Читать книгу Schwarz vor Augen - Fredrik Skagen - Страница 6
Er geht die großzügige
Оглавлениеund lang gezogene Cromwell Road entlang. Hier und da sind die Bäume und Fassaden mit Glitter und Lichterketten geschmückt. Es ist Vorweihnachtszeit, doch die Ursache seines Besuchs in London nimmt seine Gedanken weniger in Anspruch als vor einer Stunde. Mitunter denkt er an etwas ganz anderes.
Er hat sich eine Ausgabe des Guardian gekauft, die er unter dem Arm trägt. Sie ist datiert vom 10. Dezember 1997, was ihn nicht wesentlich klüger macht. Mit einigen der wichtigsten Nachrichten, denen aus dem Ausland, kann er etwas anfangen. Der Börsencrash in Fernost gibt ihm das Gefühl, noch am Leben teilzunehmen, nicht völlig von jeder Kontinuität abgeschnitten zu sein. Die Nachrichten widmen sich Vorgängen, deren Hintergründe er kennt, schildern Entwicklungen, die erst kürzlich ihren Anfang nahmen. In der letzten Woche. Spätestens gestern. Er befand sich zwar am falschen Ort, aber die Zeit war richtig. Das beruhigte ihn. Ein Stück Normalität.
Er passiert ein von der Straße zurückgesetztes Hochhaus. Als er den großen Schriftzug liest – Forum Hotel –, macht sich erneut der Druck hinter den Schläfen bemerkbar, blitzartig und intensiv. Rasch geht er weiter.
Das hilft. Er geht und geht und geht. Die Füße bewegen sich von allein und bringen ihn schnell voran. Aber das Gebäude mit den noch größeren Buchstaben – Earls Court – findet er nicht wieder. Warum auch? Zunächst muss er sich selbst wiederfinden.
Das ist schon eine Art von Besessenheit geworden, weitaus wichtiger als die Beschäftigung mit der fremden Umgebung. Und gleichzeitig drängte ihn sonst nichts. Er verspürt weder Hunger noch Durst, die Übelkeit ist verschwunden. Er hat das Gefühl, stundenlang durch die Straßen laufen zu können, mit festen Schritten, ohne das Ziel zu kennen. Ein namenloser Drang, der alles andere als lästig ist, treibt ihn weiter. Vom Vakuum ist nur ein kümmerlicher Rest geblieben, der sich aus dem Kopf verabschiedet und in die Nähe des Zwerchfells verzogen hat. Er spürt ihn nur, wenn er zu tief Luft holt. Früher oder später würden die Karten aufgedeckt, hieß es gemeinhin in den abgedroschenen Artikeln, die ihn zu ärgern pflegten.
Er macht sich keine Gedanken darüber, dass die Dunkelheit, wie auf Samtpfoten, näher kommt.
Ein paar Häuserblocks weiter wird seine Aufmerksamkeit von einem U-Bahn-Eingang geweckt. Er kommt ihm bekannt vor, doch er weiß, dass die U-Bahn-Eingänge fast alle gleich aussehen. Gemeinsam mit vielen anderen Menschen gelangt er zu einer langen Reihe schwarzer Schleusen, die am ehesten an die Flügeltüren eines Saloons erinnern. Bevor er an der Reihe ist, steckt er eine Hand in die Jackentasche, zieht eine Fahrkarte heraus und steckt sie in einen Schlitz. Sie wird verschluckt, doch genauso schnell von einem anderen Schlitz wieder ausgespuckt. Die Flügeltüren gleiten auseinander, und als er seine Fahrkarte wieder hat, zwängt er sich rasch durch die Öffnung.
Während er auf der unendlich langen Rolltreppe steht, die polternd in die Tiefe fährt, wird ihm schlagartig klar, dass er diese U-Bahn wohl kaum zum ersten Mal benutzt, denn als er sich den Schleusen näherte, hatte er sich automatisch richtig verhalten. Er studiert die Fahrkarte.
London. Underground. 01Day Ticket. 10DMR 97.
