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28: Lolita

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An dieser Stelle gibt er die Worte jenes Schlagers wieder, so weit sie ihm noch gegenwärtig sind – er glaubt, er habe sie nie richtig gewusst:

Wir winden dir den Jungfernkranz

Mit veilchenblauer Seide;

Wir führen dich zu Spiel und Tanz,

Zu Lust und Liebesfreude.

Chor:

Schöner, schöner, schöner, grüner Jungfernkranz,

Mit veilchenblauer Seide, mit veilchenblauer Seide!

Lavendel, Myrt und Thymian,

Das wächst in meinem Garten;

Wie lange bleibt der Freiersmann?

Ich kann ihn kaum erwarten.

Sie ist aber erst zwölf oder dreizehn, für ihn viel zu jung. Am Abend schluchzt er vor Sehnsucht, auch aus Scham gegenüber Mesdames Chloé und Charlotte, in sein Kissen. Ein Versuch, Jahrzahlen und Datum im Gedicht einzuführen, sind, wie er an Heinrich Laube schreibt, seine Verse An Jenny: Anbei noch zwei Schnitzel, die ebenfalls nicht viel wert sind. Das Gedicht jedoch, welches anfängt: ,Ich bin nun dreiunddreißig Jahre alt, und du bist fünfzehnjährig kaum', können Sie immerhin abdrucken, aber ich bitte Sie, meinen Namen nicht darunter zu setzen; die Natürlichkeit ist hier bis zur Karikatur gesteigert, das fühl ich.

Seiner unmöglichen Liebe wegen fingiert er die Untreue seines Schwarms und macht sich und sie zwei Jahre älter:

Ich bin nun fünfunddreißig Jahr alt,

Und du bist fünfzehnjährig kaum …

O Jenny, wenn ich dich betrachte,

Erwacht in mir der alte Traum!

Im Jahre achtzehnhundertsiebzehn

Sah ich ein Mädchen, wunderbar

Dir ähnlich in Gestalt und Wesen,

Auch trug sie ganz wie du das Haar.

„Ich geh auf Universitäten“,

Sprach ich zu ihr, „ich komm zurück

In kurzer Zeit, erwarte meiner.“

Sie sprach: „Du bist mein einz'ges Glück.“

Drei Jahre schon hatt ich Pandekten

Studiert, als ich am ersten Mai

Zu Göttingen die Nachricht hörte,

Dass meine Braut vermählet sei.

Es war am ersten Mai! Der Frühling

Zog lachend grün durch Feld und Tal,

Die Vögel sangen, und es freute

Sich jeder Wurm im Sonnenstrahl.

Ich aber wurde blass und kränklich,

Und meine Kräfte nahmen ab;

Der liebe Gott nur kann es wissen,

Wie ich des Nachts gelitten hab.

Doch ich genas. Meine Gesundheit

Ist jetzt so stark wie 'n Eichenbaum …

O Jenny, wenn ich dich betrachte,

Erwacht in mir der alte Traum!

So träumt er auch an Morelles Seite noch unersättlich weiter. Als er wieder mit ihr schläft und einmal mehr Probleme hat, in ihrem Schoß zu kommen, nimmt er die Phantasie zu Hilfe und erträumt sich wieder die kleine Lo neben sich auf dem Sofa. Wieder liegen ihre sonnengebräunten Beine über seinem Schoß, der winzige Flaum an ihrem Schienbein sträubt sich verfänglich, wieder dringt sein Daumen bis in die heiße Vertiefung ihrer Leiste. Jetzt ist es, wenn er bei Morelle kommen soll, nicht mehr damit getan, mit dem Früchtchen auf seinem Schoß bloß herumzutändeln. Er zittert sehnsüchtig nach frevelhafter Hingebung und macht sie zur Szene größter Spannung. Giacomo Heine! Er nimmt die kleine Kindfrau in die Arme und liebkost sie lang und leidenschaftlich. Als sie genugsam poussiert haben, stellt er sie vor sich auf die Beine, beugt sich auf dem Sofa vor und und zieht ihr mit ein paar gekonnten Griffen das Kleid, dann das spärliche Unterzeug aus.

