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Seine erste Nacht

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ohne Identität verbringt er auf einer Bank. Sie steht unter einem schmalen Dach, über einem Eisengitter, aus dem warme Luft aufsteigt, irgendwo am Rand von Hampstead Heath. Er weiß nicht, ob der Luftstrom aus der U-Bahn oder von den Rohren eines Industriebetriebs kommt, doch es wundert ihn, dass dieser Platz nicht von anderen Obdachlosen in Besitz genommen wurde. Vielleicht war die Gegend zu vornehm, vielleicht gab es hier keine Obdachlosen.

Denn jetzt war er selbst einer geworden. Kein Entdeckungsreisender, sondern ein gewöhnlicher Penner.

Als er, auf dem Rücken liegend, erwacht, geschieht dies, weil ein Hund ihm mit der Zunge über sein Gesicht fährt, ein kleiner rotbrauner Bastard ungewisser Abstammung. Mühsam setzt er sich auf, blinzelt ins graue Morgenlicht und will den Hund streicheln, doch das Tier erschrickt und schlägt sich in die Büsche. Mit steifen Gliedern steht er auf und gähnt. Es tut gut, sich zu strecken; so fühlte man sich, wenn man an einem Sommermorgen aus einem engen Zelt kroch. Womöglich war es gar kein Hund, sondern ein Fuchs gewesen.

In der Baumkrone über ihm beginnt eine Amsel zaghaft zu zwitschern. Blackbird. Turdus merula auf Lateinisch. Sein Rücken fühlt sich nach der Nacht auf den harten Holzlatten ziemlich taub an. Doch was ihn vor allem beschäftigt, ist seine innere Leere. Er versucht ihr auf den Grund zu gehen, doch es gelingt ihm nicht. Dennoch waren etwaige Sorgen ganz und gar hypothetisch. Die Nacht hatte eine Veränderung bewirkt, hatte den schrecklichen Schmerz hinter den Schläfen vertrieben. Er spürt kein Schuldgefühl mehr, keine Scham, keine Reue. Kein Herzklopfen mehr aufgrund seiner Heimatlosigkeit. Keine bedrängenden Angstzustände. Er ist ein Mensch ohne Zahnweh, Gliederschmerzen oder schlechtes Gewissen. Seine einzige Sorge gilt im Moment der Frage, wie er Geld für ein kleines Frühstück auftreiben könnte. Er verlässt den Park auf der Ostseite, frei wie ein Vogel. Es ist früh am Morgen und er fühlt sich unbeschwert.

Kurz darauf bleibt er vor einem Plakat stehen und muss dicht an die Wand treten, um den Text unter dem Bild lesen zu können, auf dem eine dreckige Matratze sowie ein Paar Füße zu sehen sind, die aus einem großen Pappkarton herausgucken:

Freie Unterkunft im West End – Tür an Tür mit einem renommierten Warenhaus. Zentral, luftig und geräumig. Geringer Verkehrslärm. Zuweilen von Passanten als Urinal benutzt. Perfekt geeignet für Leute ohne Vorurteile.

Das musste ein Scherz sein, der auf Leute wie ihn zugeschnitten war; er bricht in kurzes Gelächter aus. Wird regelrecht gut gelaunt. Daneben hängt ein weiteres Plakat, auf dem Gerümpel und Lumpen abgebildet sind:

Zimmer in Hammersmith. Ruhige Lage in dunkler Ecke zwischen überfüllten Mülleimern. Leckende Abflussrohre sorgen für fließendes Kaltwasser. Komplette Möblierung mit leicht zugänglichen Pappkartons. Nur einen Steinwurf zur U-Bahn. Unbedingt anschauen!

Ein originell formulierter Spaß und Beispiel für britischen Galgenhumor, denn beide Plakate bitten im Namen einer Organisation namens Centrepoint um Spenden zugunsten junger Obdachloser. Viele leiden offenbar große Not, denkt er. Eine Not, deren Zunahme auf das Konto Margaret Thatchers und John Majors geht. Er kann sich daran erinnern, dass der neue Regierungschef Blair heißt und einen guten Eindruck auf ihn machte. Wenn irgendjemand die Probleme in Nordirland in den Griff bekommen konnte, musste es dieser Blair sein.

Wo wohnte er selbst? Die Schmerzen hinter seinen Schläfen verstärkten sich jedes Mal, wenn er eine Antwort auf solche Fragen suchte. Auch seine Knie begannen dann wieder zu zittern. Daher schien es ihm ratsam, die Dinge auf sich zukommen zu lassen. Er reißt sich von den Plakaten los und geht weiter. In dieser Gegend waren die Häuser gepflegt und die Straßen sauber. Wenn überhaupt, so fanden sich hier bestimmt nur sehr wenige ungebundene Existenzen. Zu vielen Häusern gehörten hübsche Gärten. Hier hat er ein heimisches Gefühl, obwohl er Hunger und Durst verspürt. Auf der Treppe, die zu einer blauen Haustür mit Messingklopfer führt, entdeckt er zwei Milchflaschen. Er blickt sich um, steckt sich die eine rasch unter die Jacke und eilt davon. Sobald er sich unbeobachtet fühlt, zieht er die Flasche hervor und trinkt – in langen, gierigen Zügen. Das tut gut, und so nimmt er kaum wahr, dass ihn eine Frau, die mit dem Fahrrad vorüberfährt, verwundert anblickt. Er kommt sich nicht wie ein Dieb vor; schon eher als moderne Dickens-Figur. Er stahl aus einer Notsituation heraus und nicht aus niederen Motiven.

Die Straße endet an einem weiteren Park. In einer Hecke entdeckt er eine Lücke, kriecht hindurch und findet sich auf einem Friedhof wieder. Offenbar einem sehr alten, teilweise überwachsenen. Einer Art Dschungel. Einige Bäume tragen welkes Laub, während andere ihre Blätter bereits verloren haben. Das Gelände ist etwas abschüssig und wird von mehreren Spazierwegen durchzogen. Hin und wieder bleibt er stehen, um die Grabinschriften zu lesen. Mitunter neigten sich die Kalksteine einander zu, als ob die Toten Kontakt suchten, um sich etwas zuzuflüstern. Eliza Dummet lehnte sich beispielsweise zu Thomas Foreman hinüber – vielleicht hatten sie sich einst geliebt. Es riecht nach Schimmel und Vergangenheit. Doch die Wege sind breit und gut begehbar. Er leert die Milchflasche und stellt sie vor ein relativ junges Grab. Die Leute werden annehmen, die Flasche diene als Blumenvase.

