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29: Dido

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Es ist in den Frühlingstagen 1834, er ist seit drei Jahren mit Morelle zusammen, als sie Besuch von einer auf dem Land lebenden Nichte bekommt. Die knapp neunzehnjährige Crescentia Eugénie Mirat ist die uneheliche Tochter der Schwester ihres verstorbenen Mannes, einer Bäuerin, und eines – so Morelle – reichen besseren Herrn, der sich nicht mehr um sie kümmert. Sie kommt aus Vinot, einem Dorf des Départment Seine-et-Marne, wo sie ärmlich unter Bauern aufwuchs und die Kühe hütete. Jetzt will sie die Luft der Hauptstadt schnuppern und dabei Morelle im Laden etwas zur Hand gehen.

Neunzehnjährige Nichte? Uneheliche Tochter, die Kühe hütet? Wie stets, wenn er einer neuen Frau begegnet, spürt er eine erwartungsvolle Spannung, ein unanständiges Kribbeln im Blut. Kein Weib ist hässlich. Gleichviel, wie hübsch, die Aussicht, dass Morelle eine junge Untermieterin bekommt und er dann mit zwei Frauen lebt, verursacht ihm ein Prickeln und Knistern in den Adern. Hat er sich das nicht schon immer gewünscht? Es ist, als würde dem kretischen Minotauros eine frische Jungfrau zugeführt. Die liebe gute Morelle ist viel zu arglos, um etwas von seinen Empfindungen zu ahnen. Das sei ein guter Vorschlag, stimmt er zu, dann hätte sie eine Hilfe im Laden und auch der jungen Mademoiselle wäre, bevor sie wieder in die Provinz abwandere, wirksam geholfen. Er wäre dann für sie beide da, fügt er für alle Fälle hinzu. Morelle ist zu naiv, um den Doppelsinn dieser Worte zu ahnen.

Sie holen die Reisende von der Poststation ab. Crescence Mirat scheint alles andere als ein ungehobelter, nach Kuhmist riechender Bauerntrampel; mit Genugtuung bemerkt er, dass sie körperlich gesehen etwas kleiner ist als er. Gegenüber größeren Frauen hat er immer einen gewissen Komplex, eine Angst, dass Liebe nicht möglich wäre, eine gewisse leidende Innigkeit und beobachtende Liebesangst. Sie ist ein schönes Mädchen, schreibt Ludwig Marcuse: ihre Formen sind plastisch; ihre Haut schimmert blendend weiß. Das lange kastanienbraune Haar fällt ihr den Rücken hinab bis auf die Hüften. Ein Grübchen macht die kleine, lebenslustige Person noch lustiger. Sie hat Phantasie und Temperament; sie plappert unaufhörlich heraus, was ihr gerade einfällt, über Vinot, über ihre Mutter, über ihren kleinen Hof und die Tiere.

Als er anderntags zu Morelle kommt, sitzt sie auf der Chaiselongue im Wohnzimmer neben der Tür, die unterm Rock hervorkommenden Beine aufs Polster hinauf gezogen und züchtig geschlossen, die Unterarme auf den Schenkeln und die Hände gefaltet, dabei das Gesicht erhoben und, ein Bild der Bescheidenheit und Unschuld, auf ihrer beider hauptstädtisch-renommistischen Bericht schüchterne Fragen und Zustimmung äußernd: Ah oui, oui non, non.

Den Monsieur Henrienne betrachtet sie als eine Art Onkel, einen deutschen Landsmann ihrer Tante, als wäre diese, nachdem ihr Mann das Zeitliche gesegnet, zu ihren nationalen Wurzeln zurückgekehrt. Sie macht große Augen, als sie hört, dass er ein Dichter und Schriftsteller ist, der schon einige Bücher und letztes Jahr in L'Europe littéraire einen Essay mit dem Titel État actuel de la littérature en Allemagne herausgebracht hat. Zur Zeit bereitet er die französische Ausgabe seiner Reisebilder vor. Sie selber hat, da sie von ihrer Mutter auf dem Hof, von dem sie leben, schon früh eingespannt wurde, weder lesen noch schreiben gelernt, so dass sie nicht einmal lesen kann, was er schreibt.