Sie ist noch kaum behaart, und ihr Mons pubis ist überzogen von leichtem Flaum wie ein jungfräulicher Pfirsich. Er tastet zwischen ihren Beinen nach dem rosafarbenen Spalt, spürt, wie sie unter seiner Berührung erzittert, und wundert sich, wie betaut sie da ist. Es ist ein ganz kleiner Spalt, fast nicht der Rede wert, mit rosigen Labia, der sich für ihn aber weit genug dehnen würde. Für Oralsex – einen Cunnilingus – ist, so sehr er Lust dazu hätte, jetzt nicht die Zeit. Man darf die Abgelenktheit der Damen am Tisch nicht allzu sehr strapazieren. Sein Geschlecht bäumt sich unerträglich gespannt in der Hose. Er schnellt kurz vom Sofa hoch, löst hektisch den Gürtel und rafft seine Hose zusammen mit dem Unterzeug herunter, so dass sie ihm zwischen den Knöcheln bleibt und er nicht mehr die Zeit hat, aus dem Haufen auch seine beschuhten Füße noch zu befreien. Sein Ding steht strotzend prall und fordernd unter dem Unterhemd vor. Er nimmt es in die Hand und lässt, um Eindruck auf seine Gespielin zu machen, durch einen leichten Druck die veilchenblau schillernde Eichel in der Sonne opalisieren. Es ragt hervor wie ein Rammbock, noch stämmiger kann es nicht werden, er braucht nicht zu warten und muss nur aufpassen, dass er nicht gleich mit einer verfrühten Ejakulation – eiaculatio praecox – kommt.

Lolita macht weit aufgerissene Augen, dieweil die beiden Damen am Tisch nicht weiter auf sie achten. Er lässt sich rücklings zurück aufs Sofa fallen und zieht sie sanft über seinen lechzenden Schoß. Mit der Unterseite ihrer schlanken Jungmädchenschenkel sitzt sie a fronte zu ihm auf seinen behaarten Oberschenkeln. Dann rückt er sie mit beiden Händen an ihren schlanken Hinterbacken so weit an sich heran, dass ihre lichtbraunen Knie sich automatisch in die Hocke stellen, wobei ihre nackten Füße links und rechts von ihm in das Polster drücken. Noch weiter rückt er sie heran, mit der Rechten um ihr Hinterteil, und ihren Schoß auf den seinen, während er sich mit der Linken zugleich seinen Weg zu ihr, in sie bahnt. Versuchsweise reibt er seine Glans, ob sie sich weiten, am feuchten Gekräusel ihrer Labien. So hat es wohl Sichem mit Dina gemacht.

Ihr Möschen ist eng, dehnt sich aber weit genug, um ihn einzulassen, umschlingt ihn dann jungmädchenhaft feucht und warm. Da sie in der Hocke ganz an ihn gepresst ist, steht er fast aufrecht in ihr. Er weiß nicht, hat er sie gerade entjungfert oder war ihr Häutchen vorher schon durchgescheuert. Erst jetzt zieht er ihr das enganliegende Leibchen aus und nimmt ihre Brüstchen zwischen die Hände und saugt an ihren rosigen Knospen. Mit beiden Händen um ihre Hinterbacken zieht er sie weiter über sich, wie ein Futteral über einen Schirm, und hält sie fest, während er sanft aus den Hüften heraus nach oben stößt. Wenn er sie untergreift, kann er sie wie Holofernes die Judith auf und nieder wippen lassen, ohne dass sie selber noch etwas dafür tun muss. Er weiß nicht, was sie empfindet, wenn er sie küsst, auf ihrem Gesicht aber entstehen rote Flecken. Flecken der Lust? Die Damen am Tisch unterhalten sich so, wie wenn nichts wäre. Kurz bevor es ihm kommt, hält er inne und umfasst mit beiden Händen ihre Taille, um sie zu eigener Initiative zu bewegen. Sie begreift und zieht auf dem Sofa die Füße an, bis sie ganz in der Hocke ist und, während er etwas vorwärts nach unten rutscht, jetzt selber aktiv auf ihm auf und nieder reitet. Es ist ihr erster Koitus, aber kaum hat sie losgelegt, reitet sie schon stöhnend wie eine Tribade. In Wahrheit ist er die ganze Zeit in Morelle. Auf einmal erstarrt sie, hält einen Augenblick wie wartend inne, erzittert in einem Krampf, zuckt wiederholtermalen konvulsivisch. Sofort gibt er seine Beherrschung auf, hilft mit ein paar kräftigen Stößen nach, sieht vor sich Lolita mit den roten, vor Verzückung geöffneten Lippen, und kommt zugleich mit ihr, ergießt sich drei- bis viermal in sie. Das ist der Augenblick, da er sich in Morelle verströmt ... –