Dann liest er den Text auf dem Grabstein:

Gordon Bell

(Middle name Ernest, though he

placed no importance on it)

20. 12. 1942 – 17. 3. 1993

»Tomorrow do thy worst,

for I have lived today«

Die Briten waren seiner Meinung nach Weltmeister im Formulieren von Epitaphen. Er freut sich über das Wortspiel und macht sich Gedanken, was wohl auf seinem Grabstein stehen wird, wenn die Zeit gekommen ist. Das waren nur flüchtige Morgengedanken über ein Thema, das ihn selten beschäftigt, ihm aber dennoch merkwürdig vertraut vorkommt – der Tod. Der konnte in seinem Fall noch lange auf sich warten lassen. Nach dem Gesicht zu urteilen, das er gestern im Spiegel gesehen hatte, dürfte er kaum älter als fünfzig sein. Er rechnet rasch nach und stellt fest, dass Gordon Bell, als er das Zeitliche segnete, ungefähr im selben Alter war. Dennoch schlendert er zufrieden weiter, unbeeindruckt von dieser Entdeckung. Bald ist es Weihnachten und die Vögel in den Büschen geben seltsam exotische Laute von sich. Mögliche Sorgen hatte er mit der letzten Nacht hinter sich gelassen.

Dieser Ort gefällt ihm und er bleibt lange. Wandert systematisch auf den schmalen und breiten Wegen umher. Wenn er nicht geht oder ausgedehnte Pausen auf einer der vielen Bänke macht, versucht er, einige der fast unleserlichen Inschriften zu entziffern. Da ihm viele Namen bekannt vorkommen, scheint es sich nicht um einen x-beliebigen Friedhof zu handeln. Er lauscht dem entfernten Rauschen des Verkehrs und versucht den Hunger zu vergessen.

Es würde sich schon alles wieder einrenken.

Eine ganze Weile später, als der Kiesweg eine Biegung macht, kommt er zu einer Grabstelle, die größer und prächtiger ist als die meisten anderen. Frische Blumen liegen am Fuße des wuchtigen, im unteren Teil fast quadratischen Obelisken, der die goldenen Lettern trägt: Workers of all Lands Unite. Der große und etwas dunkler gehaltene Kopf auf der Spitze des Monuments trägt einen dichten Bart und scheint unbekümmert in die Zukunft zu blicken. Er hatte den Mann sofort erkannt. Deshalb also. Einige Menschen starben nie. Für einen Augenblick sieht er sich im Geiste selbst als Redner vor einer Gruppe junger Leute.

Wusstet ihr nicht, dass Karl Marx in England begraben ist? Doch, das ist er, auf dem Highgate-Friedhof in London, auf dem viele Berühmtheiten liegen.

Diese Erkenntnis, die er früher erworbenem Wissen verdankt, nämlich die Einsicht in seinen momentanen Aufenthaltsort, obwohl er vermutlich noch nie hier war, registriert er mit einem gleichgültigen Schulterzucken. Das Wichtigste war, dass er sich gut fühlte und nicht von unangenehmen Gedanken gequält wurde. Die Schmerzen hinter den Schläfen gehörten der Vergangenheit an, waren nur eine Fata Morgana gewesen. Der Sand im Stundenglas rieselte leicht und lautlos durch die Verengung und eine ganze Wüste sorgte offenbar für Nachschub. Er geht weiter und wundert sich über den fernen Gesang, der an seine Ohren dringt. Er versucht, den monotonen Klang zu lokalisieren und entdeckt in einiger Entfernung ein frisch ausgehobenes Grab, vor dem ein Gruppe von Männern in langen Mänteln Aufstellung genommen hat. Er ahnt die dunklen Anzüge, die sich darunter verbergen. Ein weißer Sarg wird langsam in die Erde gesenkt und der Pfarrer spricht mit eintöniger Stimme ein paar Worte. So früh am Morgen? Es war noch nicht einmal zehn Uhr.

Er nähert sich langsam und reiht sich unauffällig in die hintere Reihe des halbrunden Kreises ein. Die Männer machen ihm Platz, ohne ihn anzusehen. Nachdem man Erde auf den Sarg geworfen hat, tritt der Pfarrer ein paar Schritte zurück, und ein glatzköpfiger Mann lässt eine schneeweiße Blume in die Öffnung fallen. Danach rezitiert er einige Strophen von Thomas Hardy, die ihm bekannt sind. Eine lautet folgendermaßen:

Love laid his sleepless head

on a thorny rosy bed;

and his eyes with tears were red,

and pale his lips as the dead.

Als am Ende noch ein Kirchenlied gesungen wird, kommt ihm alles wie eine Komödie vor, ein gespieltes Begräbnis, eine Fernsehproduktion. Nur die Kameras fehlen. Vielleicht liegt das an dem Mann, der neben ihm steht und im Gegensatz zu ihm den Text nicht beherrscht. Er hat eine bürstenartige Frisur, nicht eine Träne in den Augen und brummt unbeschwert mit. Als werde die Trauer über den Verstorbenen von einer großen Portion Erleichterung aufgewogen. Als die Töne verklingen, dreht ihm der Mann sein Gesicht zu, setzt seinen Hut auf – er ist einer der wenigen mit Kopfbedeckung – und sagt leise:

»Jaspar war schon ein netter Kerl, doch auf Dauer ziemlich anstrengend.«

Er nickt geflissentlich, wie ein Mitwisser, obwohl er den Toten überhaupt nicht kennt. Doch inzwischen hat er alle Hemmungen abgelegt und sich entschieden, dass ihm diese Menschen sympathisch sind. Jeder Einzelne macht einen freundlichen Eindruck, und man spürt deutlich, dass nicht alle miteinander bekannt sind. Was ihm ermöglicht, sich selbst in diesen Kreis zu integrieren, ohne aufzufallen. Bei den meisten Begräbnissen traf man schließlich auf Menschen, die man nie zuvor gesehen hatte, weil allein der Verstorbene Kontakt zu ihnen gepflegt hatte. Als könne sein Nebenmann Gedanken lesen, fährt er mit tiefer Stimme fort:

»Kannten Sie ihn gut?«

»Nein ... das will ich nicht gerade behaupten. Ich ...«

»Eine lose Verbindung?«

»Ja, so kann man es ausdrücken.« Er hat das Gefühl, sein Englisch hört sich nicht gerade perfekt an.

