Читать книгу Die Wende im Leben des jungen W. - Frederic Wianka - Страница 8

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Die Freude über die Tage, die folgen sollten, hatte mich gefangen, dass sie enden würden, daran wollte ich nicht denken. Oder ich konnte es nicht. Diese Erfahrung fehlte mir, zwei Wochen ohne Eltern, der erste Urlaub mit einem Freund. (Auf Sommerfrische, wie sie immer sagten und die stolzen FDGB-Heimaufenthalte meinten. Rennsteig, Binz oder Oberwiesenthal - Intelligenz bevorzugt im Arbeiter- und Bauernstaat.) Die sich jährlich wiederholenden Wochen hatten sich in mein Gedächtnis gebrannt als eine nicht enden wollende Abfolge von Spaziergängen. Tägliche, tagfüllende Wanderungen, auf denen er mit der Karte in der Hand immer vorweg geschritten war, ein unbeirrbarer Eroberer, seine Nachhut keines Blickes würdigend. Ich lief am Ende, beladen mit Fotoapparat, Fernglas und Proviant, den von ihm geschnitzten Spazierstock nutzlos unter den Arm geklemmt oder fest in der Hand, einem Sturmgewehr beim Angriff gleich. Zwischen uns, im freien Raum wie ein Melder zwischen zwei Truppenteilen, ging meine Mutter einsam entschlossen ihr eigenes Tempo. Wenn sie schneller wurde, rückte sie zu ihm auf, ging sie langsamer, fiel sie zu mir zurück. Die Hoffnung ein Bindeglied zu sein, zwischen ihm und mir, hatte sie längst aufgegeben. Unsere Wanderungen verbanden in täglicher Steigerung meiner Langeweile Museen, Kirchen, Höhlen, Ruinen, Aussichtspunkte. Und stets hatte ich die Ausrüstung bereitzuhalten. Fotoapparat und Fernglas hingen mir an zu langen Lederriemen vom Hals herab, bedrohlich nah dem Schritt. Gekreuzt darüber und einen Arm hindurch gesteckt, lag der Riemen der Brottasche, damit beides beim Gehen nicht allzu sehr hin und her schlug, dass beides gebremst wurde vom Gewicht der belegten Brote, Äpfel, Kohlrabis oder was ich sonst in dieses peinliche Relikt aus meinen Kindergartenzeiten zu stopfen hatte. Wenn er auf diesen Wanderungen plötzlich stoppte und so reglos dastand, als könnte die kleinste Bewegung einem imaginären Feind unsere Anwesenheit verraten, wenn er wortlos, vor Wichtigkeit fast platzend, irgendwohin schaute, auf eine Lichtung, einen Fluss, eine Straße, einen Steinbruch oder sonst etwas Belangloses, das bloß deshalb von Bedeutung war, weil es auf einmal vor ihm lag, dann wartete er, bis wir aufgerückt waren, bis er unvermittelt seine Hand nach hinten strecken und das Fernglas von mir verlangen konnte. Sofort legte ich den Spazierstock zu Boden, hob den Riemen der Brottasche über den Kopf, klemmte sie mir zwischen die Beine, entwirrte die beiden anderen Riemen und gab es ihm. Er, nun mit dem Fernglas vor den Augen, die Ellenbogen parallel zum Horizont, beobachtete die Landschaft, um meiner Mutter, der gelernten Fotografin, ein geeignetes Ziel zuzuweisen. Damit sie, ob Weitwinkel oder Fokus, es festhielte, zum Beweis der Schönheit unseres Urlaubsortes. Aber ich, der hinter ihm stand, die Hände längst am Fotoapparat, bereit ihn meiner Mutter zu geben, wenn er als ausreichend erachtete, was er sah, stellte mir seine ausgestellten Ellenbogen als Flügel vor. Ich sah ihn von geheimnisvollen Winden in die Luft gehoben, auf Höhe der Baumwipfel in die Weite getragen, wo ihn der Zauber meiner Phantasiewelt stets verließ.

Einmal aber ist mir alles durcheinandergeraten. Ich war aus seinem Schatten getreten und stand neben ihm. Ich hielt das Fernglas fest, während ich den Riemen des Fotoapparats über den Kopf hob und talwärts schaute. Vor mir die Tiefe, die meine Augen verzweifelt absuchten: Ein friedlich scheinender Bach zerschnitt das steile Massiv, waghalsiges Fachwerk ränderte die Ufer, ein klappriges Wasserrad drehte sich, wie sich seiner Bestimmung erinnernd. Türme von Holzscheiten, wo die letzten Freiflächen gewesen waren. Nirgends ein ordentlicher Platz für den erträumten Absturz. Enttäuscht glitt mir der Riemen aus der Hand, und der Fotoapparat schlug auf den Fels. Als ich das abgebrochene Objektiv auf dem Boden vor mir sah, daneben den Apparat mit der geborstenen Fassung, das schwarze Loch, in das dieses unergiebige Tal hatte gebannt werden sollen, überlegte ich, ob es noch sinnvoll sei, ihm das Fernglas zu geben. Ich muss gleichgültig ausgesehen haben. Aber vielleicht war mir auch eine heimliche Freude anzusehen: Kein Absturz – keine Urlaubsfotos. Meine Genugtuung war so schlicht, wie seine Reaktion darauf. Meine Mutter hatte neben uns gestanden und kurz seiner Wut zugesehen, bevor sie etwas sagte. Ich weiß nicht, ob sie erst überlegen musste, wem ihre Abneigung in diesem Moment galt, ihrem Mann oder mir. Schließlich hatte ich ihren Fotoapparat fallen lassen, ein Erbstück ihres Meisters. Materiell ersetzbar in einem antiquarischen Land. Ideell aber ein Verlust, der wenigstens so schwer wog, wie ihre kleine Illusion eines Familienlebens mit seiner Aufgabenteilung, die, von mir zerbrochen, vor ihr lag.


UNGARN. Bei Wehlen bin ich aufgewacht. Dresden hatten wir verschlafen. In meinem Mund der durch trockenes Schlucken nicht zu unterdrückende Geschmack meines ungeübten Magens. Meine Gedanken kreisten ausschließlich um den brennenden Durst, hilflos im Bedenken, den Weg zum Speisewagen nicht schadlos zu überstehen. Schnarchgeräusche in verschiedenen Rhythmen erfüllten die schlechte Luft. Meine Augen hielten sich in Sprüngen an fernen Punkten fest, unten zog das Elbtal vorüber. Bergesgrün wechselte mit Überhängen aus Granit, Häuser dort, wo Platz war, Gemütlichstes aus Fachwerk und Stein. Meinen Augen drängte sich eine Landschaft auf, die in ihrer Romantik, ihrem Wechselspiel aus Urwuchs und Lieblichkeit nicht passen wollte zu unserer Republik. Allmählich füllte sich das Tal mit vermehrter Bebauung, mit zweckgebundenem Grau, dem gewohnten Alltag, einem freudloseren Verlauf der Zeit, seinem Zehren von Substanz in bleichenden Jahrzehnten. Bad Schandau kündigte sich an, der letzte Halt in jenem Land. Der Zug rollte in einer Verbreiterung des Tals aus. Wie eine Terrasse hing der Bahnhof an den Berg gebaut. Jenseits des Bahnsteigs gefiel sich die Elbe in einem funkelnden Spiel. Hinter ihr lag das zierliche Städtchen, das mittels einer Brücke mit der Hälfte der Welt verbunden war.

Die Luft schien marmoriert. Eine trockene, flirrende Hitze über dem heißen Stein, geteilt von schwachen Böen, vom Fluss aufwärts geblasen, leicht kühlend und etwas feucht. Ich lehnte über dem heruntergezogenen Fenster. Ich sah einzelne Reisende sich nach ihren Koffern bücken, wenige standen zu zweit, den Abschied im Gesicht. Ich sah eine Gruppe, vier oder fünf, die Rucksäcke schultern, irritierend lustig in der ganzen Szenerie. Abseits sah ich ein Paar in stummer Umarmung, bis er sich losriss. Sie, die tränennasse Hand für ein Winken ausgestreckt. Er, eine verzweifelte Frage auf den unbewegten Lippen. Und ich sah mich in meiner Erinnerung, meinem Wunsch zu dieser Reise ausgeliefert, seiner wochendauernden Prüfung. Und an beiden Enden des Bahnsteigs sah ich eine Gruppe, vier Mann jeweils, zwei in einem dreckigen Grau und daneben zwei in modrigem Grün. Die letzten, die zustiegen.