Ich entnahm die Szene, wo Humbert Humbert – James Mason – beim Beischlaf mit Charlotte – Shelley Winters – nach Lolas Bild auf dem Nachtschränkchen schielt – ein potenzieller ,Ehebruch im Ehebett' –, Stanley Kubricks Film Lolita, der allein deswegen schon im prüden Amerika seiner Zeit verboten war. Eine Parallele dazu findet sich in Kubricks Film Eyes Wide Shut nach Arthur Schnitzlers Traumnovelle mit Tom Cruise und Nicole Kidman. Für die Psychoanalyse ist dieser Ehebruch im Ehebett nichts Neues: „Es gibt Männer“, so Ferenczi, „die mit ihren Frauen, trotz der Abnahme der Libido, häufig sexuell verkehren, dabei aber in der Phantasie die Person der Frau durch eine andere ersetzen, die also gleichsam in vaginam onanieren.“ – Analog Tausk: „Man wird von manchem Mann das Geständnis hören, er onaniere mit seinem Penis in der Vagina des Weibes. Und obgleich der Akt der genitalen Vereinigung verschiedengeschlechtlicher Individuen der einzige Typus des vollkommenen Geschlechtsverkehrs bei Arten mit getrennter Geschlechtlichkeit ist, wird er als onanistischer Akt empfunden. Das Kriterium dafür, ob ein Geschlechtsakt als onanistischer oder als Koitus anzusehen ist, liegt eben nicht in der äußeren Form der Betätigung, sondern im psychischen Überbau des physischen Vorgangs.“

Ein sensibler Freund aus Stuttgart besucht ihn an der Porte Saint Denis. Er trifft Morelle bei ihm an und macht kein Hehl aus seinem Eindruck, dass sie ,etwas traurig' aussehe, als wollte er fragen, ob sie unterderhand nicht im Zweifel sei, ihr Gefühl an einen unsicheren Kantonisten zu verschwenden. Harry würgt es in der Kehle, so bewusst er sich dessen an sich selber ist.

An Morelles Seite übersteht er die Choleraepidemie von 1832 und schließt sich dem in Paris gegründeten deutschen Volksverein „Association“ an. Lernt Victor Hugo kennen. Ende des Jahres bissige Schilderung: Französische Zustände. Als Mitarbeiter der Augsburger Allgemeinen Zeitung schreibt er, teils des baren Vorteils wegen, teils um sich auch durch journalistische Arbeit zu profilieren, kritische Beiträge. Die Zeitschriften sind freilich nur die Pissecken der Literatur. Seine politischen Berichte hier sind schärfer und direkter als in Französische Maler.

Laut Vorwort ist es ihm einzig darum zu tun, dass die große Menge die Gegenwart versteht, durch seine dieser Gegenwart gewidmeten Zeitungsaufsätze. Er glaubt nicht an die Republik und auch nicht an Amerikas Demokratie. Es muss wohl politische Kurzsichtigkeit sein, wenn er verkennt, dass es in Europa keine Alternative zu einer immer demokratischeren Entwicklung gibt. Den glänzenden Wahn von der Möglichkeit einer Republik in Frankreich wolle er nicht bekämpfen. Royalist aus angeborener Neigung, sei er es in Frankreich auch aus Überzeugung; überzeugt, dass die Franzosen keine Republik, weder die Verfassung von Athen noch die von Sparta, und am allerwenigsten die von Nordamerika ertragen könnten. Die Athener seien die studierende Jugend der Menschheit gewesen, ihre Verfassung eine Art akademischer Freiheit, und es wäre töricht, diese in unserer erwachsenen Zeit, in unserem greisen Europa, wieder einführen zu wollen. Und wie ertrügen wir gar die Verfassung von Sparta, dieser großen, langweiligen Patriotismusfabrik, dieser Kaserne der republikanischen Tugend, dieser erhaben schlechten Gleichheitsküche, worin die schwarzen Suppen so schlecht gekocht wurden, dass attische Witzlinge behaupteten, die Lakedämonier seien deshalb Verächter des Lebens und todesmutige Helden in der Schlacht. Wie könnte eine solche Verfassung gedeihen im Foyer der Gourmands, im Vaterland des Véry, der Véfour, des Carême! Dieser Letztere würde sich gewiss, wie Vatel, in sein Schwert stürzen, als ein Brutus der Kochkunst, als der letzte Gastronom! Wahrlich, hätte Robespierre nur die spartanische Küche eingeführt, so wäre die Guillotine ganz überflüssig gewesen; denn die letzten Aristokraten wären alsdann vor Schrecken gestorben oder schleunigst emigriert. Armer Robespierre! er wollte republikanische Strenge in Paris, einer Stadt, worin 150.000 Putzmacherinnen und 150.000 Perruquiers und Parfumeurs ihr lächelndes, frisierendes und duftendes Gewerbe treiben!