»Aber Sie kommen doch noch auf einen Happen mit in den Pub?«

»Nun ...« Dann nickt er – hungrig – und hofft, dass es sich nicht um dasselbe Lokal handelt wie gestern Abend.

Der Mann mit dem Hut scheint auch nur wenige der anderen Männer zu kennen. Gemeinsam gehen sie einen breiten Kiesweg entlang, langsam den anderen folgend.

»Mein Name ist Walter Webb. Aber alle nennen mich Bobby.«

Er drückt dem Fremden die Hand. Sie fühlt sich fest und warm an, und es bereitet ihm keine Probleme, eine eigene Identität zu erfinden: »Ich heiße Gordon Bell.«

»Sie wurden längere Zeit im Ausland eingesetzt?«

Das muss an meinem Tonfall liegen, denkt er. Die phonetische Seite der Sprache beherrschte er wohl doch nicht so gut, wie er geglaubt hatte. »Ja, ich habe große Teile meines Lebens in anderen Teilen Europas verbracht.«

»Jaspar ist Gott sei Dank nicht viel herumgereist«, brummt Bobby, der in seinem Alter ist. »Trotzdem haben wir fast drei Jahre gebraucht, um ihm auf die Schliche zu kommen.«

So, wie Bobby redete, konnte es sich gut um einen jetzigen oder ehemaligen Polizisten handeln.

Außerhalb des Friedhofs bleiben sie eine Weile auf dem Bürgersteig stehen, und erst jetzt bemerkt er, dass sich eine Frau unter ihnen befindet. Als Witwe des Verstorbenen kam sie kaum in Betracht, eher schon als Repräsentantin des Begräbnisunternehmens, denn ihr Gesicht unter den geschwungenen blonden Haaren lächelt mit professioneller Freundlichkeit, während sie auf die Armbanduhr blickt und die Straße hinaufzeigt. In Richtung des Lokals, nimmt er an. Viele folgen ihr, als sie sich in Bewegung setzt, wohingegen andere nicken und in die entgegengesetzte Richtung davoneilen. Einige steigen in ihre Wagen. Als sie ein Schild mit der Aufschrift The White Horse Inn erreichen, hat sich die Gruppe auf zwölf Männer reduziert. Was sie angeht, hatte er richtig vermutet. Sie deutet auf den Eingang und verabschiedet sich. Er weiß nicht genau, warum, doch es gibt ihm einen Stich, als sie davongeht, obwohl er sie nie zuvor gesehen hat.

Für die Gesellschaft war ein eigener Raum reserviert, in dem einige Vierpersonentische mit weißen Decken stehen. Er folgt Walter Web, der ihn, nachdem er den Hut abgelegt und seine abstehenden Haare geglättet hat, mit zwei anderen Männern bekannt macht, die sich zu ihnen an den Tisch setzen. Auch sie in mittlerem Alter.

»Darf ich euch Gordon Bell vorstellen«, sagt Bobby zu ihnen, »einen Kollegen von uns. Früher auf der anderen Seite des Kanals tätig, nicht wahr?«

Er antwortet nicht, sondern gibt ihnen einfach die Hand. Der älteste, ein stattlicher, nach Knoblauch riechender Kerl, dessen Brille an einer Schnur um den Hals hängt, sagt, er heiße Frank Tipton, während der andere so nuschelt, dass er nur den Vornamen aufschnappt – Arthur. Ein seltsamer Typ mit hellblauen Augen und rostrotem Haar, dessen Jackett so unförmig aussieht, als habe er vergessen, den Kleiderbügel herauszunehmen. Sein Händedruck ist schlaff, beinahe unwillig. Vielleicht machte er sich nichts aus neuen Bekanntschaften. Dennoch ist es Arthur, der sich zuerst an ihn wendet, während ihm beim Sprechen Speicheltropfen aus dem Mundwinkel fliegen:

»War doch eine ganz nette Zeremonie, findest du nicht, Gordon?«

»Doch, doch.«

»So wie Jaspar selbst: einfach, grau, diskret und effektiv.«

»Stimmt.«

»Effektiv vor allem für die anderen!«

Jetzt glaubt er, den Zusammenhang zu verstehen. Anfangs hatte er vermutet, es handele sich um eine ehemalige Fußballmannschaft, doch es war wohl ein Zufall, dass sie zu elft waren. Arthurs letzte Bemerkung legte die Vermutung nahe, dass jeder auf seine Weise dazu beigetragen hatte, das Netz um einen Abtrünnigen enger zu ziehen, womöglich um einen Doppelagenten, der sie verraten hatte. Er malt sich aus, Jaspar habe für den britischen Geheimdienst gearbeitet und gleichzeitig dem Feind Informationen zugespielt. Die Bemühung um besondere Diskretion konnte auch der Grund für die frühe Stunde der Beisetzung sein.

Eine Kellnerin erkundigt sich, was sie trinken wollen. Die Antwort erschallt beinahe im Chor: Bier! Er selbst zögert am längsten, bis Bobby ihm mitteilt, die »Firma« bezahle. Da bestellt auch er einen Pint. Eine Platte mit Käse und Salat wird gebracht, gefolgt von einer weiteren mit Sandwiches. Das Essen ist reichlich, doch ganz plötzlich hat er die unheimliche Assoziation, es handele sich um ein Komplott, und die Männer um ihn herum seien hinterhältige Gegenspieler, die alles nur arrangiert hätten, um ihn auf die Probe zu stellen. Ohne dunklen Anzug, mit seinem olivgrünen Blazer und der braunen Hose, hob er sich ohnehin von der Gruppe ab.