Der erste Grenzübertritt in meinem Leben, und eine Visumskontrolle, und ich weiß nicht, wo er stattgefunden hat. Kein Hinweis, nur andere Bahnzeichen mit einem Mal. Der Zug schlängelte am Fluss entlang, unten die Schleppkähne, oben mäanderte eine gewaltige Festung mit, ein poröses Herrschaftszeichen anderer Zeiten, kurz vor Decín. Im Abteil herrschte ein verkaterter Unwille, ein stetes Beinverhaken, ein fortgesetzter Schlafversuch, gestört vom Ausrollen des Zuges. Unser Wagen stand unter dem Bahnhofsdach, in günstig fallendem Schatten, ein kühlendes Dunkel, die Sonne schien unseren müden Augen unerwartet wie ein fernes Licht. Dein bleiches Gesicht, kurz dem Fenster zugewandt, dem Bahnsteig und dem Treiben dahinter: Fernzugreisende, Prag als Ziel, Bratislava oder noch viel weiter. Du hattest Deine Lippen gespitzt, als wenn Du etwas sagen wolltest. Ich hob fragend die Schultern, wartete und ließ sie sinken, als Dein Mund sich wortlos wieder schloss, als Du Dir den Schweiß aus dem Gesicht wischtest. Ein Pfiff, der Ruck der Lokomotive, Dein Kopf fiel gegen das Polster. Ich öffnete das Fenster, solange bis der Fahrtwind zu heftig schlug. Der Zug war aus der schmalen, zwischen die Berge gezwängten Stadt gerollt. Parallel zum Fluss, der sich mit ihr diese Enge teilte, trieben wir in das Tal eines breit zerschnittenen Gebirgsmassivs, in ein Land hinein, das noch viel älter aussah als unseres. Die Sonne spielte Seitenwechsel in jeder Kurve. Manchmal konnte ich aus einem schattigen Tal auf sonnenbeschienene Berge sehen. Das Schwarzgrün der Wälder unten, die Wipfel auf den Kuppen wie goldbetupft – eine Märchenwelt mit guten und mit düsteren Geschichten.

Die Elbe verließ uns, unser Begleiter. Sie bog ab und kam wieder. Oder war es schon die Moldau? Wieder Berge zu den Ufern. Plattenbauten obenauf, irritierend hässlich wie eitrige Nasenpickel … belle vue für alle, dachte ich, bis ich sah, der Ausblick war verschenkt, dem Standard geopfert, parallele Reihen zur Kuppe hin. Und kein Fenster an den flusszugewandten, schmalen Seiten kümmerte sich um ihn.

Wir hatten Prag erreicht. Eine Stadt wie ein ungeputztes Mittelalter, in einer vernebelten Gegenwart gefangen, verraucht, verrußt, grauverschleiert, ohne jeden Sinn für Fassade. Mit einer letzten Dieselwolke, in der letzten engen Kurve von unserem Wagen aus zu sehen, bremste der Zug in den Bahnhof hinein, unter ein Dach aus rußbelegtem Glas. Das Gedränge auf dem Bahnsteig verdoppelte sich mit dem Öffnen der Türen. Ein Strom auf der Treppe, aus dem Bahnhof hinab, in die die goldene Sonne schluckende Stadt. Hektische Gesichter im Gang vor dem Abteil, auf der Suche nach freien Plätzen. Ein verstopfender Gegenverkehr, zur Seite gedreht und schlankgemacht. Auf den Knien vorweggestoßene Koffer. Längst war der Zug wieder angerollt, Kolín entgegen, Brünn oder Bratislava. Die Lokomotive schickte ihren Fanfarenstoß der Ebene entgegen, flach und ausgewaschen, in ein agrarisches Land voraus …

Viele denkbare Wege zwischen Nord und Süd, alles verbindend, zwischen Ost und West, bis an die Grenze eines undenkbaren Weiter-weg. Das Ziel vor Augen, bekannt oder nicht, wie durch ein unbeirrbares Stundenglas vorausgesehen, über die dorrende Weite hinweg, über totes Gras und dürstende Äcker. Weg über Staub und Sand. Verrieselnd … Zugfahren erzwingt Gelassenheit, der Zeit ergeben und dem Gleis. Richtung, kein Einfluss darauf.

Ein verständigendes Nicken aus einem gedehnten Moment der Langeweile heraus, schon hatte einer der Ungarn das Abteil verlassen. Gefühlte Stunden später kam er zurück, die Hände mit Bierflaschen voll, weitere klemmten unter seinen Armen. Er klopfte mit dem Kopf seinen dösenden Freunden auf unserer Seite der Scheibe. Aufgeblasene Wangen, Prusten, ein lachender Fingerzeig, erst dann öffneten sie ihm die Tür. Ein Bier für jeden, wie aus einem Bauchladen gereicht. Der Ungar ging nochmals herum, öffnete mit seiner Flasche die anderen, der letzten drückte er den Kronkorken wieder auf, hebelte mit der so verschlossenen Flasche die eigene auf. In der Mitte stießen wir an. Wir tranken und lauschten dem beginnenden Gespräch in unverständlichen Lauten, während in flacher Langeweile eine Landschaft vorüberzog, in welcher die errichtete Staatsidee ihre Ödnis nirgends verbergen konnte. Plötzliche Stille. Alle Augen waren auf uns gerichtet. Der Ungar, der das Bier gebracht hatte, beugte sich vor, stieß wieder mit uns an und trank. Er fragte etwas, wie beauftragt sah er aus, sein Bier im Nachhinein wie umgewidmet, wie zu einer weiteren vertrauensbildenden Maßnahme. Er versuchte es wieder, mit anderen Worten, nicht gewohnt unverstanden zu sein, zeigte auf unsere Taschen, zeigte in Fahrtrichtung. Er hob zu seinem fragenden Gesicht die Schultern: „Magyarország? Hungary? Balaton? Budapest?“ Mit unserem Ja leuchteten seine Augen. Eine stille Freude stand in dem gegerbten Gesicht, ein kleiner Stolz vielleicht über unsere Wahl. (Fünfzig Prozent die Chance von dort aus gesehen, im Zug zwischen Prag und Bratislava. Die Wahrscheinlichkeit auf anderen Wegen war auch nicht geringer, damals im Allgemeinen.) Er schlug seinem Nachbarn aufs Knie, trank mit ihm und den Anderen. Er befeuerte die Ausgelassenheit sowie das Durcheinander der Stimmen mit verschmitzten Erklärungen, zu denen er seine Hand durch die Luft schnellen ließ, dabei zupackte wie beim Fliegenfangen. Ein Anderer hatte sich inzwischen aus der allgemeinen Heiterkeit gelöst, war aufgestanden und strich seinerseits mit der flachen Hand durch die Luft, langsam wie ein Dirigent vor dem ersten Ton, als wolle er sein Orchester zur Ouvertüre bitten. Aus der Brusttasche der eigentümlichen Mischung aus Arbeitsjacke und Jackett zog er einen Notizblock. Er räusperte sich energisch. Mit angelecktem Finger blätterte er schon beschriebene Seiten um, die Augen aufmerksam auf jedem Blatt, genüsslich auf jeder Notiz. Am ersten leeren Blatt angelangt, holte er umständlich einen Stift aus den Tiefen der anderen Brusttasche, der Rücken wie ein Buckel gebeugt, während er drohend mit dem Block in der Luft wedelte. Bisher hatte er kaum etwas gesagt, bei jedem Scherz aber still in sich hineingelacht. Er war mir auch seines weniger stark gegerbten Gesichts wegen aufgefallen, trotz des Alters, das er mit seinen Kollegen annähernd zu teilen schien. Vielleicht auch weil er zuvor so aufrecht saß, als ob er gelernt hatte, seine Haltung kontrollieren zu müssen, dass dies von Vorteil sei. Völlig gelöst aber, überhaupt nicht mehr steif, stand er jetzt, die Abteiltür im Rücken, und notierte mit dem Stift, den er mehrmals angehaucht hatte, mit dem gespielten Husten eines Lungenkranken, etwas in den Block, das er laut mitlas, die schielende Grimasse eines Deppen aufgesetzt, eine dicke Zunge silbenformend, träge und sperrig zwischen den Zähnen. Er sprach in so langsamen Worten, dass ein gespieltes Einschlafen folgen musste, ein leichtes Vornübersinken, von einem Schnarchen begleitet … Plötzlich ein erschrecktes Aufwachen. Wilde, orientierungslose Augen, ein verwirrtes Luftschnappen wie ein Verschlucken, ein Geräusch zwischen Hecheln und Grunzen. Zwei oder drei Darbietungen des ganzen Spiels folgten, wobei jedes erneute Aufwachen weniger erweckend schien, wobei er mit jedem vorherigen Schnarchen ein Stück weiter vornübergesunken war. Bis zur letzten Wiederholung, mit der er im rechten Winkel gebeugt dastand, mit hängenden Armen, endlich stumm, und sich anhörte wie ein glücklich schnarchendes Schwein. Das Lachen überschlug sich, als ihm letztlich in den sich provokant darbietenden Hintern getreten wurde. Eine Andeutung nur, begleitet aber von deutlichen Flüchen, die selbst wir als solche verstanden hatten. Der so Verhöhnte war dabei hochgeschreckt. Er fand mit ernster Miene in die korrekte Darstellung seiner Rolle zurück, bereit zu einem unerbittlichen Notat. Er blätterte vor und zurück, zeigte jedem eine freie Seite seines Blocks, darauf ein väterliches Nicken zu einer strengen Frage und der immer gleichen Aufforderung, der der Befragte eifrig Folge leistete: Eine unterwürfige Haltung vor der Antwort, eine kurze Äußerung in devotem Ton, ein Satz oder zwei, sachlich zwar, aber deutlich beeindruckt vorgebracht … Die gespielten Varianten waren mit Mühe eingefügt in den Versuch, sich ein bitteres Lachen zu verkneifen. Er schrieb alles mit, nahm sich Zeit für seine Notizen. Er fragte in ernstem Ton nach, unterbrach eine langwierige Antwort mit verneinendem Zeigefinger, stellte zur Bestätigung einem Anderen die Kontrollfrage. Schließlich folgte ein in Spiralen abgesenkter Punkt. Dann verstaute er den Block in seiner Jackentasche … Ein Schwein zu einer unerbittlichen Autorität gewandelt, mit spitzem Mund und hochgezogenen Augenbrauen. Bevor er sich setzte, um im Folgenden wieder aus dem Fenster zu schauen, mit wieder durchgedrücktem Rücken und einem herablassenden Gesicht, welches Unnahbarkeit ausdrücken sollte, das daneben auf seltsame Art entrückt schien – eine pastorale Ferne, hatte er sich auf die Brust geklopft, dorthin, wo er seine Notizen verwahrte, für wen auch immer gedacht. Stille.