Mit diesem Ticket konnte er einen ganzen Tag lang fahren, wohin er wollte. Er musste es früher am Tag gekauft haben. Das Netz der Tunnel, das kreuz und quer unter der Metropole verlief, war ihm vertraut. Die Erde unter ihm war genauso durchlöchert wie das Territorium eines Maulwurfs, ein ausgeklügeltes System, in dem Züge binnen weniger Minuten zehntausende von einem Punkt zum anderen beförderten. Hingegen ist ihm schleierhaft, was ihn eigentlich hierher getrieben hat. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als seiner Intuition zu vertrauen, sich darauf zu verlassen, dass Kräfte, die er nicht beeinflussen konnte, ihn schon an den richtigen Ort führten. Von einer bewussten Entscheidung konnte keine Rede sein, von einer Notwendigkeit schon gar nicht. Darum leistet er auch keinen Widerstand und fragt sich immer weniger, warum das so ist.
Eine Woge warmer Luft, durchmischt vom Geruch nach Urin und verbranntem Öl, schlägt den Reisenden am Fuß der Rolltreppe, an der die Tunnelröhre einen Knick macht, entgegen. Er folgt dem Strom, vorbei an grellen Werbeplakaten, über einen Boden, der mit rundlichen Flecken, die aussehen wie gelbliche Münzen, übersät ist: ein internationaler Kaugummifriedhof. Als der Tunnel sich teilt, liest er Eastbound und Westbound und schließt sich der Mehrheit an.
Auf dem Bahnsteig muss er nicht lange warten. Ein Zug braust heran, doch es gelingt ihm nicht, den Namen der Endstation am Kopf des Triebwagens zu lesen. Er macht es einfach wie alle anderen: drängt in den Zug, schlängelt sich zwischen Körpern beiderlei Geschlechts und aller Altersgruppen hindurch und greift sich eine der Halteschlaufen. Eine monotone, blecherne Stimme leiert eine vertraute Durchsage herunter; der Zug beschleunigt rasch, hinein ins Dunkel. Er riecht das Parfüm einer jungen Frau, die mit dem Rücken zu ihm steht, betrachtet ihre dichten schwarzen Locken und stellt sich die mokkafarbene Rundung ihrer Wangenknochen vor. Er sieht überhaupt viele Farbige. Die meisten sehen traurig, müde und verloren aus, doch einige lächeln nachdenklich in sich hinein, als erinnerten sie sich an eine heitere Episode aus ihrer Kindheit. Die fröhlichsten halten Plastiktüten und Weihnachtsgeschenke in der Hand. Es bereitet ihm Freude, die verschiedensten Typen zu beobachten, und obwohl er nicht weiß, wohin die Fahrt geht, fühlt er sich unter den Reisenden zu Hause. Vielleicht gerade deswegen, weil es Fremde waren, die ihn in Ruhe ließen und keine neugierigen Fragen stellten. Es war ein angenehmes Gefühl, inkognito unterwegs zu sein.
Als der Zug anhält, steigen viele aus. Er setzt sich auf einen der freien Plätze und genießt es, die Füße auszustrecken und den Rücken anzulehnen. Ihm gegenüber sitzt ein älterer Herr mit einer kleinformatigen Zeitung. Er trägt einen eleganten grauen Mantel und einen karierten Hut, ein echter Brite. Links von ihm: ein kurzgeschorener Kerl mit Walkman. Zur Rechten: eine Brünette, vertieft in ein Taschenbuch. Neben ihr: ein schlafender Mann, der etwas Indianisches an sich hat. Aufgrund der Fransenjacke oder der Adlernase unter den pechschwarzen Haaren? Winnetou oder der letzte Mohikaner, ohne Pfeil und Bogen.
Die Menschen sehen einander kaum an; allenfalls wenn diejenigen, die weder lesen noch schlafen, es satt haben, die Werbetexte über den Fenstern zu studieren. Ihre Blicke begegnen sich flüchtig, verändern ihren Ausdruck und schweifen weiter. Genau wie sein eigener Blick, nachdem er ein Gesicht eine Weile betrachtet hatte.