Esse ich selbst oder lässt mich jemand essen?

Glücklicherweise langt Frank Tipton genauso zu wie er, und niemand scheint es merkwürdig zu finden, dass er sich so freimütig bedient. Nachdem die Kellnerin den Raum wieder verlassen hat, schlägt Arthur an sein Glas und erhebt sich, während die Gespräche an den übrigen drei Tischen widerwillig verstummen.

»Jaspar Goodwin«, beginnt Arthur, während er einen regelrechten Speichelregen über die Tischdecke schickt, »war ein feiner Kerl, bis er der klassischen Versuchung erlag.«

Die Männer nicken.

»Nachdem wir eine Menge Spaß miteinander hatten und die Sache wirklich so raffiniert eingefädelt worden war, dass jeder von uns hätte in die Falle tappen können, vergeben wir ihm großherzig den schicksalsschweren Seitensprung, in jedem Fall in dieser Stunde des Abschieds. Das meiste ist heute längst Geschichte; die Zeiten haben sich geändert. Unser pensionierter Kollege Frank Tipton, der hier an meiner Seite sitzt, hat sogar Andeutungen gemacht, dass es womöglich nicht einmal erforderlich gewesen wäre, ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Wie auch immer, liebe Freunde, lasst uns Jaspar ein freundliches Andenken bewahren und ein letztes Mal zu seinen Ehren das Glas erheben.«

»Auf Jaspar«, schallt es fast unisono durch den Raum.

»Der Rest ist Schweigen«, schließt Arthur vielsagend, bevor er Platz nimmt und sich den Schaum von den Lippen wischt.

»Ja, die Zeiten haben sich wirklich geändert«, stimmt Walter Webb alias Bobby zu. »Arthur und ich sind wohl die einzigen in diesem Kreis, die immer noch aktiv sind. Wie läuft’s in der Kunstbranche, Frank?«

Tipton nimmt sich ein weiteres Sandwich, bevor er antwortet. »Ganz passabel. Die Galerie wirft zwar nicht viel ab, aber um die Wahrheit zu sagen, bin ich froh, dass es keine Verwendung mehr für mich gab und ich an die Luft gesetzt wurde. Ich hatte ohnehin Blut und Wasser geschwitzt, aus Angst, die Handelsdelegation würde spitzkriegen, dass ich mehr war als ein gewöhnlicher Kulturreferent. Wie ist es dir ergangen, Gordon?« Er setzt sich die Brille auf, blinzelt jedoch über den Rand. Die scharfen grauen Augen hätten einem wohlwollenden Untersuchungsrichter gehören können.

»Auch mich hat man seit einiger Zeit aus dem Spiel genommen«, hört er sich sagen und hofft, die Phrase klinge überzeugend.

»Und trotzdem hat man dich über Jaspar informiert?«, kommt es von Arthur – er wirkt beinahe überrascht.

»Ja, aber das war reiner Zufall. Nachdem ich mich entschieden hatte, wieder nach England zu ziehen, habe ich einen alten Kontakt aufgesucht, um mich zu verabschieden, und der hatte von Jaspars Ableben erfahren. Ich bin allein aus alter Verbundenheit hierher gekommen.« Obwohl er sich auf dünnem Eis bewegt, kommen ihm die Worte leicht über die Lippen, und seine Lüge bereitet ihm keine größeren Schwierigkeiten.

»Lebt deine Familie in London?«, erkundigt sich Tipton.

»Nein, und ich habe auch nur wenige Freunde nach den vielen Jahren auf dem Kontinent.«

»Hast du einen Job?«

Er denkt gut nach, bevor er antwortet. Vielleicht hatte Frank Tipton, der Galerist, nicht nur eine Vergangenheit als Dolmetscher, sondern auch Erfahrung im Führen von Verhören. »Ich werde mir über kurz oder lang was suchen müssen. Da, wo ich herkomme, ist die Arbeitslosigkeit mit am höchsten in ganz Europa. Das war der Grund, warum ich zurückgekehrt bin.«

Er spürt die Neugier der anderen, aber die macht ihm nichts aus. In diesem Augenblick ist ihm sonderbar leicht ums Herz. Entweder es funktionierte oder es funktionierte nicht. Im zweiten Fall verabschiedete er sich einfach und probiert etwas anderes.

»Was kannst du?« Nach dem Essen hatte sich Tipton eine karottendicke Zigarre angesteckt.

»Nicht viel. Ich habe immer auf offenem Feld operiert.« Er hofft, den richtigen Jargon getroffen zu haben.

Es scheint so, denn Tipton lächelt wehmütig. Dann sagt er, nicht ohne bitteren Unterton: »Dann hat es wohl wenig Sinn, Arthur um eine Rumpelkammer in der Curzon Street zu bitten. Aber das hast du sicher vorher gewusst.«

»Tja, mit Cambridge kann ich leider nicht dienen.«

Die Antwort lässt sowohl Arthur als auch Bobby zu Boden blicken. Sie sind immer noch »drin«, doch es schwant ihm, dass die goldenen Zeiten vorbei und die Plätze heutzutage umkämpft sind. Keiner von ihnen deutet auch nur die Möglichkeit an, ihm aus der Klemme zu helfen. Sein Blick fällt auf ein schwarzes Klavier, das an der Wand steht. Eine schwache Erinnerung dringt in sein Bewusstsein und beinahe automatisch hört er sich sagen:

»Aber ich kann improvisieren.«

Webb schaut ihn verwundert an. »Denkst du an die Nachrichtenabteilung? So etwas erfordert heutzutage umfangreiche Kenntnisse.«

»Ich spreche von Musik.« Er ist sich nicht mehr so sicher, ob ihm die Männer sympathisch sind, aber möglicherweise können sie hilfreich sein.

