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Anderen Menschen ihre Sorgen

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aufzubürden – Sorgen, die sich jederzeit in Wohlgefallen auflösen konnten – war für Linda Blix eine unangenehme Pflicht, die sie lange hinausgezögert hatte. Doch am späten Nachmittag, nachdem sie ein weiteres Mal verzweifelt die Gegend rund um das Hotel abgesucht hatte, entschloss sie sich, in Oslo anzurufen. Einen Augenblick hatte sie sich eingebildet, ein Mann in weiter Ferne, der offensichtlich in großer Eile war, sei Steinar, bis sie sich erinnerte, dass er seinen Hut nicht bei sich hatte. Die bedrückende Angst sowie das Bedürfnis nach Trost ließen ihr keine Wahl mehr. Zunächst hätte sie natürlich Steinars Angehörige informieren sollen, sie rief jedoch als erstes ihre Mutter Ragnhild an.

Diese Reihenfolge hatte sie, ganz gleich, worum es sich handelte, jahrelang praktiziert, obwohl sie ihre Schwiegereltern mindestens ebenso schätzte. Ihre Mutter machte hin und wieder Andeutungen über Steinar, die ihr ganz und gar nicht gefielen. Sogar während der Gerichtsverhandlung hatte sie ihre Skepsis hinsichtlich mancher seiner Aussagen anklingen lassen: »Manchmal habe ich das Gefühl, seine Phantasie geht mit ihm durch. Vielleicht hat er mehr die Anlage zum Dichter als zum Übersetzer.« Sie hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie Steinars Arbeit als ein wenig minderwertig betrachtete, »seine gute Ausbildung in Betracht gezogen«. Doch ihr Verhältnis zu ihm war von ausgeprägter Ambivalenz. Als das Urteil erging, nur fünf Tage nach seiner Inhaftierung, war kein Blumenstrauß so groß und prächtig gewesen wie ihrer, und die Art ihrer Umarmung hatte keinen Zweifel an der aufrichtigen Liebe zu ihrem Schwiegersohn aufkommen lassen. Außerdem hatte sie immer ihrer Begeisterung über ihn als Mann Ausdruck gegeben, denn er war ganz ohne Frage ein Frauentyp. In diesem Punkt war Linda mit ihr einer Meinung. Als ihr Vater starb, war die Mutter in ein tiefes Loch gefallen.

»Ragnhild Åsheim.«

»Hallo, Mama. Hier ist Linda. Etwas ... Sonderbares ist passiert«, begann sie vorsichtig, um ihr die Nachricht so schonend wie möglich beizubringen. Als die Mutter jedoch keine Reaktion zeigte, fügte sie hinzu: »Etwas Schreckliches.« Es wurde ein langes Gespräch, in dessen Verlauf sie zeitweilig bereute, überhaupt angerufen zu haben. Die Mutter hatte sich natürlich etwas anderes erwartet, wenn ihre Tochter sich schon einmal dazu bequemte, sie anzurufen – positive Mitteilungen, wie schön sie es in London hätten, nachdem all die schrecklichen Vorfälle der Vergangenheit endlich in den Hintergrund getreten waren. Stattdessen bekam sie zu hören, Steinar sei seit mehr als vierundzwanzig Stunden verschwunden. Ein ums andere Mal musste Linda erzählen, was in dem Pub in Kensington, nur wenige Häuserblocks vom Hotel entfernt, passiert war. Genauer gesagt, was passiert sein könnte. Anfangs wirkte die Mutter erstaunlich ruhig, eher skeptisch als besorgt.

»Hat er vielleicht einen Nervenzusammenbruch erlitten?«

»Nie im Leben.«

»Niemand, der bei Verstand ist, verschwindet einfach so mir nichts, dir nichts.«

»Nein.«

»Und niemand entführt einen erwachsenen Mann am helllichten Tage, Linda.«

»Das weiß ich.«

Ihr Magen hatte sich zusammengezogen und wollte sich nicht wieder entspannen, nur weil ihre Mutter versuchte, den Fall zu bagatellisieren. Begriff sie denn nicht, dass es sich um ihren eigenen Schwiegersohn handelte?

