebracht, soweit die Goldkrone es noch zulässt. Eine Linie aus drei Punkten und ein Knack … Ein kleines Loch vorn links, unterhalb des Henkels … Zieht also links runter. Den Kolben in die Hüfte, den Hebel zurück und vor. Wieder angelegt, rechts oben, kurz unter den Mundrand, knack … Ein Loch in der Mitte. Jubel brandet auf: „Schützenschnur! Schützenschnur!“, johlt es durch dünne Barackenwände über den Appellplatz des zweckentfremdeten Kinderferienlagers, weht in den Mecklenburger Wald. Die Tassen werden aneinandergeschlagen, auf mich wird getrunken. Ein beliebiger Anlass, bis zum nächsten Loch, dem übernächsten … dem vollendeten Gießkannenmuster um das Loch in der Mitte herum. Wer schießt, darf nicht trinken, versteht sich von selbst. Erst wenn das Ziel vernichtet ist, so unser klassenkämpferischer Ansporn. Der Kommunistencognac ist unser Lohn … Loch um Loch in die gelbe Plastetasse, bis nichts mehr übrig ist, nur der Boden noch steht, flach und schwer zu treffen. Irgendwem schießt die Sangeslust ins Blut:

„Spaniens Himmel breitet seine Sterne

über unseren Schützengräben aus.

Und der Morgen grüßt schon aus der Ferne,

bald geht es zum neuen Kampf hinaus.“

Eine simple Melodie, ein zackiger Rhythmus, ein schönes Marschlied. Gern gesungen, wie am Vormittag schon, auf dem Weg vom Schießstand zurück, verärgert wegen der verpassten Chance, wütend über die raureifbelegten Nachwuchskalaschnikows. Eine Scharte war auszuwetzen: Schießen, meine einzige militärische Verwendbarkeit – gegen eine Kindergartentasse. Noch ein Schuss im Magazin, das Moll eines verlorenen Krieges im Ohr, die Schunkelei um mich herum. Die dritte Goldkrone aus vollen Tassen. Ich fokussiere vor und zurück … Eigentlich sind es vier Punkte, denke ich und ziehe die Linie ganz schmal durch das wankende Kameradenspalier, von meinem Auge über Kimme und Korn, um nichts zu sehen von dem Trubel, eins zu werden mit dem Ziel: Darin liegt die Kunst des Schießens – einfach abknallen. Auch bewährt, sich die Tasse, die Scheibe, den Pappkameraden als seinen Schleifer vorzustellen. Nichts anderes verdient er. Er weiß es auch. Und er genießt es sichtlich. So wie er es genießt, wenn er vaterländischen Alarm spielen darf und im Frost antreten lässt, zum dritten Mal in einer Nacht. Einst ein Masochist, ein Prügelknabe und geil darauf. Ein Schinder nach dem Seitenwechsel, unser Antreiber im Morgengrauen. Ein frustrierter Verlierer mit Stoppuhr und lauter Fresse und ewigen Wiederholungen: „Antreten!“ „Im Laufschritt!“ „Auf die Stube!“ „Im Laufschritt!“ „Antreten!“ Ein Feldherr mit Zeitvorgaben, der seine Rochade plant, einen kühnen Gegenschlag von Siebzehnjährigen mit Holzgewehren vor der Brust und Arbeitsschuhen an den Füßen und Gasmasken im Gesicht. Ein Napoleon, der Befehlshaber einer Lehrlingskompanie, die im Eilmarsch die Morgennebel teilt, die durch Buchenwälder eine Flanke schlägt, die seine Zange vorwärts treibt während sie Minenfeld hört und in einer Reihe durch das Laub über Wurzeln stolpert, die auf halber Strecke beim Handgranatenweitzielwurf die feindliche Vorhut vernichtet, die über Kartenmaterial und Kompass gebeugt, den weiteren Weg in die taktische Stellung plant: Lagebesprechung … Das Ergebnis ist von vornherein egal. Es lenkt nur ab … Und wieder treibt er an. Er sieht die Erholung in den Reihen, sieht seinen Erfolg gefährdet, mithin den geilen Spaß. Und wieder die Lust, und wieder ein Schrei: „ABC-Alarm!“ Einer kotzt in die Maske.

Der Schießstand ist in Sicht. Der Zeitplan ist eingehalten. Ein Strategenlächeln auf den Lippen: „Fünf Minuten vor der Zeit, ist des Soldaten Pünktlichkeit!“ Wehrlos geschliffen steht die Kompanie vor dem Schießstandleiter. Er übergibt sie und geht in den dampfenden Rücken auf und ab. Er hört mit ihr die Einweisung: „Kleinkaliber, 4,7 Millimeter, KK genannt.“ Er hört auch das geraunte „Kinderkalaschnikow“. Er begrüßt die Zurechtweisung „Auf vierhundert Meter tödlich“, und schaut händereibend auf die Flintengarnitur. Aber niemand weiß, ob es bloß wegen der Kälte ist.