»Bist du so ein Altrocker?«

»Wenn ich mich nicht auf den Straßen herumtrieb, habe ich Jazz gespielt – am Klavier.«

Arthur zuckt seine Kleiderbügelschultern und blinzelt uninteressiert mit den hellblauen Augen, während Frank Tipton nachdenklich nickt. »Dann kann ich dir vielleicht doch helfen. Aber nur vielleicht. Wo wohnst du, Gordon?«

»Vorläufig nirgends. Ich bin erst heute Morgen in London angekommen.«

»Und was das Schlimmste ist ...«, vertraut er dem knoblauchduftenden Galeristen eine halbe Stunde später an, nachdem die Runde sich aufgelöst hatte und sie beide allein eine Straße namens Bredgar Road überqueren, »was das Schlimmste ist: Als ich bei Victoria Station ankam, entdeckte ich, dass jemand meine Brieftasche gestohlen hat.«

»Was du nicht sagst.«

»Es waren nur ein paar hundert Pfund darin, aber ...«

»Hast du die Polizei verständigt?«

»Nein. Was sollten die schon herausbekommen? Ich habe doch nicht den geringsten Anhaltspunkt. Leider war in der Brieftasche mein gesamtes Geld.«

Tipton wirkt nur mäßig beeindruckt. In seiner Zeit als Geheimagent hatte er sicher so manches erlebt. »Du bist also total abgebrannt«, stellt er fest.

»Das kann man wohl sagen. Während der Zugfahrt hatte ich mich eigentlich schon entschieden, das Begräbnis sausen zu lassen. Doch als mir klar wurde, dass ich nur noch ein bisschen Kleingeld in der Manteltasche hatte, habe ich die U-Bahn hierher genommen. Ich hatte eigentlich gehofft, irgendwelche alten Bekannten zu treffen, die mir unter die Arme greifen könnten. Aber die haben wohl schon dasselbe Schicksal erlitten wie Jaspar. Um ehrlich zu sein, kannte ich keine Menschenseele.«

»Jetzt kennst du zumindest mich«, sagt der andere jovial.

»Versteh mich bitte nicht falsch. Ich möchte dich nicht ausnutzen. Wir sollten uns jetzt verabschieden. Als freier Mitarbeiter habe ich keine Abfindung bekommen, nachdem mir mitgeteilt wurde, ich sei überflüssig geworden. Ich bin es gewohnt, mich durchzuschlagen und von der Hand in den Mund zu leben.«

Tipton zieht ihn schweigend am Ärmel und biegt nach links ab, als sie eine stark befahrene Straße erreichen. Sie sind in der Nähe der U-Bahn-Station Archway, die Tipton offensichtlich erreichen möchte. Gegen die Begleitung eines anderen ausrangierten Agenten hatte er offenbar nichts einzuwenden.

»Das hättest du Arthur oder Bobby gegenüber erwähnen sollen«, sagt er vorwurfsvoll.

»Ich hasse es, zu betteln.«

»Verstehe. Aber es ist wirklich ein Skandal, wie man uns behandelt, wenn unsere Zeit um ist. Eine Frührente hat die Königin für mich auch nicht springen lassen; darum bin ich gezwungen, ziemlich hart zu arbeiten, und kann dir leider auch nichts Besonderes anbieten. Nicht einmal den unterbezahlten Job eines Türstehers für meine kleine Galerie. Aber die Sache mit der Musik könnte vielversprechend sein. Vor allem brauchst du erst mal ein Dach über dem Kopf.«

Er hatte Frank Tipton schon seit einiger Zeit als echten britischen Gentleman eingestuft, der nicht ohne weiteres zuließ, dass ein unbekannter Kollege seine Karriere als obdachloser Bettler beendete. Daher riskierte er einen leichten Protest. Wenn er seinen Stolz zeigte und betonte, lieber die Selbstachtung wahren zu wollen, anstatt sich zu erniedrigen, würde er zweifellos den Mann in seinem Vertrauen bestärken.

»Es ist das Einfachste für uns beide, wenn ich mich ans Sozialamt wende.«

»So weit kommt’s noch!«, ist Tiptons spontane Antwort.

Auf dem Weg zur U-Bahn-Station zieht er sein Tagesticket aus der Tasche, während Tipton anscheinend eine Dauerkarte besitzt. Da der Zug ziemlich voll ist, sitzen sie einige Plätze voneinander entfernt, und als der Waggon in die Dunkelheit gleitet, legt er sich, ohne jede Angst, Folgendes zurecht:

Mein Name ist Gordon Bell. Ich bin gut fünfzig Jahre alt und wurde in Richmond, Yorkshire, geboren. Meine Eltern und eine jüngere Schwester kamen bei einem Brand ums Leben, als ich achtzehn war. Von da an war ich gezwungen, auf eigenen Beinen zu stehen. Ich studierte Musik und hielt mich mit Gelegenheitsjobs in verschiedenen Bars über Wasser. Nach dem Militärdienst bin ich nach Paris gegangen, wo sich damals viele Jazzgrößen aufhielten. Ich habe ihnen aufmerksam zugehört, sah aber selbst keine Chance, auch nur annähernd ihr Niveau zu erreichen. Dafür habe ich mich in ein Mädchen aus Heidelberg verliebt, der ich mich anschloss, als sie nach ihrem Studium nach Hause zurückkehrte. Nach ein paar Jahren war unsere Beziehung beendet und ich zog ins damalige West-Berlin. Fragt mich nicht, warum. Es war wohl die Suche nach Spannung und Abenteuer, die mich dorthin trieb. Während einer Jamsession mit ausländischen Musikern wurde ich von einem Engländer, der sich unter dem Publikum befand, gefragt, ob ich einen übergelaufenen Russen im Augen behalten könne. So nahm die Sache ihren Anfang. Der erste Auftrag zog den nächsten nach sich. Mehrere Jahre war ich in ganz Europa unterwegs und entschied mich erst in dem Moment, nach England zurückzukehren, als die Mauer fiel und ich begriff, dass meine Zeit um war. In diesem Augenblick befinde ich mich in der Londoner U-Bahn und bin in Begleitung eines bebrillten Herrn namens Frank Tipton. Er wird mir womöglich einen Job als Pianist und ein Dach über dem Kopf besorgen. Momentan habe ich nur eine Sorge: Kann ich wirklich Klavier spielen oder habe ich mir das nur eingebildet?

Bei Tottenham Court Road steigen sie um in die Central Line Richtung Holland Park.