»Ein erwachsener Mann lässt sich auch nicht so einfach entführen, zumindest nicht ein so kräftiger Kerl wie Steinar. Ihm muss plötzlich übel geworden sein oder so etwas. Sagtest du nicht, dass er ohne Brieftasche und Ausweis ist? Die Leute, die sich möglicherweise seiner angenommen haben, wissen also gar nicht, an wen sie sich wenden sollen. Vielleicht ist er auch nicht in der Lage, sich verständlich zu machen.«

»Steinar? Der spricht doch Englisch wie ein Einheimischer!«

»Schon, aber nicht, wenn er bewusstlos ist. Es könnte doch sein, dass ihn jemand niedergeschlagen hat.«

Die Mutter hätte ebenso gut ihr einen Schlag versetzen können, denn an diese Möglichkeit hatte sie auch gedacht und besaß darüber hinaus genug Phantasie, sich den schlimmsten Fall auszumalen: dass Steinar nach einem missglückten Raubüberfall leblos in einer entlegenen Gasse lag oder dass ihn jemand in ein Haus gelockt hatte, aus dem es kein Entrinnen gab. Diese Gedanken bereiteten ihr Übelkeit und ließen ihren Pulsschlag unkontrolliert in die Höhe schnellen. Sie hatte gehofft, Ragnhild würde sie beruhigen und ihr Erklärungen anbieten, die den schrecklichen Druck, der auf ihr lastete, mindern konnten. Doch stattdessen nahm die Erregung der Mutter im selben Maße zu, in dem ihr die abscheulichsten Möglichkeiten in den Sinn kamen.

»Möchtest du, dass ich mit dem nächsten Flugzeug zu dir komme? Zusammen könnten wir vielleicht ...«

»Nein, nein. Ich vertraue der Polizei. Bleib lieber in der Nähe des Telefons. Ich werde Berit und Aksel anrufen. Vielleicht kann Aksel irgendwas ausrichten.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass die norwegische Polizei an solchen Ermittlungen beteiligt wird.«

»Keine Ahnung. Was hältst du denn von der Sache?«

Es vergingen einige Sekunden, bevor die Mutter antwortete, und zum ersten Mal hatte ihre Stimme einen misstrauischen Klang. »Das weißt du ganz genau. Stell dir nur mal vor, dass Steinars Verschwinden etwas mit der Sache zu tun haben könnte. Stell dir vor ...«

Linda wurde wütend. Ihre Mutter deutete doch tatsächlich an, Steinar könne sich aus dem Staub gemacht haben. »Wie kannst du es wagen, Mama!«

»Ich versuche nur, realistisch zu sein. Es ist doch schließlich noch gar nicht so lange her, dass er ...«

»Mama!«

»Es nützt nichts, den Kopf in den Sand zu stecken, mein Schatz. Ich behaupte ja nicht, dass Steinar schuldig ist, im Gegenteil. Aber angenommen, die Belastung war zu groß für ihn ... Vielleicht hat er ja, wie soll ich sagen ... einfach die Nerven verloren.«

Sie konnte sich später nicht mehr daran erinnern, was sie entgegnet hatte, doch das Gespräch endete gewissermaßen versöhnlich, nachdem die Mutter geweint und sie angefleht hatte, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, wie unwahrscheinlich sie ihr auch erscheinen würden.

Bevor sie den Hörer erneut zur Hand nahm, um ihre Schwiegereltern anzurufen, warf sie einen Blick auf den Aschenbecher. In ihm türmten sich die Kippen wie zu Hause nach einer Party. Trotz der Leere in ihrem Kopf, dem schmerzenden Hals und dem Stein in ihrem Bauch, der sie zum Schwitzen brachte, zündete sie sich mit zitternden Händen eine weitere Zigarette an. Glücklicherweise war Aksel am Apparat, denn Berit Blix neigte genau wie ihre Mutter dazu, erst einmal ihrem Pessimismus freien Lauf zu lassen und dann in Tränen auszubrechen, statt ein tröstliches Wort zu finden.