Der Eindruck einer perfekt gespielten Rolle. Ein beredtes Schweigen der Kollegen, die zusammengesunken dasaßen, die schwer atmeten, die mit schwitzenden Händen über die Schenkel wischten oder über eine nasse Stirn, über großen Augen, ahnend oder wissend. Die an seinen Augen vorbei in der vorüberziehenden Fläche die Weite suchten. Und vielleicht war ich nicht der Einzige, der hinter ihrem stumpfen Glanz eine aufgebrochene Erinnerung verbarg:

SCHWERIN. Meine Mutter fürchtete die Wahrheit. In den Morgenstunden jeden Sonntag gingen wir nach St. Nikolai, die alten Pflaster der Puschkinstraße entlang, den Gottesdienst zu erfahren, ich hüpfend an ihrer Hand, sie den Demmlerplatz in weiter Ferne wissend, stumm an Markt und Dom vorbei …

Mit einem Eisen breche ich die verschlossene Schranktür aus dem Rahmen.

Meine Knie reichten nicht zur Hälfte an die Vorderbank. Den Pastor sah ich unter Verrenkungen und mit Glück zwischen nicht allzu breiten Schultern. Ich drehte meinen Kopf in den Widerhall seiner Worte. Die Geschichten klangen wie von Zauberkraft von allen Seiten, wie Märchen von der Kuppel herab. Was ich noch nicht verstand, sah ich Antwort suchend als kurzes Glück im Gesicht meiner Mutter. Und über die Worte hinaus, fest wie ein Beharren, stand es darin noch beim Singen der Lieder.

Ich liebte es, das Summen meiner kleinen Stimme unter den vielen zu hören. Was ich nicht singen konnte, baumelte ich mit den Beinen. Mit meinem Baumeln machte ich ihre Welt gut. Aufgemuntert sah ich sie, beinah fröhlich, meine Hand in ihre geschoben, in ein widersprüchliches Fühlen weicher, kalter Haut. Auf dem Heimweg sprang ich im Rhythmus der Gehwegplatten lustige Hüpfspiele vor ihr her. Dann, müde gehüpft, mit einem Lachen in ihren Armen, ganz nah, wusste ich nur, ich muss weiterlachen …

Zeilen, die ich nicht zu lesen wage. Briefe gleiten mir aus der Hand. Sie nickte zu meinen Albernheiten, ein stilles Anerkennen meiner Mühe. Sie sah, das Sonntagsessen kochend, meinen Spielen auf dem Küchenboden zu. Meine ungeschickte Hilfe beim Decken des Tisches, lenkte sie mit nachsichtigen Worten. Und sie erinnerte mich an meine Zauberkraft, jeden Sonntag: Du bist die leckerste Köchin der Welt. Ich zauberte ein Lächeln über die Härte in ihrem Gesicht. Ich liebte die Sonntage …

Ein Foto ist aus einem Umschlag gefallen. Ich beuge mich vor, wie vor einer Stunde, wie über die abgesenkte Urne, und sehe das alte Schwarz-Weiß, ein Abbild wie ein vergilbtes Ich. Ich suche Halt am Schrank. Auf dem Boden ein Kreis sich drehender Briefe. Ich fürchte zu stürzen. Meine Mutter kannte die Wahrheit.

Ihre Hand in meinem Haar. Das Streicheln, für das ich brav aufgegessen hatte, schnell satt von der kleinen Portion, für das versprochen gute Wetter jeden kommenden Montag – mein abergläubisches Hoffen für unseren wöchentlichen Weg. Ich malte es in meinen geheimen Kalender. Die Sonne in einem Viertel, in jedes rechte obere Eck, auf jeder rechten Malheftseite. Und den Versuch einer spazierenden Familie, zwei Strichfiguren darunter. Die eine groß wie die Seite, das Haar in braunen Buntstiftwellen, die andere nicht zur Hälfte so klein. Einen Finger aber auf Höhe der anderen, hoch gegen die lustige Sonne gestreckt. Heftweise malte ich das gleiche Bild, immer auf der rechten Seite. Und links daneben, wie aus der Ferne gesehen, den hohen Turm St. Nikolai. Mein Kalender kannte nur zwei Wochentage …

Im Sitzen, in ihrem Sessel, die vom Boden geklaubten Briefe in der Hand, das Foto obenauf, auf das ich in einem Streit aus Für und Wider starre, gefangen in der lächerlichen Frage, ob sich das Lesen für den Sohn gehört. Ich beginne die Umschläge nach Poststempeln zu sortieren, diese Handvoll, in wenigen Tagen verfasst. Das Ungeschick wieder gutgemacht, lege ich wie ein erwischtes Kind den Stapel fort. Das Foto halte ich fest in der Hand.

Immer sehr früh, jedes Mal müde, vom Kitzeln meines Bauches wach und mürrisch heiter, sah ich den Tag vor meinem Fenster in noch dunklen Farben stehen. Kein Kuss, kein Guten-Morgen-Lied, das folgte. Ich wusste, was sie gleich sagen wird: Es ist Montag. Du musst dich beeilen …

Der Absender, ein Name nur. Und ich frage mich, ob ich ihn schon gehört habe. Ich spreche ihn laut vor mich hin beim Blättern durch die Briefe. Ich höre jedem neuen Verklingen nach, der Melodie seiner Silben. Ich studiere die Züge und ertappe mich bei der unsinnigen Frage, ob das Gesicht auf dem Foto mir gefällt.