»Verflucht!«, ruft Tipton aus, als sie wieder auf der Straße stehen. »Dein Koffer! Wir hätten zur Victoria Station fahren und ihn abholen sollen.«

»Den hole ich später.«

»Wie du willst.« Sein freundlicher Retter lächelt und zieht ihn mit sich. »Ich finde sicher jemand, der dich hinfahren kann. Meine Karre ist leider in der Werkstatt. Deshalb musste ich auch die ›Tube‹ nach Highgate nehmen.«

Tube, denkt Gordon Bell. So hieß die U-Bahn im Volksmund. Er konstatiert dies mit größter Selbstverständlichkeit; sein Zugehörigkeitsgefühl wächst. Er hat offenbar doch eine Beziehung zu dieser Stadt, die ihm vor vierundzwanzig Stunden noch völlig fremd schien. Tipton führt ihn über eine Straße, die Landsdowne Road heißt, und biegt wenig später nach rechts ab. »Jetzt sind wir im Herzen von Notting Hill«, sagt er, »aber das weißt du ja sicher.«

Ausnahmsweise kann er ehrlich antworten: »Ja, aber ich kenne mich in dieser Gegend nicht besonders gut aus.«

»Und dies ist meine Galerie.« Er macht eine ausgreifende Armbewegung.

Sie heißt Rendezvous und befindet sich, von anderen Geschäften eingerahmt, in einem langen weißen Steinhaus mit zwei Etagen. Tipton erklärt, der Name gehe auf einen armen Franzosen zurück, der ihm einst fünf Bilder in der Hoffnung überließ, er würde sie für ihn verkaufen. So hatte alles angefangen. In den zwei kleinen Schaufenstern hängen wenige Ölgemälde und ein paar Lithographien – für mehr ist auch kein Platz. Drinnen sind keine Kunden; die Frau, die hinter einer kleinen Schreibmaschine sitzt, steht auf und sagt mit weicher, freudiger Stimme:

»Da bist du ja schon, Frank. Ich dachte, du würdest erst in einigen Stunden wiederkommen.«

»Das dachte ich auch, aber irgendwie haben wir den alten Ton nicht mehr gefunden. Abgesehen von Gordon und mir.«

»Mary Tipton«, stellt sie sich vor und gibt ihm die Hand. Sie ist um die fünfzig und geschmackvoll geschminkt. Ihr Kleid ist grün wie ein Laubbaum im Frühling, was gut zu den kupferroten, hochgesteckten Haaren passt. »Sind wir uns schon mal begegnet?«

»Das glaube ich kaum. Mein Name ist Gordon Bell. Schön, Sie kennen zu lernen.«

»Du brauchst kein Blatt vor den Mund zu nehmen«, sagt Tipton lächelnd. »Sie haben ihn vor die Tür gesetzt, genau wie mich. Gordon ist heute Morgen in London angekommen und will sich nach einem langen Auslandsaufenthalt hier niederlassen. Dass er sich als erstes seine Brieftasche hat klauen lassen, zeigt nur, dass er wieder ein ganz normaler, anständiger Kerl geworden ist, der sich allerdings erst wieder an seinen zivilen Status gewöhnen muss.«

»Oh, das tut mir leid – das mit der Brieftasche, meine ich.«

»Könntest du dich für ein paar Minuten um Gordon kümmern, während ich telefoniere? Wir haben zwar vor einer Stunde gegessen, aber ich glaube, ein bisschen kaltes Huhn zum Lunch wäre keine schlechte Idee.«

»Und vielleicht etwas Salat?«

»Ganz deiner Meinung.«

Ihr Umgangston ließ auf eine intakte Beziehung schließen. Er folgt Mrs. Tipton in den ersten Stock, wo sie ihm seinen Anorak abnimmt. Die Wohnung ist nicht besonders groß, aber für englische Verhältnisse ausgesprochen gemütlich eingerichtet. Die wenigen Bilder an den Wänden entsprachen seinem Geschmack, und die dicht besetzten Buchregale legten die Vermutung nahe, dass die Tiptons nicht sonderlich viel Zeit vor dem Fernseher verbrachten, der zudem verstaubt und schwer zugänglich in einer Ecke stand.

»Nehmen Sie Platz«, sagt sie, »oder schauen Sie sich gerne um, wenn Sie möchten. Viel mehr zu sehen gibt es allerdings nicht. Wir haben nur drei Zimmer plus Küche. Die übrigen Räume benutzen wir als Werkstatt und Lager.«

Er nickt und weiß nicht recht, was er sagen soll, plötzlich allein mit einer fremden, nach Parfüm duftenden Frau. Als er ans Fenster tritt, das zur Straße hinausgeht, erblickt er sich kurz in einem mit Ornamenten verzierten Spiegel. Er erkennt sein Gesicht, muss jedoch verzweifelt feststellen, wie ungepflegt er aussieht. Die dunklen Haare hängen ihm strähnig in die Stirn, und seit mehr als vierundzwanzig Stunden hat er sich nicht rasiert, was einem Mann mit kräftigem Bartwuchs deutlich anzusehen ist. Herrgott, er hatte ja nicht einmal sein Rasierzeug bei sich! Während er vor einem Barschrank steht und ihr den Rücken zukehrt, holt er rasch seinen Kamm aus der Hosentasche und zieht ihn ein paar Mal durch seine Haare. Hofft, dass er nicht nach Parkbank und Penner riecht.

»Möchten Sie vielleicht einen kleinen Drink? Einen Sherry? Whisky?«

Er denkt an die beiden Biere, die er bereits zu ziemlich früher Stunde getrunken hatte, doch aus purer Höflichkeit lehnt er nicht ab. »Einen kleinen Sherry, sehr gern.«

»Sie sind zu Weihnachten nach Hause gekommen?«

»Ja, es ... hat sich so ergeben.«

»Frank und ich haben einen erwachsenen Sohn – Martin. Ich hoffe, er bleibt in Edinburgh, mitsamt seiner Verlobten! Sie studiert Psychologie und meint, sie müsse uns analysieren. Ist das nicht schrecklich?«

»Nun ...«

»Haben Sie Familie hier?«

»Nein, meine Eltern sind schon vor Jahren gestorben.«

»Aber Sie sind verheiratet?«

Er weiß nicht, was er antworten soll.