»Hier ist Linda. Um es gleich zu sagen: Ich habe Steinar aus den Augen verloren. Hier in London. Ich habe keine Ahnung, wo er steckt. Hat er sich vielleicht bei euch gemeldet?«

Aksel verneinte. Sie spürte sofort, wie sehr er darum kämpfte, seiner Stimme einen neutralen Klang zu geben, was ihm auch beinahe gelang. Er war dreiundsiebzig und verfügte über eine solide Lebenserfahrung, die sowohl ihm als auch seiner Familie zugute kam. Nachdem sie ihn über die näheren Umstände informiert hatte, stellte er keine waghalsigen Hypothesen auf, sondern bat sie, die Ruhe zu bewahren und der Arbeit der Polizei zu vertrauen. »Ich kenne einen Mitarbeiter der norwegischen Botschaft in London. Wenn sich zeigen sollte, dass man den Leuten von Scotland Yard ein bisschen Feuer unterm Hinter machen muss, dann wird er dafür sorgen.«

Doch trotz seiner Versicherungen, Steinar würde gewiss bald wohlbehalten auftauchen und ihnen einen plausiblen Grund für sein Verschwinden nennen, den sich niemand von ihnen vorstellen könnte, bevor sie ihn nicht aus seinem eigenen Mund hörten, verriet seine Stimme, wie groß seine Angst war. Für Berit und ihn war ihr einziger Sohn unentbehrlich.

Sie sagte: »Die Polizei hat mir freundlicherweise ein Mobiltelefon zur Verfügung gestellt, damit wir jederzeit in Verbindung treten können. Ich gebe dir die Nummer.«

»Ich möchte auch den Namen des Beamten wissen, der die Ermittlungen leitet.«

»Ihr Name ist Elizabeth Parkins; sie arbeitet auf der Wache in Kensington.«

Im Gegensatz zur Mutter hatte Aksel mit keinem Wort die beinahe unerträgliche Vorweihnachtszeit erwähnt, die sie durchgemacht hatten, dachte sie, nachdem sie den Hörer zum zweiten Mal aufgelegt hatte und ihre Stirn gegen die kühle Fensterscheibe lehnte.

Zu ihren Füßen lag die Großstadt, deren unzählige Lichter in der Dämmerung zu leuchten begannen. Es war ihre Idee gewesen, eine vierzehntägige Erholungsreise nach London zu unternehmen. Rechter Hand konnte sie in einiger Entfernung Earls Court an dem großen Gebäude lesen, in dem die Buchmesse stattfand. Sie hatten sie bereits zwei Mal besucht. Steinar war sehr viel an der Messe gelegen, und bis zum gestrigen Lunch schien es ihr, als würde er sich mehr und mehr von dem Druck befreien, der so lange auf ihm gelastet hatte. In den ersten Tagen waren sie gemächlich durch die Stadt geschlendert, hatten Museen und Theater besucht und sich leidenschaftlich geliebt, vierundzwanzig Stockwerke über dem Erdboden.

Doch plötzlich, gegen Ende ihrer Mahlzeit im Black Lion, hatte er einen abwesenden – oder müden? – Eindruck gemacht. Sie hatte ihn gebeten zu warten, während sie zu Past Times ging, um den Seidenschal zu kaufen, auf den sie bereits ein Auge geworfen hatte.