Der scharfe Ton ihrer Ermahnungen, das Ziehen an meiner Hand, der Ernst ihrer Stimme, der Schmerz in meinem Arm. Striche eines Regens im Laternenlicht. Reste eines sinkenden Mondes. Aus meinen Malheftgedanken verstoßen, lief ich neben ihr, das Pflaster vor mir, jede einzelne Platte unvorhersehbar schnell unter mir. Keine Sonne an Montagen im Winter, und im Sommer keine, auf die ich zeigen wollte. Ein Pflasterstein … Auf jeden ersten folgt ein zweiter … Einen Fuß auf jeden, dann ein dritter … ohne Hüpfen über die vor mir liegende Reihe. Ich machte die Hand schlank vor einem vierten, weit vor dem Demmlerplatz. Ich war entwischt, um ihr mein Malheft zu zeigen. Ich lief zurück für den Beweis: Ich bin nicht schuld. Ich lief so schnell ich konnte, ihre schnelleren Schritte im Rücken. Ich konnte nicht mehr unterscheiden, diese laute, fremd - klingende Stimme von hinten. Ich erschrak beim Packen meines Kragens. Ich ertrug ihr lautes Schimpfen und das Schütteln. Ihre Sorge sah ich im Halbdunkel nicht …

Friedland steht hinter dem Namen. Eine ganze Adresse schreibt der Absender nicht. Ich lese Göttingen in wässrigem Blau. Das Datum des Stempels weist den letzten Brief aus als so alt wie mich.

„Wir kommen wieder zu spät. Und wie immer ist es deine Schuld …“ Königsbreite, Adolf-Hitler-Platz, Blücher … Demmler … Die Namen im Wechsel der Geschichte kannte ich nicht. Das Wort Geschichte stand für eine spannende Erzählung. Geschichten waren Märchen. Die Bedeutung, wenn es eine gab, las ich ihren Lippen ab. „Du weißt doch, dass wir unnötigen Ärger bekommen.“ Eins, zwei, drei … mit den Füßen zählte ich die Platten ab … ich bin dabei, und vier, ich komm' mit dir. Eins, zwei, drei … Mit jedem Schritt verlor sich ein heiterer Malheftgedanke. Mein Träumen löste sich in Wirklichkeit auf. Angst erfand sie sich als Abenteuer. Und für mich in meinem Märchen, als kleine Rolle, den furchtlosen Helden darin …

Mein Sehen sinkt in das Foto. Ich kannte die Wahrheit als Märchen, anders nicht:

Sie drückte die Klinke, an die er kaum hätte langen können. Sie stemmte ihre Schulter gegen den Flügel, ihn fest an der Hand. Schwer fiel er zu, Holz auf Holz, ein Schlag wie von einem Tor, dumpf wie bei St. Nikolai. Ein kurzes Grollen in ihren Rücken, der Nachhall wehte voraus. Durch das Holz hörte er den lauten Hunger der Krähen und leise das Gurren einer Taube. Sie standen vor einem Kasten aus Glas. Er kannte das Wort, er meinte seine Mutter spreche in ein Aquarium, durch ein Loch für Luft, zu einem luftschnappenden Fisch, durch eine dicke Scheibe hindurch. Er konnte es sich nicht anders erklären. Ein stummes Ungeheuer aus großer Tiefe saß darin, in einem Panzer zwischen algengrün und schlammgrau, mit schillernden Schuppen auf Brust und Schultern. Der Kopf nickte gefährlich, gierige Augenschlitze über einem geleckten Maul … Er glaubte, das Ungeheuer würde seine Mutter verschlingen – die immer gleiche Furcht: Es ist nur Glas. Und die immer gleiche Wendung: Ein gefangener Fisch mit nassgeleckten Lippen und großer Gier in den Augen nimmt ein Telefon zur Hand. Ein Surren, das dem Anruf folgt. Sie treten durch die zweite Tür. Ein Schlag von Stahl, als sie zufällt. Unklar ist, ob er das Wort kannte. Mit Eisen verband er diesen Klang, hell und klar in ihren Rücken. Gar nicht dumpf, ohne Nachhall. Kurz und abgeschlossen, der Ton wie die Welt dahinter.

St. Nikolai von der Größe. Eine Halle, wie er sie nur von dort kannte. Er sah Treppen hineingebogen, wie gedacht für einen Empfang bei Hofe, als stünde ein Königspaar auf der Empore. Gäste in fallenden Roben, bunte Uniformen und Pluderhosen stellte er sich vor. Kleider schleifen über schwere Teppiche, Fahnen zieren die Wände, dreieckige Hüte mit Fransenkante werden von wallenden Perücken gezogen, für die Aufwartung, die Verbeugungsgrätsche vor dem Paar. Eine Kapelle tuscht auf für jeden annoncierten Gast, für ein großes Beisammensein. Jede Ehrerbietung steigert die Freude auf ein großes Fest … Alles spielte sich ab vor dem Grau der Wände. Seine Füße traten auf quietschenden Boden, auf Eisenkanten in den Stufen. Die Halle war vom Echo der Schritte erfüllt, keine Musik klang wider. Er war seiner Mutter gefolgt, durch die Bilder seiner Phantasie. Und sie einem gestiefelten Fisch auf genagelten Sohlen. Zu dritt gingen sie die Treppe hinauf. Ungelenk nahm er die hohen Stufen, unsicher wie ein verkannter Prinz. Ein Flügel schwenkte auf. Ein langer Gang folgte. Geheimnisvolle Kammern zu beiden Seiten, mehr als er Finger zum Zählen hatte. Die Verliese der Ungeheuer, viel mehr als ein einziges Märchen berichten konnte: Der Schrecken wohnt in einem Schloss.

Er kannte nur diesen Gang, durch den sie geführt wurden. Und nur diese Tür, durch die sie wieder traten. Vor diesen fetten Fisch dahinter, der ihn kannte. Vor seinen Schreibtisch, vor sein breites Maul über schillernden Schuppen. Kein gläserner Käfig zum Schutz, nur ein Fenster im Rücken. Ein furchterregender Scherenschnitt im Licht eines aufziehenden Tages. Ein schwarzes Monster, das seinen unterwürfigen Helfer erwartet, mit ihm die beschuldigte Mutter und das corpus delicti, als besonderen Leckerbissen, mich …

Ich gebe ihm die Schuld, sein Foto auf dem Schoß. Friedland, die Adresse, die ich lese, bekräftigt mich … Wut gegen Trauer. Ich ziehe den Brief aus dem Umschlag, keine Pietät hält mich:

Meine Liebe, gerne möchte ich schreiben, Meine große Liebe.

Auch wenn es sich für mich so anfühlt (oft ist es erst der Verlust, der einen spüren läßt), Du weißt, durch das, was ich tat, daß es nicht so sein kann. Ich dagegen weiß, daß ich es bis dahin in dieser Konsequenz nicht wahrnahm.

Ein junger Mensch denkt immer über die Freiheit nach. Von der Verantwortung meint er, sie sei das Gegenteil. Ich, plötzlich mit jenem Tag zwar nicht erwachsen geworden, aber auch nicht mehr jung (wenn man Jugend an ihrer Unbeschwertheit mißt), weiß mittlerweile, daß es nicht die Freiheit an sich ist, die so verschiedene Seiten hat, sondern, daß es die Entscheidungen sind, wenn sie ohne drängenden Einfluß getroffen werden können, die das Freisein bedeuten.

Mein Plan war ein Geheimnis. Damit habe ich Dir gegenüber viel Schuld auf mich genommen. Du hast mir vertraut, der ausgesprochenen Hälfte der Worte. Sie waren alle ehrlich.

Die andere Hälfte betraf meinen Plan, den ich gefaßt hatte, bevor ich Dich kennenlernte. In dieser Hälfte, die ich nicht aussprechen konnte, die ich für mich behielt, ohne eine Entscheidung zu treffen, außer der, stumm zu bleiben, liegt mein Versagen.

Das ist das Gegenteil der Freiheit, die ich wollte. Das ist die Schuld, die ich nie wieder gutmachen kann. Ein Zurück gibt es nicht, das würde Schlimmeres bedeuten als den Verlust vieler Jahre meines Lebens.

Die andere, weitaus größere Schuld aber betrifft unser Kind. Sie macht mich sprachlos und verzweifelt im Wissen um die Unumkehrbarkeit meiner Entscheidung.

Mir bleibt nur die Hoffnung auf eine andere Zeit, in der ich ihm einmal begegnen kann. Die Hoffnung auf andere Jahrzehnte.

In Liebe und größter Hochachtung und mit dem innigsten Wunsch, daß Euch Glück widerfährt, schließe ich diesen Brief.