Die amerikanische Lebensmonotonie, Farblosigkeit und Spießbürgerei wäre viel unerträglicher noch in der Heimat der Schaulust, der Eitelkeit, der Moden und Novitäten. Wahrlich, nirgends grassiere die Krankheit der Auszeichnungssucht so sehr wie in Frankreich. Vielleicht mit Ausnahme von August Wilhelm Schlegel gebe es keine Frau in Deutschland, die sich so gern durch ein buntes Bändchen auszeichne wie die Franzosen; sogar die Juliushelden, die doch für Freiheit und Gleichheit gefochten, ließen sich hernach dafür mit einem blauen Bändchen dekorieren, um sich dadurch von dem übrigen Volk zu unterscheiden. Bezweifle er aber deshalb auch das Gedeihen einer Republik in Frankreich, so lasse sich darum doch nicht leugnen, dass alles zu einer Republik aboutiere, dass bei den Besseren die republikanische Ehrfurcht für das Gesetz an die Stelle der royalistischen Personenverehrung getreten sei, und dass die Opposition ebenso, wie sie einst fünfzehn Jahre lang mit einem König Komödie gespielt, jetzt dieselbe Komödie mit dem Königtum selber fortsetzt, und dass also die Republik wenigstens für kurze Zeit das Ende des Liedes sein könnte.

Währenddem aber Bedrängnisse und Nöte aller Art das Innere des Staates durchwühlten und die äußeren Angelegenheiten seit den Ereignissen in Italien und Don Pedros Expedition bedenklich verwickelter würden; während alle Institutionen, selbst die königlich höchste, gefährdet seien; während der politische Wirrwarr alle Existenzen bedrohe, – sei Paris diesen Winter noch immer das alte Paris, die schönste Zauberstadt, die dem Jüngling so holdselig lächle, den Mann so gewaltig begeistere und den Greis so sanft tröste. „Hier kann man das Glück entbehren“, sagte einst Frau von Staël, ein treffendes Wort, das aber in ihrem Mund seine Wirkung verlor, da sie sich lange Zeit nur deshalb unglücklich fühlte, weil sie nicht in Paris leben durfte, und da also Paris ihr Glück war. So liege in dem Patriotismus der Franzosen größtenteils die Vorliebe für Paris, und wenn Danton nicht floh, „weil man das Vaterland nicht an den Schuhsohlen mitschleppen kann“, so habe das wohl auch geheißen, dass man im Ausland die Herrlichkeiten des schönen Paris entbehren würde. Aber Paris sei eigentlich Frankreich; dieses sei nur die umliegende Gegend von Paris.

Abgerechnet die schönen Landschaften und den liebenswürdigen Sinn des Volkes im Allgemeinen, so sei Frankreich ganz öde, auf jeden Fall sei es geistig öde, alles, was sich in der Provinz auszeichne, wandere früh nach der Hauptstadt, dem Foyer allen Lichts und allen Glanzes. Frankreich sehe aus wie ein Garten, wo man alle schönsten Blumen gepflückt hat, um sie zu einem Strauß zu verbinden, und dieser Strauß heiße Paris. Es sei wahr, er dufte jetzt nicht mehr so gewaltig wie nach jenen Blütetagen des Julius, als die Völker von diesem Duft betäubt wurden. Er sei jedoch immer noch schön genug, um bräutlich zu prangen an dem Busen Europas. Paris sei nicht bloß die Hauptstadt von Frankreich, sondern der ganzen zivilisierten Welt, und ein Sammelplatz ihrer geistigen Notabilitäten. Versammelt sei hier alles, was groß ist durch Liebe oder Hass, durch Fühlen oder Denken, durch Wissen oder Können, durch Glück oder Unglück, durch Zukunft oder Vergangenheit. Betrachte man den Verein von berühmten oder ausgezeichneten Männern, die hier zusammenträfen, so hält man Paris für ein Pantheon der Lebenden. Eine neue Kunst, eine neue Religion, ein neues Leben werde hier geschaffen, und lustig tummelten sich hier die Schöpfer einer neuen Welt.