Der Zug rast von Station zu Station. Zwischenzeitlich füllt er sich wieder, bevor auf einen Schlag viele Leute aussteigen. Er steht auf und folgt ihnen, während er sich fragt, ob Winnetou womöglich verschlafen und seinen Zielort verpasst hat. Er geht verschiedene Gänge entlang. Dies musste eine Station sein, an der sich mindestens zwei Linien kreuzten. Er nimmt eine Rolltreppe nach oben, bevor er mit einer anderen wieder nach unten fährt und einen korpulenten Farbigen erblickt, der Altsaxophon spielt. Im offenen Instrumentenkoffer schimmern matt ein paar Münzen. Er bleibt einen Augenblick stehen und hört zu. Unglaublich, was der Kerl draufhat. Die Wiedergeburt von Bird. Doch dann fängt er erneut mit derselben Melodie an: Now’s The Time. Man drängt ihn weiter.
»Excuse me, Sir.«
Die Leute in diesem Land sind höflich.
Er findet keinen Ausgang, lässt sich durch das Labyrinth treiben und entscheidet sich schließlich für eine Richtung, die mit Northbound beschildert ist. Ein neuer Zug und neue Menschen. Ein grauer, nur spärlich besetzter Waggon, vielleicht weil es der letzte ist. Er spürt, dass sein Magen knurrt, dass er hungrig wird. Doch er hat keine Angst mehr. Braucht die Dinge einfach auf sich zukommen lassen. Vorläufig war er ein sorgloser Reisender.
Bei einer Station namens Hampstead steigt er aus, vermutlich weil ihm der Name bekannt vorkommt. Er schien mit einem Schriftsteller in Verbindung zu stehen. Schriftsteller. Das hörte sich vertraut an. Sprache, natürlich. Worte. Das Werkzeug eines Schriftstellers. War er selbst einer? Er glaubt es nicht, weil ihm dann sicher einige seiner Titel einfallen würden. Zum ersten Mal seit längerer Zeit spürt er wieder das leichte Zittern seines Körpers, die eigenartige Hilflosigkeit, die ihm verrät, dass er nicht die volle Kontrolle besitzt, dass ihm irgendetwas abhanden gekommen ist, ein Draht, so hauchdünn wie eine Glasfaser.
Vor einem Pub, glaubt er.
Ein Lift bringt die Reisenden an die Oberfläche. Als er auf die Straße tritt – nachdem er eine weitere Schleuse passiert und sein Ticket zurückerhalten hat –, ist der Himmel schwefelfarben. Der Ausgang befindet sich in einer Straßenkurve, und er entscheidet sich für die Richtung, die heller erleuchtet ist. Die Zeiger seiner Armbanduhr stehen auf 6.23.
P.m.
Now’s The Time.
Er sucht Zuflucht im erstbesten Lokal und hat es ganz und gar nicht schlecht getroffen. Die Gerichte stehen in roter Kreide auf einer schwarzen Tafel. Er bestellt Lammkoteletts mit Gemüse sowie einen Pint helles Bier. Die rothaarige Bedienung erinnert ihn an eine Frau, deren Name ihm entfallen ist.
Er lässt es sich schmecken. Das Bier ist kühl und erfrischend. Er trocknet sich den Mund und hat für einen Augenblick die Assoziation, die Leere in ihm sei ein verlassenes Zimmer ohne Gardinen. Die wenigen Möbel sind mit weißen Schonbezügen abgedeckt. Der Raum kommt ihm bekannt vor, obwohl er ihn noch nie gesehen hat. Als die Bedienung vorbeigeht, zeigt er auf sein Glas. Es dauert nicht lange, bevor ein frisches Bier mit Schaumkrone vor ihm steht. Als er die Hand in die Jackentasche steckt, sagt sie lächelnd, er könne an der Theke bezahlen, wenn er gehe. Typisch England, denkt er. Hier gab es keine allgemein gültigen Regeln, was die Zahlweise anging; alles war dem Zufall und dem Willen des jeweiligen Inhabers überlassen. Er blättert ein wenig im Guardian und schließt dann seine Augen. Wenn er sie wieder öffnete, würde er vielleicht zu sich kommen, vernünftig nachdenken und dorthin zurückkehren können, wo er hingehörte. Aber das Bedürfnis ist schwächer als zuvor. Inzwischen scheint es sich fast um ein Spiel, ein stets wiederkehrendes Ritual zu handeln.