An ihrer Hand, an ihrer Seite, einen halben seiner kurzen Schritte hinter ihr, erwartete er das Erwachen. An ihrer Hand vorbei, vorsichtig mit einem Auge, sah er den Schlaf über Bergen von Papier. Dieses Träumen mit offenen Augen, das er längst kannte. Er tat ihm leid; das neben seiner Angst, verwunschen wie er schien, hässlich und fett. Ein schwer atmender Fisch. Vielleicht sah er einen Frosch, gefangen in seinem Warten auf jeden neuen Montag. Oder ein Leben für die Angst des Jungen und den Kampf mit seiner Mutter. Möglich die Hoffnung auf den erlösenden Kuss, der immer ausblieb: „Haben Sie uns etwas zu berichten?“ In den Traum gesprochene Worte vor dem Erwachen. Der Schuppenpanzer hebt sich schwer auf das gehörte Nein. Er sah das Ungeheuer, wie durch ein Zauberwort befohlen, aus dem flüchtigen Rest eines letzten Traumbildes erwachen. Er sah die Arme langsam über den Tisch tentakeln, über die Schreibmaschine, über Stapel von Papier. Ein Suchen, schneller mit jedem klebrigen Griff. Ein schnelles Finden in der Willkür der zurechtgeschobenen Ordnung. Kein zerwühlter Traum wie eben noch. Kein weiches Kissen papierner Schäfchenwolken. Die Welt lag eingeklappt in Aktendeckeln. Eine Mappe für ein Schicksal. Ein ganzer Stapel für die nächsten Stunden auf Seite gelegt, für die nächsten Bilder vom großen Traum.

„Habe ich wieder ein Nein gehört?“ Kein erhoffter Kuss für den Frosch. Kein erlösender Zauber durch die Mutter. Doch endlich wach und wie verwandelt mit einem mächtigen Schlag auf das blanke Holz, auf die freie Stelle für den kleinen Rest noch nicht beherrschter Welt, in voller Präsenz, im Hier angekommen … Das Wort Realität sagte dem Jungen nichts. Sein Alter denkt in Phantasie und einfachen Worten: Der Bösewicht ist wieder wütend, wie schlecht geschlafen, wie jedes Mal … Und wieder war er stolz auf den Mut seiner Mutter: „Nein. Auch wenn Sie uns die nächsten zwanzig Jahre herbestellen.“ blitzende Zähne ein zerkautes Wort hungrig mahlende Kiefer gestoßener Atem Raubtieraugen Beuteblick Verwandlung die Muskeln gespannt wie zum Sprung „Sie wollen uns also weismachen, dass der Kindsvater immer noch kontaktlos ist?!“ Fauchen Zischeln Brüllen kratzende Krallen über den Tisch geduckt eine gespaltene Zunge zuckende Schulterblätter der Kopf links rechts warten … Witterung weite Augen … Fressgier und ein Blinzeln nach der weitaus fetteren Beute. Sie drückte ihn fest an sich. „Der Junge kennt seinen Vater nicht.“ kraftlose Pranken blankes Holz ein feuchtes Quietschen schlaffer Atem Ein Raubtier, dessen Brust sich müde hebt: „Ach … das wüssten wir ja. Warum stellen Sie sich so dumm?“

„Ich habe auch diese Woche nichts zu berichten. Ich weiß nichts, was Sie nicht auch wissen.“

„Dann schaue ich doch mal, was wir wissen!“ Ein Riese hinter dem Schreibtisch. Er baut sich auf. Wie angegriffen. Er ragt ins Licht. Die Schultern breit wie das Fenster in seinem Rücken. Kräftige Pranken wühlten eine Akte hervor. Schon lag sie aufgeklappt auf der freien Mitte des Schreibtischs. Der Junge hörte das Donnern, von ihr fester an sich gedrückt. Sie strich ihm die Haare aus der Stirn, als gelte es noch einen guten Eindruck zu machen. „Unehelich … Das wissen wir!“ Das Wort klang nach im Genuss einer langen Pause. Es stand unüberhörbar im Raum, solange der dicke Finger die Seiten überflog: „Na so was passiert eben, wenn man nicht aufpasst, im doppelten Sinne. Kennen Sie das Sprichwort: Drum prüfe, an wen der Beischlaf ewig bindet …? Vielleicht kennen Sie es in anderer Form. Und vielleicht ist das ihr Glück, sollten wir Ihnen zweifache Leichtsinnigkeit unterstellen. Ganz bestimmt aber sein Glück, wenn ich das hier richtig überblicke …“ Der Finger zeigte geradeaus über den Aktenrand. „Das sollte doch in keinem Fall unversucht bleiben! Wenn Sie nur endlich ehrlich sind! Wenn Sie uns endlich sagen, wann und wie Sie Kontakt hatten, respektive haben!“

„Ich habe Ihnen nichts Neues zu sagen.“

„Wieder nichts? Also was wissen wir noch? Nur um Ihnen Ihre Lage klar zu machen: Sie hatten eine intime Beziehung zu einem Geheimnisträger, dem späteren Kindsvater. Sie haben sich vierzehn Monate vor seinem Hochverrat kennengelernt. Hochverrat begangen mittels Republikflucht, in der Folge zu unterstellender Geheimnisverrat. Sie behaupten nach wie vor, davon keine Kenntnis gehabt zu haben. Sie behaupten weiter, dass es nach seinem Hochverrat keinerlei Kontaktaufnahme gegeben hat. Nicht von Ihrer Seite, nicht von seiner. Ausnahme: Seine sogenannten Abschiedsbriefe …“ Er brüllte: „Ja glauben Sie denn, wir hier sind blöd? Glauben Sie, eine solche Finte verfängt? Ein derart abgekartetes Spiel? Der kleinste Hinweis nur … Und glauben Sie mir mal das eine, wir haben noch immer alles gefunden. Und dann sind Sie weg, für den Rest ihres Lebens … Und der Bengel findet endlich ein ordentliches Elternhaus.“

Atemlos von der Wut … vom Poltern … die vielen, lauten Worte vom Gerede über Mutter … Der Junge sah ein müdes Drohen gegen sich. Verschnaufen … ein tiefes Luftholen … ein lächelnder Riese plötzlich … In seinen Ohren brummte das Ungeheuer friedlich wie ein vollgefressener Bär: „Das Einzige, was Ihnen noch helfen kann, ist Ehrlichkeit. Wir erwarten endlich Ihre Kooperation.“ Ein Grinsen, so zuvorkommend wie dreckig.

„Und ich erwarte, dass wir endlich in Ruhe gelassen werden. Ich bin müde, jede Woche hierher zu kommen. Als wenn Sie den persönlichen Beweis brauchen, dass wir noch hier sind. Sie wissen doch alles, was wir tun, bevor wir es angefangen haben. Wohin wir gehen. Wen wir treffen. Welche Briefe uns erreichen, vor allem aber, welche nicht. Wie lange wollen Sie Ihre Zeit noch verschwenden? Und was soll der Junge denken? Was ist, wenn er zehn wird? Wollen Sie uns dann immer noch herbestellen? Oder mit vierzehn, wenn er Jugendweihe feiert und einen Eid auf dieses Land schwören soll? Mit achtzehn, wenn er erwachsen ist? Ich frage mich wirklich, wie aus ihm ein ordentlicher Staatsbürger werden soll, wenn er den Staat Woche für Woche in derartigem Misstrauen erlebt, bei aller berechtigten Sorge um dessen Sicherheit. Haben Sie sich nur ein einziges Mal gefragt, wie er selbst, unter solchen Umständen, Vertrauen gewinnen kann?“

„Das Schicksal des Einzelnen, über das ich nicht zu entscheiden habe.“

„Das glaube ich sogar. Aber Sie sind es, der unsere Akte in den Händen hält. Sie tragen dort, jeden Montag, Ihre Einschätzung ein. Aber vielleicht liegt Ihnen ja an unseren Treffen?! Vielleicht sind wir hier, weil sie Gefallen an dieser Art Wochenauftakt gefunden haben. Was ich aber wirklich glaube, ist, dass wir Ihr letzter Strohhalm sind. Dieses Ritual, Woche für Woche, hat mich überzeugt, dass Sie überhaupt nichts wissen, keine Spur. Sie sind ratlos und fragen sich verzweifelt, wohin er abgetaucht ist. Zu wem. Mit was im Gepäck. Wenn es stimmt, was Sie behaupten, wenn er wirklich einer von Ihnen war, dann weiß er doch, wie es geht. Vor allem weiß er, wie es nicht geht. Wer hat ihn denn ausgebildet, im Glauben, dass er kein Dummkopf ist?“