Da es sein erster Winter in Paris ist, könne er nicht sagen, ob der Karneval dieses Jahr so brillant gewesen, wie die Regierung prahle, oder ob er so trist aussah, wie die Opposition klage. Sogar bei solchen Außendingen könne man der Wahrheit hier nicht auf die Spur kommen. Alle Parteien suchen zu täuschen, und selbst den eigenen Augen darf man nicht trauen. Einer seiner Freunde, ein Juste-millionär, hat die Güte, ihn Mardi-gras in Paris herumzuführen und ihm durch den Augenschein zu zeigen, wie glücklich und heiter das Volk sei. Er lässt an diesem Tag auch alle seine Bedienten ausgehen und befiehlt ihnen ausdrücklich, sich recht viel Vergnügen zu machen. Vergnügt fasst er seinen Arm und rennt vergnügt mit ihm durch die Straßen, und lacht zuweilen recht laut. An der Porte St. Martin auf dem feuchten Pflaster liegt ein todblasser, röchelnder Mensch, von welchem die umstehenden Gaffer behaupten, er sterbe vor Hunger. Sein Begleiter aber versichert ihm, dass dieser Mensch alle Tage auf einer andern Straße vor Hunger sterbe, und dass er davon lebe, indem ihn nämlich die Karlisten dafür bezahlen, durch solches Schauspiel das Volk gegen die Regierung zu verhetzen. Dieses Handwerk muss jedoch schlecht bezahlt werden, da viele dabei wirklich vor Hunger sterben. Es ist eine eigene Sache mit dem Verhungern; man würde hier täglich viele tausend Menschen in diesem Zustand sehen, wenn sie es nur längere Zeit darin aushalten könnten. So aber, gewöhnlich nach drei Tagen, welche ohne Nahrung verbracht worden, sterben die armen Hungerleider einer nach dem andern, und sie werden still eingescharrt, und man bemerkt sie kaum.

Oft besucht er die Börse. In dieser beschränkten Auffassung, bei allen möglichen Vorkommenheiten, seien die Börsenspekulanten bewunderungswürdig. Ungestört von allen geistigen Aufregungen, haben sie ihren Sinn allein auf alles Faktische gewendet, und fast mit tierischem Gefühl, wie Wetterfrösche, erkennen sie, ob irgendein Ereignis, das scheinbar beruhigend aussieht, nicht eine Quelle künftiger Stürme sein wird, oder ob ein großes Missgeschick nicht am Ende dazu diene, die Ruhe zu konsolidieren. Beim Fall Warschaus fragt man nicht: Wieviel Unheil wird für die Menschheit dadurch entstehen? sondern: Wird der Sieg des Kantschus die Unruhestifter, d. h. die Freunde der Freiheit, entmutigen? Durch die Bejahung dieser Frage stieg der Kurs. Erhielte man heute an der Börse plötzlich die telegrafische Nachricht, dass Hr. Talleyrand an eine Vergeltung nach dem Tode glaube, so würden die französischen Staatspapiere gleich um zehn Prozent fallen; denn man könnte fürchten, er werde sich mit Gott zu versöhnen suchen und dem Ludwig Philipp und dem ganzen Justemilieu entsagen, und sie sakrifizieren, und die schöne Ruhe, deren sie jetzt genießen, aufs Spiel setzen. Weder Sein noch Nichtsein, sondern Ruhe oder Unruhe, ist die große Frage der Börse. Danach richtet sich auch der Diskonto. In unruhiger Zeit ist das Geld ängstlich, zieht sich in die Kisten der Reichen wie in eine Festung zurück, hält sich eingezogen; der Diskonto steigt. In ruhiger Zeit wird das Geld wieder sorglos, bietet sich preis, zeigt sich öffentlich, ist sehr herablassend; der Diskonto ist niedrig. So ein alter Louisdor hat mehr Verstand als ein Mensch und weiß am besten, ob es Krieg oder Frieden gibt. Vielleicht durch den guten Umgang mit Geld haben die Leute der Börse ebenfalls eine Art von politischem Instinkt bekommen, und während in der letzen Zeit die tiefsten Denker nur Krieg erwarteten, blieben sie ganz ruhig und glaubten an die Erhaltung des Friedens. Frägt man einen derselben nach seinen Gründen, so lässt er sich, wie Sir John, keine Gründe abzwingen, sondern behauptet immer: „Das ist meine Idee.“