Sie wandte ihren Blick ab und stellte ärgerlich fest, dass die Zigarettenschachtel leer war. Nein, sie hatten sich nicht gestritten. Dennoch musste sie eine kleine Unstimmigkeit einräumen, die aber kaum von Belang gewesen war. Sie hatte etwas gesagt, das er in den falschen Hals zu bekommen schien, irgendeine gleichgültige Bemerkung, die ihn veranlasste, den Kopf in den Nacken zu legen und sekundenlang an die Decke zu starren. Ein unbedeutendes und – nach allem, was er durchgemacht hatte – verständliches Zeichen der Anspannung. Daraufhin hatte er sie mit einem seltsamen Lächeln auf den Seidenschal angesprochen, der ihr so gut gefallen habe. Und als er ihr sein Portemonnaie gab, hatte sie das Gefühl, dass er sein schlechtes Gewissen beruhigen wollte, weil er sie für einen Moment ignoriert und Gedanken nachgehangen hatte, in denen für sie kein Platz war.

Es macht mir nichts aus, hier zu warten.

An diesen Satz konnte sie sich gut erinnern, nicht jedoch an ihre Worte, die seine kurzzeitige Geistesabwesenheit ausgelöst hatten.

Zum dritten Mal durchforstete sie seine Sachen – Kleider, Necessaire, Koffer, Portemonnaie –, fand jedoch nichts, das sein Verhalten hätte erklären können. Der einzige Hinweis, den sie der Polizei hatte geben können, betraf seine Kleidung. Sie erschrak, als es klopfte. Jedes Mal hoffte sie, Steinar stehe quicklebendig vor der Tür, oder zumindest ein Polizeibeamter, der ihr erklären würde, er sei wohlbehalten wieder aufgetaucht. Indessen war es ein Zimmermädchen, das einen Knicks machte und ein Tablett in der Hand hielt.

»The chief receptionist wonders if you would appreciate some scones and a nice cup of tea.«

Sie zwang sich zu einem Lächeln, während sie nickte. Ob das Mädchen ihr auch eine Schachtel Zigaretten besorgen könne? Sie bejahte auf der Stelle. Das Hotelpersonal tat offensichtlich, was es konnte, um dem verzweifelten Gast aus Norwegen zur Seite zu stehen.

Der Tee schmeckte gut, doch als sie ein Stück Gebäck nahm, wuchs es in ihrem Hals zu einem unförmigen Klumpen, den sie kaum hinunterbekam. Immer noch gellte ihr die Stimme ihrer Mutter in den Ohren:

Stell dir nur mal vor, dass Steinars Verschwinden etwas mit der Sache zu tun haben könnte.

Linda hatte sich zuletzt als Konfirmandin an Gott gewandt, als sie nach einer unüberlegten, wilden Nacht mit einem jungen Kerl gebetet hatte, nicht schwanger zu sein. Ihr Wunsch war in Erfüllung gegangen – im Übermaß. Im vierten Jahr ihrer Ehe mit Steinar hatte ihr Hausarzt festgestellt, sie könne keine Kinder bekommen, weil mit ihrer Gebärmutter etwas nicht in Ordnung wäre.

Jetzt betete sie erneut, faltete die Hände und flehte Gott an, dafür zu sorgen, dass Steinar bald unversehrt wieder auftauchen würde und dass die Belastungen, die er wegen der Sache hatte durchstehen müssen, nicht mit seiner Abwesenheit in Verbindung stünden. Dann ging sie wieder ans Fenster und versuchte sich vorzustellen, wo er sein könnte. Doch ihr fiel nichts ein.

Die Angst, Dinge beim Namen zu nennen, hatte auch sie ergriffen. Als der Vater an Krebs erkrankt war, nahm die Mutter dieses Wort nie in den Mund, sondern sprach stets von der »Krankheit«. Jetzt war es die »Sache«. Die Zeitungen hingegen hatten zu keiner Zeit versucht, den wahren Sachverhalt zu verschleiern; nachdem Steinar aus dem Gefängnis entlassen worden war, schrieben sie ohne Umschweife, man habe ihn von der Anklage des Mordes freigesprochen.

Der Stein in ihrem Bauch nahm ihr fast die Luft zum Atmen.

Schwarz vor Augen

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