Die Pranken in der Akte, ein ratsuchendes Blättern, der verbrauchte Druck verbrauchter Varianten – ein leergeschleckter Honigtopf. Die Lust am Nektar und die Frage, wie an ihn noch zu kommen sei. Stummer Hunger … gierige Gedanken … Aus dem Maul tropfte es speichelnass: Ein neuer Plan. … Gestraffte Schultern … die Brust hebt sich … der Wanst spannt jeden Silberknopf … er sagt – und der Junge schaute in ein teigiges Lächeln: „Gut. Nach so langer Zeit haben Sie uns möglicherweise überzeugt.“

Meine Mutter kannte nur diese Hälfte der Wahrheit …

„Toffeln vom Fritz“, hatte ich geschrien und zog fest an ihrer Hand. Ich zog ohne Wirkung, einzig meine Füße rutschten zu ihr hin. Sie kniete sich herunter, lachte laut und nahm mich in den Arm, bevor ich fiel. „Aber das heißt doch Pommes Frites.“

Es hatte geschneit. Ein rutschiger Flaum lag auf den Platten. In weißen Spitzen gipfelte das Grünspandach, Adventstupfer auf St. Nikolai. Die Welt hatte sich geschmückt während der Andacht. Unsere Lieder hatten ihr gefallen, wie ich dachte, so wie die sanften Worte des Pfarrers. Sie lag in einem Wolkenkleid.

„Du hast gefragt, was ich essen möchte.“ Füßestampfend mein Beharren.

„Ich lache doch nur, weil du recht hast. Bei Uhle gibt es Toffeln vom Alten Fritz. Und ich trinke ein Glas Sekt.“

Ein Knirschen im Schnee von St. Nikolai her. Ein Gesicht über ihrer Schulter. Ein dunkles Oval unter den Ecken eines Hutes, das Himmelgrau dahinter. Eine aufgescheuchte Krähe, ein Krächzen quergezogen. Ein Zupfen an meinem Ohr und ein Blinzeln: „Morgen ist Montag. Aber wir bleiben morgen früh zu Hause.“

Das Grau über ihr, der Schnee im Himmel, der Fleck vor der Wolkendecke: „Ein schöner Adventsgottesdienst.“ Eine Stimme wie ein H-Moll wischte über den Nachklang der fröhlichen Messe. „Finden Sie nicht?“

Meine Pudelmütze geradegeschoben, meinen Pony unter den Rand gestrichen, ein Streicheln meiner Wange. „Sie haben recht. Sehr schön.“

Der Schnee, ein Kleben wie nasser Lehm, ein bappendes Weiß an den Füßen, grau und wässrig die Abdrücke meiner Sohlen. Der tropfnasse Himmel über St. Nikolai, das Grau um den Turm, im Geäst der Bäume, die Wolken einer Zigarette davor. Die Krempen des Hutes, ein umwehtes Dreieck, in der Glut sein Gesicht, das erste Mal: „Da freut man sich auf den nächsten Sonntag. Und dann ist schon wieder Weihnachten.“

„Sie sind neu in der Gemeinde?“

„Vor kurzem zugereist.“ Die Hände wie im Zweifel offen. „Eine kleine Stelle im Museum.“

„Ein Kunstexperte?“

„Nur ein kleiner Restaurator. Ich bringe den Glanz auf die Bilder zurück, in den Andere sich gerne stellen.“

„So wenig ist das nicht. Aber was wollen Sie?“

Zwei schwarze Flächen wie stehende Schatten, ein großer, ein noch größerer, er und St. Nikolai. Eine Wolke noch und eine lässig geschnippte Zigarette. „Ihnen noch einen schönen Advent wünschen. Ich hoffe Sie nächsten Sonntag hier zu treffen.“ Die Hand am Hut, am Dreiecksgipfel, für ein Nicken kurz gehoben, für die kleine Verbeugung auf ein Wiedersehen: „Wenn ich neben Ihnen sitzen dürfte? Ich würde mich freuen … wenn das nicht zu aufdringlich ist?“

Wortlos hoben sich ihre Schultern. Wortlos war sein Blick auf mich. Ein Lächeln im Ansatz. Schon war der Hut davor, über die Stirn auf den Kopf geschoben. Knirschen. Feste Schritte im nassen Schnee. Eine graue Spur, die sich entfernte.

Allein mit dem Kind, zwei Plätze auf den Sonntag, für die junge Mutter im Gang vor der Küche am letzten Tisch hinten. Mittagsdunst im Sog blasierter Pinguine, hager oder Schmerbauch, ein Gezwänge durch die Flügeltür, ein Jonglieren wie im Zirkus, gedunsene Gesichter über schweren Tellern. Witterung in den Nüstern, Dampfkringel um die Nasenspitze, stolze Schritte nach jedem lauten Tritt. Ein Äugen von oben sobald die Tür aufschlägt, ein zurückgeworfener Kopf wie am Eingang schon, wie vom Oberpinguin hinter schwerem Butzenglas. Eine Fehlhaltung wie ein Berufsschaden … Die Frau mit dem Jungen an der Hand, in der anderen die Klinke, ihr Ziehen auf verschneiten Stufen, ohne jede Hilfe. Mollige Hitze, eingewobener Bratenduft, Wolken frittierter Kartoffeln, ein Gesicht im Spalt: „Sie werden platziert …“

Der Rückweg von den Tischen, in geduckter Eile, die Frackschöße wehen, militärmarschzackig wedelt der leere Arm. Der andere ist angewinkelt, eine Serviette fest vor den Bauch gepresst. Ein vaterloser Junge, eine junge Mutter, die Gier kaum verhohlener Blicke. Geile Gedanken, die den Weg verkürzen, den Leerlauf in die Küche zurück, zur Wiederaufnahme der eigenen Wichtigkeit …

Kein Mangel auf den Tellern. Herr Betriebsdirektor gibt sich und seiner Gattin die Ehre. Sein Parteisekretär in Winkweite am besseren Tisch. Er sitzt abseits, er sitzt oberhalb, sein Platz ist auf der Empore. Seine mit den Sonntagen wechselnden Prasser beim fünften Uhlesekt vor dem Essen kennt man nicht. Herr Direktor kennt aber den Seufzer seines Sekretärs beim Anblick der vollen Teller, beim Gedanken an die hier nie gesehene Frau, alleingelassen bei Kohlrübensuppe zuhaus'. Und er kennt das dümmliche Lächeln ihm gegenüber. Seine brave Gattin, die Unterarme auf dem Tisch, die wippende Dauerwelle auf den Schultern, sein stolzer Pudel. Er sieht das stumm geformte Guten Appetit gegen die Empore, die knallroten Lippen für seinen Sekretär. Peinlich verzerrte Striche. Und er meint ein Wuff zu hören, so grotesk wie verstrickt, dass er sich abwenden muss, dass er ihr zuliebe die freien Tische zu zählen beginnt, während er ihre Klugheit lobt. Oder er zählt die Aschenbecher mit den blechgebogenen Bügeln. Er liest dreimal RESERVIERT, gestanzt in die Bögen. Er fragt sich, ob sie kommen werden, die grauen Eminenzen der Stadt, die Millionäre ohne Geld, die heimlichen Herren von Handel und Wandel. Er hört ein Lachen des Sekretärs, als sehe dieser den Gedanken. Ein lautes Prösterchen beim sechsten Uhlesekt … Adolf Theissen, Fliesenlegemeister, den Herr Direktor beim Gedanken an seinen Hausbau zu treffen hofft. Hannes Jacob, fertig liegt das Blech für den Metzgertresen. Guido Assmann, der Fuhrpark ist geplündert, ein Lada in Teilen für den Fuchs. Alles ist bereitet für die allseits bekannten Könige des Mangels, die immer ihren Tisch bekommen. Wann kommen sie? Schneit es noch? Ist die Kirche aus? Hat der Sekretär genug getrunken? Dass er nicht mehr sieht, als einen kumpelhaften Plausch?

Süßes Preiselbeeraroma, der Rehbraten dampft, das Tier aus Mecklenburger Forsten, die kleine Charge für den erlauchten Kreis. Gut ausgeblutet, kein Gedanke an das Land dabei, eine rote Spur im Schnee, irgendwer ist immer auf der Jagd. Der größere Teil hängt reiflich ab, Kühlwaggons gen Westen, mürbe wird alles mit der Zeit. „Vortreffliche Qualität.“ Der Kellner nickt sich rückwärts weg und wünscht „Einen guten Appetit“. Er eilt schon wieder den Gang entlang, ein leeres Tellertaxi, von der Klingel gerufen, die ungeduldige Wiederholung im Ohr, die Küche im Blick, eine Beiläufigkeit im Mund: „Wir hätten noch Kartoffelkroketten.“ Die Mutter sagt zu dem Jungen, der zappelnd seine Pommes Frites erwartet: „Mit Bratensoße auch sehr lecker.“ Enttäuscht zieht er seine Hand unter ihrer weg.