L'Europe littéraire veröffentlicht 1833 seinen Essay Zur Geschichte der neueren schönen Literatur in Deutschland. 1836 erscheint er unter dem Titel Die romantische Schule. Obgleich man in Frankreich unter dem Namen Christentum nur den römischen Katholizismus verstehe, müsse er doch besonders bevorworten, dass er nur von letzterem spreche. Er spreche von jener Religion, deren erste Dogmen eine Verdammnis allen Fleisches enthalten, und die nicht bloß dem Geiste eine Obermacht über das Fleisch zugestehe, sondern dieses auch abtöten wolle, um den Geist zu verherrlichen; er spreche von jener Religion, durch deren unnatürliche Aufgabe ganz eigentlich die Sünde und die Hypokrisie in die Welt gekommen, indem eben durch die Verdammnis des Fleisches die unschuldigsten Sinnesfreuden eine Sünde geworden, und durch die Unmöglichkeit, ganz Geist zu sein, die Hypokrisie sich ausbilden musste; er spreche von jener Religion, die ebenfalls durch die Lehre von der Verwerflichkeit aller irdischen Güter, von der auferlegten Hundedemut und Engelsgeduld, die erprobteste Stütze des Despotismus geworden.

Die Menschen hätten jetzt das Wesen dieser Religion erkannt, sie lassen sich nicht mehr mit Anweisungen auf den Himmel abspeisen, sie wissen, dass auch die Materie ihr Gutes hat und nicht ganz des Teufels ist, und sie vindizieren jetzt die Genüsse der Erde, dieses schönen Gottesgartens, unseres unveräußerlichen Erbteils. Eben weil wir alle Konsequenzen jenes absoluten Spiritualismus jetzt so ganz begreifen, dürften wir auch glauben, dass die christkatholische Weltansicht ihre Endschaft erreicht. Denn jede Zeit ist eine Sphinx, die sich in den Abgrund stürzt, sobald man ihr Rätsel gelöst hat.

Der menschliche Genius aber wisse sogar die Unnatur zu verklären, vielen Malern sei es gelungen, die unnatürliche Aufgabe schön und erhebend zu lösen, und namentlich die Italiener wussten der Schönheit etwas auf Kosten des Spiritualismus zu huldigen und sich zu jener Idealität emporzuschwingen, die in so vielen Darstellungen der Madonna ihre Blüte erreichte. Die katholische Klerisei habe überhaupt, wenn es die Madonna galt, dem Sensualismus immer einige Zugeständnisse gemacht. Dieses Bild einer unbefleckten Schönheit, die noch dabei von Mutterliebe und Schmerz verklärt ist, hatte das Vorrecht, durch Dichter und Maler gefeiert und mit allen sinnlichen Reizen geschmückt zu werden. Denn dieses Bild war ein Magnet, welcher die große Menge in den Schoß des Christentums ziehen konnte. Madonna Maria war gleichsam die schöne Dame du Comptoir – Empfangsdame – der katholischen Kirche, die deren Kunden, besonders die Barbaren des Nordens, mit ihrem himmlischen Lächeln anzog und festhielt.