Einst ging ich über See und Land, da traf ich einen alten Mann; er sagte so, er fragte so, wo bist du denn zu Hause? Ich bin zu Haus im Wörterland, im Wörterland, im Wörterland, und jeder Mensch, der schreiben kann, der ist zu Haus im Wörterland.
Langsam lässt er das Licht durch seine zusammengekniffenen Augen sickern, ist aber weiterhin nicht in der Lage, vernünftig und zusammenhängend nachzudenken. Doch er hat das Gefühl, der Sache näher zu kommen. Er trinkt einen Schluck, erinnert sich an die Zigaretten in seiner Jackentasche und zündet sich eine an.
»Hast du auch ’ne Kippe für mich, Süßer?«
Er fährt zusammen, schüttelt den Kopf, bietet ihr aber trotzdem eine an. Die Frau, die neben ihm Platz genommen hat, muss mindestens sechzig sein. Er findet sie ziemlich abstoßend: ihr Gesicht ist bleich, im Oberkiefer fehlen ein paar Zähne und mit ihren eingefallenen Wangen macht sie einen ausgehungerten Eindruck. Sie riecht nach Schimmel. Die Zigarette lässt sie rasch in ihrer Manteltasche verschwinden.
»Die ist für später.«
Er nickt bloß, mehr überrascht als verärgert. Die burgunderfarbene Bluse, die sie unter dem fleckigen Mantel trägt, erinnert ihn an geronnenes Blut. Doch ihr Blick lässt ihn nicht los. Die Augen sind anklagend, gierig und flehentlich zugleich, als sei er ihr letzter Ausweg. Er weiß, dass es im Gegensatz zu dem Land, aus dem er kommt, hier nichts Ungewöhnliches ist, wenn sich ein Fremder mit an den Tisch setzt, vorausgesetzt, es gibt noch einen freien Stuhl. Mitunter führte das zu interessanten Gesprächen, meist zu belanglosem Smalltalk.
Nichtsdestotrotz empfindet er das Auftreten der Frau als Zumutung. Vermutlich wollte sie mehr als eine Zigarette. Ein unverfrorenes Weib auf Kontaktsuche. Oder eine gewöhnliche Bettlerin, die ihre Tricks anwandte, um ihn auszunehmen. Ihre nächste Handlung verunsichert ihn, denn unvermittelt greift sie nach seinem Glas, nimmt einen langen Schluck und grinst vergnügt. Er weiß nicht recht, wie er sich verhalten soll, hört, dass um ihn herum getuschelt wird, während ein halbwüchsiger Junge zu kichern anfängt. Da eilt die Bedienung herbei, packt die Frau hart am Oberarm und zieht sie vom Stuhl.
»Verzieh dich, Suzy!«
Worauf Suzy faucht, sich losreißt und dem Ausgang entgegenwankt.
»Tut mir leid, Sir. Die ist wirklich eine Plage für uns«, entschuldigt sich die Bedienung. »Ich bringe Ihnen sofort ein neues Bier.«
Die Gäste an den umliegenden Tischen, die ihre Köpfe zusammengesteckt haben, nicken verständnisvoll in seine Richtung, und er lächelt dankbar zurück. Von jetzt an hat er seine Ruhe. Er ist froh darüber, bedauert aber, dass die Frau mit den eingefallenen Wangen nicht der Typ war, dem er sich hätte anvertrauen können. Er ist satt, fragt sich jedoch, was er jetzt tun soll. Das Bier und das gleichförmige Stimmengewirr haben ihn träge und schläfrig gemacht. Alles, wonach er sich sehnt, ist ein warmes Bett. Hier kann er zumindest nicht ewig sitzen bleiben. Er leert sein Glas, bevor er aufsteht, die Zeitung liegen lässt und seinen Anorak anzieht. Automatisch nach seinem Hut schaut, jedoch keinen erblickt. Dann hatte er wohl barhäuptig das Haus verlassen. Er geht langsam zur Theke, um zu bezahlen. Auf dem Weg tastet er in der Jackentasche vergeblich nach seiner Brieftasche. Der Barkeeper blickt ihn auf eine Weise an, als ahne er bereits, dass dieser Gast zu der Sorte gehört, die ihre Rechnung nicht begleichen kann. Eine Tür mit der Aufschrift Gents ist die Rettung.