Zehn Bahnen, zehn Pappfeinde. Erdwälle zu den Seiten und am Ende. Ein künstliches Tal im mecklenburgischen Urwald. Buchen ringsum. Wind pfeift durch blattlose Gerippe. Drei Zehnerreihen im dünnen Grün der GST. Ein farbiges Spiel privater Unterfütterung ragt aus Krägen, Ärmeln, Hosenbeinen. Die erste Reihe ist bewaffnet, ist feuerbereit, ist eine lustige Buschtruppe oder furchterregendes Paramilitär. Sie wirft sich auf die Matten, wirft sich dem Feind entgegen. Sie sieht ihn über Kimme und Korn, sieht ihn technisch. Er bleibt gesichtslos – ein schwarzer Fleck auf grauem Karton. Sie sieht den Feind wehrlos, er ist reglos, sie drückt den Abzug … Schulterstoß und Knall … Ein dumpfer Widerhall schlingert aus dem Tal, zerreißt im Wald. Flügelschlagen und Gekreisch in den Kronen … Eine unglaubwürdige Stille nach dem letzten Schuss. „Sichern“ ist befohlen. Ein Fernglas wird gereicht. Ich sehe ein kleines Loch, rechts über der Schulter. Der Schleifer ist verärgert. Er klatscht in die Hände, spornt mich an. Er weiß nicht, dass sein Leben hier zählt. „Entsichern! Feuer!“ Die Linie nach links unten, ich ziele dem Loch gegenüber, auf sechs Stunden früher, wie bei einer Uhr. Oder sechs Stunden später, was besser wäre: Ich verschenke gern diesen Teil meines Lebens, denke ich und drücke … und drücke … Vereinzelte Schüsse auf den Nebenbahnen. Drei, vier, ein vielfaches Echo. Mein Abzug ist wie festgestellt. Ich kontrolliere die Sicherung, ziele erneut und drücke wieder vergebens. Meine Hand geht hoch für die Meldung. Ein Ersatzgewehr, schneller als in jedem Krieg. Erklärende Worte, eine verlegen gestammelte Entschuldigung: „Ist eine Ladehemmung, Kamerad. Bei den Temperaturen verharzt das Öl.“ Wäre ja nicht mein Krieg, nur mein Leben, denke ich. Unerwidert bleibt auch das Kamerad. Es bleibt stehen, wie der Feind stehen bleibt, dass er vor Glück lachen könnte, wäre er nicht aus Pappe, festgeschraubt in fünfzig Metern. Eine Sandfontäne hinter ihm, eine andere Maschinenpistole. Eine Fontäne vor ihm, die nächste Maschinenpistole. Der Wechsel läuft wie geschmiert, eine Rotation auf allen Bahnen, die rückwärtigen Dienste im Akkord, ein vielstimmiges Geflüster aus Meldung und Befehl: Ladehemmung – Sichern – Gesichert – Entladen – Waffe laden – Entsichern – Feuer … Und über allem, der aus dem Hintergrund gegen die ablaufende Zeit brüllende Spieß.

Endlich ein Schuss … Links, knapp unterhalb des schwarzen Flecks. Und wieder drücke ich gegen den Widerstand im Abzug. Ich reiße am Schlitten. Ich stoße den Kolben gegen den Boden, abwechselnd das Magazin. Ich will meinen Treffer in die Mitte. „Feuer einstellen“ hallt es über den Platz. Und das Schwarz, und was ich darauf gesehen habe, bleibt unverletzt, kein Treffer, keine tödliche Wunde, keine Ströme von Blut. Es lebt noch und brüllt wieder seine Wut heraus, erregt schon beim Gedanken ans Antretenlassen … Ein enttäuschtes Kind mit Macht und böser Phantasie schreitet die Reihe ab, schüttelt den Kopf und schreit: „Stillgestanden! Ihr Pfeifen! Kehrt – Marsch! IM LAUFSCHRITT! ZACK! ZACK!“

„Die Heimat ist weit,

doch wir sind bereit,

wir kämpfen und siegen für dich:

Freiheit!“

Ich gleiche aus und drücke ab. Der Tassenboden schnalzt davon. Jubel brandet auf, Gejohle umtost mich. Noch ein Prost. Einer klopft mir auf die Schulter. Ein Anderer entreißt mir das Gewehr. Der Herausforderer ist erkoren. Er will sich gegen mich beweisen. Ein neues Ziel ist schnell zur Hand. Er torkelt zum Strich, schwankt mit dem Luftgewehr, den Lauf gegen eingezogene Köpfe. Er sieht die Hände davor geschlagen, oder sieht sie nicht. Er sieht die bauchige Kanne, ein leichtes Ziel. Er lädt und schießt und hört den Chor der Barrikadentauber:

Die Wende im Leben des jungen W.

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