Kalter Duft dünstet aus den Polstern. Hitziger Dunst duftet aus der Küche. Kroketten knistern in schäumendem Öl. Kräuselnde Fahnen, wabernde Wolken, blaue Luft kriecht durch alle Ritzen, dunkle Schwaden schwappen aus der Küchentür, der Junge erschrickt bei jedem Tritt. „Die Hausmarke, bitteschön.“ Das zweite Glas Sekt. Ihr fehlt der Hunger, hat sie gesagt. Sie ist aufgeregt, oder hat nicht das Geld. Sie stößt an, ein Prost gegen seine Brause, er sei ihr kleiner Kavalier an diesem Tag.

Ketchup und ein schmieriges Grinsen zu den hingeknallten Kroketten. Dampfkringel in Nasenhöhe, verwehte Spitzen, Duft über dem Tellerrand. Die Sauciere kommt mit dem nächsten Lauf, mit einem Bitteschön, einem Guten Hunger, Kleiner, und einem Diener zu viel. Ein Schmeichler gegen die junge Mutter, jetzt ist Zeit, Sättigung im Saal, ranzig klebende Blicke.

„Wer war das vor der Kirche?“

„Möchtest du Ketchup auf den Teller?“

„Kanntest du den Mann?“

„Du kannst die Kroketten auch in die Soße stippen.“

„Ich fand ihn unheimlich.“

„Aber pass' auf, die sind sehr heiß.“

„Kommt der nächste Woche wieder?“

„Iss jetzt! Sonst wird es kalt.“

„Ich will nachher eine Schneeballschlacht machen.“

„Gegen wen?“

„Gegen meine Mama.“

„Wir können heute alles machen.“

Er nahm eine Krokette mit den Fingern, um sie in die Soße zu tauchen. Er merkte nicht, wie heiß sie war, auch nicht, dass seine Mutter ihm eine Gabel über den Tisch geschoben hatte. Er bemerkte eine Veränderung, aber nichts Offensichtliches, nichts, das ihm erklärlich war. Und erst, als er sie länger ansah, brach ein Lächeln durch ihre Vorsicht, still aber fest, als hätte sie sich dazu entschlossen. Wie eine Ewigkeit kam es ihm vor, wie ein Bild, das er betrachtete, während er merkte, dass ihm selbst das Lächeln misslang. Es war sein Unvermögen jeden Sonntag, wie ein Fernsehprogramm vorherbestimmt der Ablauf, der Versuch der Freude, die er erst mit diesem Sonntag sah. Die Last seiner frühen Kindheit, die ihr durch irgendetwas genommen schien.

Mir liegt so viel an diesem durch planmäßigen Verrat im Beginn schon zerstörten Moment.


UNGARN. Nach einer weiteren, unser Urlaubsland verkündenden Ausweiskontrolle, hinter Nové Zámky, sprühte die tiefstehende Sonne Funken durch wucherndes Buschwerk. Unter ihr zog, in helles Orange getaucht, noch immer diese nie gesehene Weite vorüber, eine staubige Trostlosigkeit aus verbranntem Grün, von ausgedörrten Feldern, erdbraun darniederliegendem Mais. Ich schwieg, denn manchmal wuchs doch etwas, wie zum Trotz oder mir zur Hoffnung, liebevoll gehegt, hausnah auf kleinsten Flächen. Und es waren ja gut zwei Stunden noch bis Budapest, und der Bahndamm näherte sich bald den Wassern der Donau, breit und hoffnungsvoll stimmend.


SCHWERIN. Ich erinnere mich nicht an die Stunde davor, nicht an das Danach, nicht an den Tag, der in keiner Jahreszeit lag, der kein Wetter hatte, kein Licht, das mir in Erinnerung blieb, keinen Anfang, kein Ende, keinen Ablauf, nur an diesen wie ein plötzliches Standbild mit Überbelichtung in die Hornhaut gebrannten Augenblick. Ich weiß nichts mehr von meinem Hinkommen, nichts davon, was ich trug oder bei mir hatte, nichts, das mir Aufschluss geben könnte. Und im eigentlichen Sinn hat meine Erinnerung auch kein Bild von meinem Dortsein. Ich weiß nur, dass ich fror in seiner Nähe.

Ich erinnere mich an ein Schneeweiß, dass sich spiegelte oder wiederfand, als hätte ich selbst daringestanden. An die Eislandschaft, ein klirrender Winter. An den Wanderer zwischen zwei toten Bäumen auf einen Stock gestützt, vor Kälte krumm, in dem ich mich sah. An seinen sichtbaren Zweifel beim Ausblick von der Höhe über die Stümpfe eines abgeholzten Hains, über vereiste Wellen hinweg. Kein Ziel lockt am Horizont, nirgends ein warmes Licht, nur frostige Leere und das Drohen des schwarzen Himmels. Der Schneesturm bricht los … Oder sind es nur die Risse des alten Öls? Verloren steht er zwischen beiden noch nicht verfeuerten Bäumen. Krumm wie sie. Wie gefroren oder wie in die Landschaft gewachsen, schmächtig und kaum höher als jeder tote Stumpf. Vom Kommenden erzählt letztendlich die Wahl der den Bäumen gleichen Farben.

Er steht … Ein Noch in Öl. Ein aus der Zeit genommener Moment. Ein stetes Kippen in den nächsten Augenblick. Ich blinzelte im Fortlauf furchtbarer Erwartungen … Eine erzählte Sekunde, aus der die Phantasie sich Geschichten log, mit jeder nächsten in Varianten eine andere. Die Wahrheit folgte, wie auf Anfang gesetzt, mit jedem Blinzeln neu von vorn: Er steht immer noch … Wie seit den Jahrzehnten, die ich ihn kenne, wie seit zweihundert Jahren schon, wie alle kommenden Milliarden Sekunden.

„Hallo … Nicht träumen!" Seine Hand fuhr wie ein Scheibenwischer durch Eis und Schnee. Meine Geschichten verschwammen wie hinter Schlieren. Das Bild dagegen eindeutig und klar. Kein Davor, kein Danach. Es war da als ein für immer aus der Zeit herausgeschnittener Augenblick. „Mit Galle kommt der Firnis weg." Er fuhr mit der Hand auf meinen Bildern umher, tippte Punkte in die Luft, zog Striche und Kreise. „Wir kitten die Risse zwischen den Erhebungen zu. Und unser Maler retuschiert die Stellen mit sorgsam abgemischtem Aquarell."

Ich verstand nichts. Oder ich hörte es nicht. Vielleicht hörte ich es, sah aber nichts als wieder nur die Bilder meiner Phantasie hinter seinen Kreisen. Unbelehrbar malte sich mein Träumen auf die Leinwand. Wieder spielte sich der Beginn der Geschichte ab, bis auf den Hügel hinauf, ihr unwillkürlicher Fortgang, der Versuch mit letzter Kraft, schließlich das Straucheln … Oder doch ein fernes Licht, das aufglimmt? Ein rettendes Ziel, das sich auftut? „Hallo!" Ein Schnipsen seiner Finger vor meinen Augen, solange bis ich zu ihm aufsah. Wie in einem Gestöber stand er vor mir, plötzlich, verschwommen und unklar, in seinem Restauratorenkittel sichtbar erst im allerletzten Augenblick. Ein Weiß, zerflossen in meinem Gewirr von Eis und Schnee. "Interessiert dich das gar nicht?" Doch, doch …nickte ich meine Lüge gegen die Ungeduld in seiner Stimme. „Und … Was habe ich gerade erzählt?" Ich nickte wieder, im Suchen seiner Worte, angestrengt zwischen dem Bild und ihm, in einem Hin und Her. Ich sah seine Hände tief in den Kitteltaschen. Ich hörte die Schärfe seiner Wiederholung, „… und, hast du diesmal zugehört?" Ich hatte zugehört. Und als wenn er meine Frage ahnte, fuhr er fort: „Das machen wir, damit so dumme Lümmels wie du auch die nächsten hundert Jahre noch staunen können."