Bevor er sich erleichtert, kramt er in jeder einzelnen Tasche seiner Kleidung. Das Portemonnaie ist verschwunden – gestohlen, verloren, vergessen. Das Einzige, was er findet, sind ein Stadtplan, eine Zigarettenschachtel sowie ein wenig Kleingeld, insgesamt ein Pfund und fünfzig Pence. Er schuldet dem Lokal mindestens zehn Pfund. Unter normalen Umständen hätte er selbstverständlich sein Portemonnaie dabei. Seine Brieftasche mit Banknoten und Kreditkarten.
Er war also völlig abgebrannt.
Doch nach einer Weile sagt er sich, er dürfe den Verlust nicht überbewerten, brauche nur zur Theke zurückzukehren und den Sachverhalt zu erklären. Er musste ihnen begreiflich machen, dass er das Geld zu Hause vergessen hatte und morgen wiederkäme, um seine Schulden zu begleichen. Im schlimmsten Fall würde er die Schmach auf sich nehmen und für ein paar Stunden als Küchenhilfe arbeiten. Aber das war wohl ausgeschlossen. Die freundliche Kellnerin hatte sicherlich längst bemerkt, dass er ein redlicher Kunde war, denn die Bedienung war ohne Fehl und Tadel gewesen. Da er von einem weiblichen Gast belästigt worden war, würde man ihm Glauben schenken, wenn er behauptete, die Brieftasche sei ihm gestohlen worden. Vielleicht hatte die freche und aufdringliche Suzy sie ja tatsächlich geklaut, als er für einen Moment die Augen schloss und sich das merkwürdige Zimmer mit den Schonbezügen über den Möbeln vorstellte. Er brauchte nur Namen und Adresse anzugeben, damit sie ihm ein Taxi riefen, das ihn nach Hause brachte. Die Bezahlung hatte keine Eile. Nach Hause?
Während er in das Urinal pinkelt, kehren die Schmerzen zurück, zum ersten Mal seit langem. Sein Kopf fühlt sich wie eine vorbereitete Sprengladung an. Ein bloßer Knopfdruck würde ausreichen, um ihn in das Universum zu schießen, hinaus in das schwarze Vakuum.
Ich muss den Pub wiederfinden, den mit der schummrigen Ecke in der Nähe des Fernsehers. Früher oder später wird sich jemand melden und nach mir fragen.
Doch im nächsten Augenblick hat er dieses Vorhaben bereits vergessen.
DribkcalB eyB eyB.
Mühsam gelingt es ihm, den Reißverschluss seiner Hose hochzuziehen. Dann wankt er zum Waschbecken und erblickt sein Gesicht, das ihn fragend anschaut, im Spiegel. Er ist sich nicht sicher, was er erwartet hatte, doch zumindest nicht dies:
Er sieht ein paar große braune Augen unter dunklen Brauen. Seine vollen Haare sind ebenfalls dunkel und nur an den Schläfen von feinen grauen Strähnen durchzogen. Eine kräftige, gerade Nase und die Andeutung einer Kinnspalte. Ein weicher, keltischer Typus, der in Großbritannien nicht weiter auffällt. Eine bürgerliche Erscheinung, alles in allem. Doch irgendetwas – gewisse unerwartete Begebenheiten – scheint ihn so erschüttert zu haben, dass sein ebenmäßiges Gesicht alle Klarheit verloren hat. In den dunklen Augen ist kein Funken Selbstsicherheit zu erkennen. Die Lippen wirken verschwommen, weil sie zittern, und das Zucken in einem Augenwinkel erschreckt ihn. Das Beunruhigendste ist jedoch seine krankhaft bleiche Gesichtsfarbe.
Er spürt, wie das Zittern sich im Körper ausbreitet, bis zur Kinnspitze wandert und die Wangen befällt. Seine eigenen? Schockiert muss er sich eingestehen, dass ihm sein Gesicht fremd ist. Er hat es nie zuvor gesehen. Es gehört einem anderen. Und mit dem Verlust der Brieftasche hat er auch den Beweis seiner Identität eingebüßt.
Er ist eine Nicht-Person.