»Außerhalb von England«, sagt sie lächelnd, »nachdem Sie den Ring an der rechten Hand tragen.«

Während sie ihm das Glas reicht, versteht er, was sie meint. Der Anblick des Rings erschreckt ihn und lässt ihn vermuten, dass es womöglich noch viele Dinge gab, die ihm ein Rätsel waren. Zunächst einmal galt es, sich aus der heiklen Situation zu befreien, und er fühlt sich dazu in der Lage: »Wir haben uns getrennt. Deswegen bin ich hierher gekommen. Ich wollte alle Brücken hinter mir abbrechen.«

»Dann sollten Sie auch den Ring ablegen, finde ich.«

Vielleicht war dies ein gut gemeinter Rat von Mrs. Tipton, doch ihre Worte ärgerten ihn ein wenig. Andererseits gefiel ihm ihre Offenheit, die ein gewisses Vertrauen zwischen ihnen entstehen ließ. »Ich habe es versucht, aber er ist wie festgewachsen.«

»Zum Wohl«, sagt sie lächelnd.

Dann teilt sie ihm mit, dass die Galerie geschlossen bliebe, während sie zu Mittag essen würden. Sie geht in die Küche und beginnt klirrend mit Tellern und Besteck zu hantieren. Er stellt sein Glas auf die Fensterbank und versucht sich den Ring abzudrehen, doch der lässt sich nicht ohne weiteres entfernen. Vermutlich hatte er ihn schon seit Jahren am Finger. Er gibt auf, schaut auf die Straße und sagt sich, der Ring könne warten. Tiptons Frau würde es sicherlich kommentieren, wenn sie bemerkte, dass er ihre Empfehlung sogleich befolgt hatte. Er war also verheiratet und zum ersten Mal an diesem Tag spürt er ein leichtes Prickeln hinter den Schläfen. Wenn er den Schmerz vermeiden wollte, durfte er nicht an die Vergangenheit denken. Im Grunde hat er auch kein Interesse mehr daran, in der rätselhaften, nebulösen Vergangenheit herumzustochern, nicht in diesem düsteren Raum, dessen Möbel von Schonbezügen bedeckt waren.

Ich bin Gordon Bell, ein früherer Agent. Gordon Ernest Bell, um genau zu sein.

Etwas später kommt Frank nach oben. Seine Brille hängt wieder an einer Schnur vor seiner Brust und seine grauen Augen blitzen:

»Ich habe Brian nicht erreicht, aber da Donnerstag ist, gehe ich davon aus, dass er heute Abend im Walker vorbeischaut, seiner Stammkneipe.«

»Ist er ... einer von uns?«

»Nein, Brian hat keine Ahnung von meiner Vergangenheit. Er ist Hornist bei den Londoner Symphonikern, aber in seiner Freizeit macht er ein bisschen Jazz für Leute, die ihm zuhören wollen. Ich gehöre zu dieser exklusiven Schar, und es wird mir eine Ehre sein, dich zu empfehlen.«

»Das ist sehr nett von dir, Frank, aber wir wissen doch beide nicht, ob mein musikalisches Niveau ausreicht.«

»Diese Beurteilung überlasse ich natürlich Brian. Solltest du ihn in den Schatten stellen, wird er dir ein Engagement bei Ronnie Scotts vorschlagen. Im anderen Fall wird er dir eine zweitklassige Pianobar empfehlen, in der du mit einer Schale Pistazien als Honorar Vorlieb nehmen musst. In solchen Fragen ist er von Grund auf ehrlich.«

»Vielleicht sagt ihm mein Stil gar nicht zu.«

»Das sehen wir dann schon. Hauptsache, er kann dir ein Dach über dem Kopf besorgen. Er hat wirklich die verschiedensten Verbindungen. Wenn alle Stricke reißen, schläfst du einfach weiter in Martins Zimmer, bis er mit seiner aufdringlichen Verlobten aufkreuzt.«

Er sollte ihr Gast sein. Gordon Bell fehlen die Worte. Obwohl er nach der Nacht auf der Parkbank ziemlich ungepflegt wirkt, machte er auf wildfremde Menschen also einen so vertrauenswürdigen Eindruck, dass sie bereit waren, ihm zu helfen. Oder hatte seine heruntergekommene Erscheinung bloß ihr Mitleid geweckt? Oder – und diese Begründung scheint ihm am wahrscheinlichsten – fühlte sich der Galerist einfach verpflichtet, einem Mann zu helfen, dessen Schicksal er teilte.

»Ich möchte deiner Frau und dir keine Unannehmlichkeiten bereiten«, sagt er schließlich und meint es ehrlich.

»Davon kann gar keine Rede sein«, sagt Frank lächelnd und fügt bekräftigend hinzu: »Ich versuche nur, mich in deine Lage zu versetzen und dich für das abweisende Verhalten von Arthur und Bobby zu entschädigen. Wenn ich mir vorstelle, ohne einen Penny in mein Heimatland zurückzukehren und dann von einem Arbeitgeber abgewiesen zu werden, dem ich jahrlang mit großem persönlichem Risiko gedient habe, dann würde auch ich all meine Hoffnung darauf setzen, dass es zumindest einen Kollegen gäbe, der bereit wäre, mir zu helfen. Sie sollten sich schämen, die Drecksäcke in der Curzon Street!«

Während des Lunchs, das sehr viel reichhaltiger ausfällt, als es die Ankündigung von kaltem Huhn und Salat hatte erwarten lassen, ziehen die Gastgeber Gordon mühelos in ein Gespräch hinein. Sie unterhalten sich lebhaft und entspannt über alltägliche Dinge, sind sich einig, dass London nicht mehr das ist, was es einmal war, ohne sich jedoch vorstellen zu können, an einem anderen Ort zu leben. Zwischenzeitlich bringen sie es sogar fertig, ihn die Situation vergessen zu lassen, in der er sich befindet. Das Begräbnis auf dem Highgate-Friedhof erwähnen sie mit keiner Silbe. Erst als sich Frank eine Zigarre anzündet und er dankend ablehnt – er bevorzuge seine Zigaretten –, wechselt das Ehepaar ein paar Worte hinsichtlich des Geschäfts.