Die Baukunst habe im Mittelalter denselben Charakter getragen wie die anderen Künste; wie denn überhaupt damals alle Manifestationen des Lebens aufs wunderbarste miteinander harmoniert hätten. Hier, in der Architektur, zeige sich dieselbe parabolische Tendenz wie in der Dichtkunst. Wenn wir jetzt in einen alten Dom treten, ahnten wir kaum mehr den esoterischen Sinn seiner steinernen Symbolik. Nur der Gesamteindruck dringe uns unmittelbar ins Gemüt. Wir fühlen hier die Erhebung des Geistes und die Zertretung des Fleisches. Das Innere des Doms selbst ist ein hohles Kreuz, und wir wandeln da im Werkzeug des Martyrtums selbst; die bunten Fenster werfen auf uns ihre roten und grünen Lichter, wie Blutstropfen und Eiter; Sterbelieder umwimmern uns; unter unseren Füßen Leichensteine und Verwesung; und mit den kolossalen Pfeilern strebt der Geist in die Höhe, sich schmerzlich losreißend von dem Leib, der wie ein müdes Gewand zu Boden sinkt. Wenn man sie von außen erblickt, diese gotischen Dome, diese ungeheuren Bauwerke, die so luftig, so fein, so zierlich, so durchsichtig gearbeitet sind, dass man sie für ausgeschnitzelt, dass man sie für Brabanter Spitzen von Marmor halten sollte: dann fühlt man erst recht die Gewalt jener Zeit, die selbst den Stein so zu bewältigen wusste, dass er fast gespenstisch durchgeistet erscheint, dass sogar diese härteste Materie den christlichen Spiritualismus ausspricht.

Mit einem Wort, es sind steingewordene Monumente falschen Bewusstseins! Nunmehr aber sinken die alten Dome, die einst von einem übermütig frommen Geschlecht, das seinen Glauben in den Himmel hineinbauen wollte, so riesenhoch aufgetürmt wurden; sie sind morsch und verfallen, und ihre Götter glauben an sich selbst nicht mehr.

Ich glaube, Doktor – sagt ihm Mylady in Die Stadt Lucca, aus dem frühesten Weltalter ist uns nichts übriggeblieben als einige triste Formeln des Betrugs.

Er durchschaut die Relativität der Moral: Wie man es wirklich erlebe, hätten gute Christen, welche das Fleisch als teuflisch verdammen, immer ein Ärgernis empfunden beim Anblick der griechischen Götterbilder; keusche Mönche haben der antiken Venus eine Schürze vorgebunden; sogar bis in die neuesten Zeiten hat man den nackten Statuen ein lächerliches Feigenblatt angeklebt; ein frommer Quäker hat sein ganzes Vermögen geopfert, um die schönsten mythologischen Gemälde des Giulio Romano anzukaufen und zu verbrennen – wahrlich, er verdiene, dafür in den Himmel zu kommen und dort täglich mit Ruten gepeitscht zu werden! Eine Religion, welche etwa Gott nur in die Materie setze, und daher nur das Fleisch für göttlich hielte, müsste, wenn sie in die Sitten überginge, eine Moral hervorbringen, wonach nur diejenigen Kunstwerke preisenswert, die das Fleisch verherrlichen, und wonach im Gegenteil die christlichen Kunstwerke, die nur die Nichtigkeit des Fleisches darstellen, als unmoralisch zu verwerfen wären. Ja, die Kunstwerke, die in dem einen Land moralisch, würden in einem anderen Land, wo eine andere Religion in die Sitten übergegangen, als unmoralisch betrachtet werden können, z. B. unsere bildenden Künste erregen den Abscheu eines strenggläubigen Moslem, dagegen sind manche Künste, die in den Haremen des Morgenlands für höchst unschuldig gelten, dem Christen ein Greuel. Da in Indien der Stand einer Bajadere durchaus nicht durch die Sitte fletriert ist, so gilt dort das Drama Vasantasena, dessen Heldin ein feiles Freudenmädchen, durchaus nicht für unmoralisch; wagte man es aber einmal, dieses Stück im Theater Français aufzuführen, würde das ganze Parterre über Immoralität schreien, dasselbe Parterre, welches täglich mit Vergnügen die Intrigenstücke betrachtet, deren Heldinnen junge Witwen sind, die am Ende lustig heiraten, statt sich, wie die indische Moral es verlangt, mit ihren verstorbenen Gatten zu verbrennen.