Kam er nicht sofort an die Luft, würde er ohnmächtig werden. Er tritt vom Spiegel zurück, dreht sich abrupt um und entdeckt eine zweite Tür, die nicht ins Lokal führt. Ein grüner Schriftzug leuchtet über ihr: Emergency Exit. Sie ist verschlossen, doch der Schlüssel steckt im Schloss. Er dreht ihn herum und öffnet. Schließt hinter sich die Tür und befindet sich auf einem düsteren Parkplatz hinter dem Gebäude. Es ist völlig dunkel geworden. Zwischen den Autos stiehlt er sich davon und biegt mit schnellen Schritten in eine alleeartige Seitenstraße ein. Als er jemand rufen hört, beginnt er zu laufen, obwohl er vermutet, dass die Rufe nicht ihm gelten. Zum ersten Mal in seinem Leben – glaubt er – prellt er die Zeche. Entsetzlich peinlich war das, und er spürt, wie ihm die Röte ins Gesicht steigt.
Nicht leicht und federnd läuft er, sondern steif und verkrampft, und es dauert nicht lange, bis er nach Atem ringt. Seine Form ist auch nicht mehr die Beste, falls sie es je gewesen war. Er hastet einen dürftig beleuchteten Kiesweg entlang, der zu einem parkähnlichen Gelände führt. Hampstead Heath vermutlich. Es musste ziemlich groß sein und bot vielfältige Möglichkeiten, im Dunkeln das Weite zu suchen. Doch andererseits hat er immer noch das Gefühl, sich in einem Tunnel unter der Erde zu befinden, einem Korridor mit gewölbter Decke, an dessen Ende kein Licht zu erkennen war.
Schließlich muss er stehen bleiben, sich nach vorne beugen und die Arme auf die Schenkel stützen.
Zwischen den hohen Bäumen ist es kühl und feucht, doch vom angestrengten Laufen ist ihm warm geworden. Er richtet sich auf und lauscht seinem hämmernden Herzen. Wenn er verschnauft hatte, würde er geradeaus weitergehen, quer durch den Park hindurch. Einen Weg oder eine Straße auf der anderen Seite finden, nach einer U-Bahn-Station Ausschau halten und sich vom erstbesten Zug an einen gemütlicheren, helleren Ort bringen lassen, weit weg vom Lokal, dem er Geld schuldete. Hoffentlich erwischte er eine Linie, bevor die U-Bahn Feierabend machte. Doch noch war genug Zeit, mehrere Stunden. Er ist satt. Der Duft faulenden Grases brennt in seiner Nase.
Geld.
Warum ein schlechtes Gewissen haben? Eigentlich hatte er ja reinen Tisch machen, zur Bedienung gehen und versichern wollen, dass er morgen seine Schulden bezahlen würde:
Ich kann Ihnen meinen Namen und die Adresse geben. Nein, meinen Pass habe ich leider nicht dabei. Der ist mir zusammen mit meinem Portemonnaie abhanden gekommen. Gott weiß, wo ich ihn verloren habe, ha-ha.
Gefolgt von einem gewinnenden, entschuldigenden Lächeln.
Und Ihr Name war ...?
Er hätte zugeben müssen, dass er seinen Namen nicht kannte.
Er spürt einen leichten Stoß gegen sein Knie, fast so wie die Stoßstange des Lieferwagens vor einer Weile. Doch hier gab es keine Autos, kein Licht, keinen Verkehr, niemand außer ihm selbst. Was er berührt hatte, war das einzige Möbelstück, das man in freier Natur finden konnte: eine Parkbank. Er legt seine Hand auf die Armlehne, lässt sich schwer auf die Bank fallen, lehnt sich nach hinten und saugt begierig die feuchte Luft in die Lungen. Der Schmerz hinter den Schläfen lässt langsam nach; es kommt ihm vor, als würde er einen eitrigen Zahn loswerden. Er ist wieder allein, auf den abenteuerlichen Pfaden eines unbekannten Dschungels mit gleichmäßig verteilten Bänken unter dem dichten Blätterdach.
Wie ist es möglich, dass er sich plötzlich wie befreit fühlt, so unendlich erleichtert, obwohl er immer noch nicht weiß, warum er in London ist, was ihn hierher geführt hat? Im nächsten Augenblick bricht er in Tränen aus, doch wirklich unglücklich ist er nicht.