»Calthorpe war hier und hat sich das Bild von O’Malley angeschaut.«

»Angeschaut ... und ist wieder gegangen?«

»Er war ziemlich gereizt und fand den Preis übertrieben.«

»Der alte Geizhals.«

»Er wird schon wieder kommen.«

»Wollen wir’s hoffen, damit zu Weihnachten auch was auf dem Gabentisch liegt. Wie steht’s mit dir, Gordon? Interessierst du dich für bildende Kunst?«

»So einigermaßen. Zumindest kann ich einen Constable von einem Turner unterscheiden.«

Der Wirt nickt, ohne das Thema zu vertiefen. Er wirft einen Blick auf seine Armbanduhr. »Herrje, es ist schon nach zwei! Ich geh runter und schließ wieder auf.«

Plötzlich kommt er sich überflüssig und müde vor und würde seine Gastgeber am liebsten fragen, ob sie ihm für ein paar Stunden Martins Bett zur Verfügung stellen könnten. Aber die wussten schließlich nicht, dass er die Nacht auf einer Holzbank am Rand von Hampstead Heath verbracht hatte. Außerdem hatte Frank andere Pläne mit ihm:

»Ich nehme an, dass du langsam deine Sachen vermisst. Findest du allein zur Victoria Station?«

»Ja, ja, natürlich ... ein Tagesticket habe ich auch schon.«

»Das ist aber auch so ziemlich alles, was du besitzt, oder?«

Er nickt. Zum ersten Mal hat er ein wirklich beklemmendes Gefühl.

»Vielleicht solltest du ein paar Kleinigkeiten einkaufen. Hier hast du einen Fünfziger, als Vorschuss auf dein Pianistenhonorar. Meinst du, das reicht?«

»Vielen, vielen Dank, aber das kann ich nicht ...« Er unterbricht sich und fügt dreist hinzu: »Angenommen ich wäre ein Schwindler und käme nicht zurück.«

Da grinst Frank Tipton breit und blinzelt mit beiden Augen über die Brillenkante hinweg. »In diesem Fall würde der Glaube an meine Menschenkenntnis schweren Schaden nehmen.«

Nachdem er auf der Landsdowne Road um die Ecke gebogen ist, hält Gordon Bell an und zieht den Stadtplan aus seiner Jackentasche. Faltet ihn auseinander und findet die Gegend um Notting Hill. Er hat das vage Gefühl, die Portobello Road liege ganz in der Nähe, was sich als richtig erweist. Wenn er in die entgegengesetzte Richtung ging und sich rechts hielt, würde er nach ein paar Häuserblocks auf sie stoßen.

Die Luft ist etwas milder geworden, und die Müdigkeit, die ihn vor einer Weile befallen hatte, ist verschwunden. Auch seine Gedanken scheinen sich zu klären. Er weiß, dass ihm seine neue Existenz keine ernsthaften Probleme bereitet, solange er nicht versucht, sein Gedächtnis mit Fragen zu malträtieren, wie er eigentlich in diese Situation geraten war. Seine Schritte federn beinahe, während er lächelnd die lange Marktstraße wiedererkennt. Er mag die Geschäftigkeit und das Stimmengewirr um ihn herum, geht von Stand zu Stand und betrachtet die feilgebotenen Waren: Jeans, Küchenartikel, Lampenschirme, Toaster, Militärjacken, Bilder, Briefmarken, Münzen, Fußballschals, Schaukelpferde, Krimskrams jeder erdenklichen Art, Wollteppiche, Klobürsten, Personenwagen, künstliche Blumen, Mausefallen, Säbel und Vasen – ein schier unerschöpfliches Sammelsurium menschlicher Erzeugnisse.

Schließlich findet Gordon, wonach er sucht: einen abgenutzten grauen Koffer mittlerer Größe mit einem intakten Zahlenschloss. Er handelt ihn auf drei Pfund herunter, was den Araber hinter dem Stand veranlasst, ihm einzureden, er sei ein Glückspilz. Woanders ersteht er noch ein Hemd, Unterwäsche, Socken und Rasierutensilien. Er verstaut die Neuerwerbungen im Koffer, worauf sein Blick von hohen Bücherstapeln festgehalten wird. Sofort beschließt er, kein einziges Buch zu kaufen, bleibt jedoch eine Weile stehen und studiert die Titel: eine Heerschar ihm nicht bekannter Autoren, aber auch Greene, Byatt, Austen, Weldon und Conan Doyle. Als er einen Roman von John le Carré entdeckt, beginnt er leicht zu zittern. Er blättert ein wenig darin, während die eigenartige Körperreaktion anhält, bis er das Buch wieder aus der Hand legt und weiterschlendert. Das Buch schien ihn an seine vorgebliche Agentenexistenz zu erinnern.

In einer gut geheizten Bar legt er die Jacke ab, trinkt eine Tasse Kaffee und zündet sich eine Zigarette an. Um glaubhaft erzählen zu können, er sei an der Victoria Station gewesen, lässt er ein paar Stunden verstreichen, bevor er zur Galerie Rendezvous zurückkehrt. Er schaut in eine liegen gebliebene Zeitung, registriert das Datum, den 11. Dezember 1997, und durchforstet noch mal alle seine Taschen. Abgesehen von Stadtplan, Zigaretten, U-Bahn-Ticket, Kamm und Taschentuch findet er knapp dreißig Pfund, den Restbetrag des Geldes, das ihm ein gewisser Frank Tipton vorgeschossen hatte. Das und nur das war in diesem Moment von Belang.

Mein Name ist Gordon Bell. Ich bin gut fünfzig Jahre alt und wurde in Richmond, Yorkshire, geboren. Meine Eltern und eine jüngere Schwester kamen bei einem Brand ums Leben, als ich achtzehn war. Von da an war ich gezwungen, auf eigenen Beinen zu stehen ... Dass ich nicht weine, liegt daran, dass ich keine zwingende Notwendigkeit dazu sehe.

Schwarz vor Augen

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