Frau von Staël habe die deutsche Literatur in Frankreich bekannt gemacht. Minder bekannt als der Faust sei hier Goethes Westöstlicher Diwan, ein späteres Buch, von welchem Frau von Staël noch nicht Kenntnis hatte, und dessen er hier besonders erwähnen müsse. Es enthalte die Denk- und Gefühlsweise des Orients, in blühenden Liedern und kernigen Sprüchen; und das duftet und glüht darin wie ein Harem voller verliebter Odalisken mit schwarzen geschminkten Gazellenaugen und sehnsüchtig weißen Armen. Es ist dem Leser dabei so schauerlich lüstern zumute wie dem glücklichen Gaspar Debureau, als er in Konstantinopel oben auf der Leiter stand und de haut en bas dasjenige sah, das der Beherrscher der Gläubigen nur de bas en haut zu sehen pflegt. Manchmal ist dem Leser auch zumute, als läge er behaglich ausgestreckt auf einem persischen Teppich und rauche aus einer langröhrigen Wasserpfeife den gelben Tabak von Turkistan, während eine schwarze Sklavin ihm mit einem bunten Pfauenwedel Kühlung zuweht und ein schöner Knabe ihm eine Schale mit echtem Mokka-Kaffee darreicht: – den berauschendsten Lebensgenuss habe hier Goethe in Verse gebracht, und diese sind so leicht, so glücklich, so hingehaucht, so ätherisch, dass man sich wundert, wie dergleichen in deutscher Sprache möglich war.

Dabei gebe er auch in Prosa die allerschönsten Erklärungen über Sitten und Treiben im Morgenlande, über das patriarchalische Leben der Araber; und da ist Goethe immer ruhig lächelnd und harmlos wie ein Kind, und weisheitsvoll wie ein Greis. Diese Prosa ist so durchsichtig wie das grüne Meer, wenn heller Sommernachmittag und Windstille, und man ganz klar hinabschauen kann in die Tiefe, wo die versunkenen Städte mit ihren verschollenen Herrlichkeiten sichtbar werden; – manchmal ist jene Prosa aber auch so magisch, so ahnungsvoll wie der Himmel, wenn die Abenddämmerung heraufgezogen: und die großen Goetheschen Gedanken treten dann hervor, rein und golden wie die Sterne. Unbeschreiblich ist der Zauber dieses Buches: es ist ein Selam, den der Okzident dem Orient geschickt hat, und es sind gar närrische Blumen darunter: sinnlich rote Rosen, Hortensien wie weiße nackte Mädchenbusen, spaßhaftes Löwenmaul, Purpurdigitalis wie lange Menschenfinger, verdrehte Krokosnasen, und in der Mitte, lauschend verborgen, stille deutsche Veilchen. Dieser Selam aber bedeutet, dass der Okzident seines frierend mageren Spiritualismus überdrüssig geworden und an der gesunden Körperwelt des Orients sich wieder erlaben möchte. Goethe, nachdem er im Faust sein Missbehagen an dem abstrakt Geistigen und sein Verlangen nach reellen Genüssen ausgesprochen, warf sich gleichsam mit dem Geiste selbst in die Arme des Sensualismus, indem er den Westöstlichen Divan schrieb.

Aber auch an einer Opposition fehlte es nicht, die gegen Goethe, diesen großen Baum, mit Erbitterung eiferte. Menschen von den entgegengesetztesten Meinungen vereinigten sich zu solcher Opposition. Die Altgläubigen, die Orthodoxen, ärgerten sich, dass in dem Stamme des großen Baumes keine Nische mit einem Heiligenbildchen befindlich war, ja, dass sogar die nackten Dryaden des Heidentums darin ihr Hexenwesen trieben, und sie hätten gern, mit geweihter Axt, gleich dem heiligen Bonifatius, diese alte Zaubereiche niedergefällt; die Neugläubigen, die Bekenner des Liberalismus, ärgerten sich im Gegenteil, dass man diesen Baum nicht zu einem Freiheitsbaum, und am allerwenigsten zu einer Barrikade benutzen konnte. In der Tat, der Baum war zu hoch, man konnte nicht auf seinen Wipfel eine rote Mütze stecken und darunter die Carmagnole tanzen. Das große Publikum aber verehrte diesen Baum, eben weil er so selbstständig herrlich war, weil er so lieblich die ganze Welt mit seinem Wohlduft erfüllte, weil seine Zweige so prachtvoll bis in den Himmel ragten, so dass es aussah, als seien die Sterne nur die goldnen Früchte des großen Wunderbaums.

Henri hardcore II - Heines Mannesjahre

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