Ich hörte sein Luftholen: „Ein Meisterwerk. Der Stolz des Museums. Von mir bekommt es seine Leuchtkraft zurück. Dafür hat man mich hergeschickt." Seinen eigenen, erwartbaren Stolz hörte ich nicht. Etwas Anderes schwang in seinen Worten mit. Und zugleich dachte ich über die Leuchtkraft nach, die dem Bild fehlen sollte. Wie sie sich vertrüge mit dem zugezogenen Himmel, dem dunklen Drohen dieses fürchterlichen Winters. „Träumen sich deine Gedanken immer noch durch die Winterlandschaft …?"

Kaum etwas klingt so nach wie der Name Caspar David Friedrich. Wenig ragt wie dieser Moment aus meiner Kindheit herüber. Und wenn ich mir die Frage stellen würde, bei allem was ich kürzlich in den Akten las, wie weit eine Dankbarkeit in diesem Wissen noch zu reichen hätte: Ich sähe mein Glück und mein Scheitern gegen seinen Verrat.

Aus Kritzeleien und der schnellstmöglichen Betuschung von Papier wurden erste Versuche, sehr kindlich und darum äußerst ernsthaft. Ich füllte Malblöcke aus hergenommenen Vorlagen, ein Abmalen alles Gesehenen, was mir in die Hände fiel, nach dem einen Kriterium nur, ob es mir als eine ausreichende Herausforderung erschien: Tiere natürlicherweise, Pflanzen jeder Art, auch Autos, Flugzeuge und anderes, was Jungen begeistert, Glückwunsch- und Weihnachtskarten gingen nur noch von mir gemalt in die Post. Blumensträuße, Obstkörbe, Waldwiesen, alles was sich aufdrängt in diesem Alter. Die Ratschläge meiner Mutter nahm ich zu ihrer Freude meistens an, oft im Scheitern vieler Versuche. Mit zunehmender Übung aber gelang mir nach meinen kindlichen Kriterien viel. Nur mit Landschaft tat ich mich schwer. Aus der Fläche wollte mir nie Tiefe erwachsen, die Farbwahl war nie ein Griff, kein Kontrast erreichte Dramatik. Aber ein aufregendes Gefühl malte mit, eine Unruhe, die ich nur nirgends entstehen sah. Enttäuschung und Ärger, eine regelrechte Wut erfasste mich beim Anblick der meist sonnendurchfluteten Flächen. Einen strengen Winter, einen peitschenden Sturm oder einen bloß drohenden Himmel wagte ich nie.

Ich malte. Ich füllte Kartons mit Farbe. Ich bekleckste alles, was mir als Malfläche nicht verboten war. Ich weiß nicht, wie lange ich in meinem neuen Kinderzimmer saß und nichts Anderes tat.

Kindliche Meisterschaft entstand, wie Beschenkte ernsthaft meinten. Mitunter gelobt war der Witz, mein naiver Bruch des Dargestellten. Ein Sehr schön nahm ich als Geringstes hin. Er dagegen, mit den Meistern in nahezu intimer Kennerschaft vertraut, ließ die vielen Chancen ungenutzt. Er rümpfte die Nase über meinen Materialverbrauch. Nie sah ich mehr als ein zügiges Durchblättern der Bilder, eine lästige Pflicht, von der ungewollten Vaterrolle auferlegt. Kein Bezug merkwürdigerweise. Keine Hilfe, kein Leiten … Verschwendung hörte ich ihn einmal sagen, ohne zu wissen, ob er seine Zeit meinte oder meine.

Trotz? Vielleicht. (Wer, egal wie alt, malt nur um seinetwillen?) Ich war eine Last. Und ich spürte, als fleißiger Maler konnte ich sie ihm umso mehr sein. Was wusste ich von den dauerhaften Zwängen seiner Fassade? Das hier ist ganz nett. Ein Standard, den ich so wenig vergessen habe wie sein Gesicht, wenn ich ihn nötigte, sich meine neuesten Bilder anzusehen. Ein aufgedunsenes Violett, das sich über sie beugte, verfärbt nach wenigen Tagen der Abwesenheit. Eine Folge der Anstrengungen, von denen er erklärend sprach, jene zermürbenden Dienstreisen, die ihn derart forderten, während er sich, sein wachsendes Doppelkinn befreiend, am Hemdkragen zog. Ende Zwanzig, ein Leben zwischen Funktion und Verbrauch. Narkose als einfache Antwort auf das Gewissen, auf das Wissen um diesen unwiderruflichen Schritt zu weit. Leere und Selbstentfremdung im dauernden Spiel der vorgesehenen Rolle: der spionierende Ehegatte – ein benutztes Leben. Gefangen in jeder Hinsicht, unfreier als alle Anderen in diesem Land. Das Ersticken an der späten Erkenntnis, des an der eigenen Person erfolgten Missbrauchs.

Schweiß auf der Stirn. Ein glänzender Film im zurückgewischten Haar. Tropfen auf der Nackenfalte. Der Hemdkragen wie Löschpapier. Ein Dreieck im Rücken. Halbmonde unter den Achseln. Weißer Stoff, nasses Grau. Durchschimmernde Haut bis an den Rand des Unterhemds. Zittrige Hände, trockengewischt an den Oberschenkeln. Ein Streichholz, die nächste Zigarette. Glut an der zitternden Spitze. Tröpfchen auf den gierigen Lippen. Der Filter halb verschlungen. Heftiges Saugen. Lautes Knistern. Geschwellte Brust. Qualm in den Lungen. Der schnelle Ersatz für das benötigte Glas. Die Sucht für einen Zug überwunden, die Gier nach dem gewohnten Halbrund, kühl und schweißhemmend schon im Anschmiegen der Lippen. Ich genoss diesen Anblick wie das Ergebnis einer Rache. Mir gefiel es, in seinen Wolken zu stehen, neben seinem Sessel, provokant die Ergebnisse der letzten Tage in der Hand.

Auch wenn ich nicht dafür gepinselt hatte, einige der frühesten Bilder entstanden nur, weil das Kind ihn für sich einnehmen wollte: Greifen nach dem, was möglich scheint. Ausdauernde Mühe. Und am Wunsch gemessen, die regelmäßig scheiternden Versuche. Nichts gelingt aus sich. Auch diese Erkenntnis, neben der Malerei selbst, verdanke ich ihm – Zuversicht ist eine Bedingung des Scheiterns. Das Dritte letztlich, was er mich unbewusst lehrte, dass Aufmerksamkeit etwas ist, wofür man kämpfen muss.

Versagen, was ohnehin zu lernen war, steht als Teil des Weges in meinen frühesten Erinnerungen: Der Einzige mit Bezug, wie ich glauben musste. Nicht verstoßen von ihm, gar nicht angenommen. Bloß das. Sein Erwehren in der fremden Rolle, mit mir als penetrantestem Detail. Unsere widersprüchliche Fremde, die jetzt so nachvollziehbar erscheint. Seine gespielte Geduld. Seine erschöpfte Abwehr … Die mir bald mitgebrachten Bildbände, die von seiner Dienststelle besorgten Reproduktionen, die wegen aggressiver Haltlosigkeit gegen das Stiefkind herbeigeschafften Kataloge, die mich potentiell interessierenden Drucke, die von ihm wie eine Bitte um Ruhe auf meinen Maltisch gelegten Museumspostkarten. Der Apparat, von dem ich lese, die eingeschalteten Dienststellen an Orten, die er nie sah, die Vielzahl örtlich Kundiger, die für eine glaubhafte Besorgung sorgten … Die wenigen Jahre seines Zerbrechens …

Die Lust an der Qual oder die Unlust am weggeworfenen Leben. Das bereitwillige Opfer oder die Verschwendung an die Idee. Der Jähzorn nach wenigen Jahren, die trinkende Haltlosigkeit. Das Ersäufen der Lügen. Das Misslingen. Ein schreckliches Geheul, das nicht enden will. Wie ein Sack junger Katzen, der nicht untergeht. Selbstmitleid, klagender Tonfall, anklagender Vorwurf … Das gefährliche Kippen. Nicht zu sehen der Moment, nur der plötzlich geschehene Wechsel. Ihre Angst dagegen, mehr noch ihr Ekel. Die von ihr hingestellte Goldkrone. Die nächste Flasche für ein schnelles Koma.

Meine Mutter hasste die Wahrheit.


Die Wende im Leben des jungen W.

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