Henri fühlt sich nicht eigentlich als ihr Onkel. Ja, ehrlich gesagt, er fühlt sich als alles andere als ihr Onkel; er fühlt in ihrer Gegenwart eine Art gespannte Unruhe, eine aufgestachelte Unruhe seines Blutes. Wann war er zum letzten Mal in so intimer Nähe eines so attraktiven Geschöpfes? Er spürt die ersten seismographischen Verschiebungen eines Bebens, das ihn bis in der Seele tiefsten Sitz erschüttern wird. Seine Haltung ihr gegenüber ist eine Mischung aus Bangigkeit und Sehnsucht: Sehnsucht nach ihrer Schönheit und Jugend; Bangigkeit, dass sie seine Liebe zurückweisen könnte. Schon nach wenigen Tagen des Zusammenseins macht er der Treulosigkeit, déloyauté, zum Trotz, die darin gegenüber Morelle liegt, heimlich Verse für sie. Er camoufliert sie als Katharina I, II, biegt aber, sich kritisch selbst zensierend, den Schluss ins Komödiantische um:

Ein schöner Stern geht auf in meiner Nacht,

Ein Stern, der süßen Trost herniederlacht

Und neues Leben mir verspricht –

Oh, lüge nicht!

Gleichwie das Meer dem Mond entgegenschwillt,

So flutet meine Seele, froh und wild,

Empor zu deinem holden Licht –

Oh, lüge nicht!

„Wollen Sie ihr nicht vorgestellt sein?“

Flüsterte mir die Herzogin. –

„Beileibe nicht, ich müsst ein Held sein,

Ihr Anblick schon wirrt mir den Sinn.“

Das schöne Weib macht mich erbeben!

Es ahnet mir, in ihrer Näh

Beginnt für mich ein neues Leben,

Mit neuer Lust, mit neuem Weh.

Es hält wie Angst mich von ihr ferne,

Es treibt mich Sehnsucht hin zu ihr!

Wie meines Schicksals wilde Sterne

Erscheinen diese Augen mir.

Die Stirn ist klar. Doch es gewittert

Dahinter schon der künft'ge Blitz,

Der künft'ge Sturm, der mich erschüttert

Bis in der Seele tiefsten Sitz.

Der Mund ist fromm. Doch mit Entsetzen

Unter den Rosen seh ich schon

Die Schlangen, die mich einst verletzen

Mit falschem Kuss, mit süßem Hohn.

Die Sehnsucht treibt. – Ich muss mich näh'ren

Dem holden, unheilschwangern Ort –

Schon kann ich ihre Stimme hören –

Klingende Flamme ist ihr Wort.

Sie fragt: „Monsieur, wie ist der Name

Der Sängerin, die eben sang?“

Stotternd antworte ich der Dame:

„Hab nichts gehört von dem Gesang.“

Von solchem Klang! könnte es um des abgewandelten Reimes willen heißen. Da er mit Morelle nur unverbindlich verbunden und ihr nicht gänzlich verpflichtet ist, ist er auch nur halb und halb Crescences Onkel. Wie der minoische Minotaurus, dem im subkutanen Labyrinth seines Blutes ein jungfräuliches Opfer zugeführt wird, schnüffelt und schnuppert er mit geblähten Nüstern um sie herum. Kretische Crescence! Vor allem das lange kastanienbraune Haar fasziniert ihn, das ihr, wenn sie es lose trägt, herab bis über die Hüften fällt. Da erscheint sie ihm wie die Lorelei seines berühmten Gedichts, die auf des funkelnden Felsens Spitze ihr goldenes Haar kämmt. Auch wenn sie nicht singt, er spürt die wundersame gewaltige Melodie seiner Sehnsucht.

Auch ist sie beileibe nicht so fern und unerreichbar wie die Lorelei über dem Rhein, und er nicht wie der Schiffer im kleinen Schiffe, er befindet sich auf ein und derselben Höhe mit ihr und braucht nur die Hand auszustrecken, um sie zu berühren. Das wagt er aber nicht, dafür ist es noch zu früh. Sie würde sich ihm entziehen wie einem Tantalus. Besucht er jetzt Morelle, dann nicht mehr, wie er sich eingesteht, nur um ihretwillen, ja, eigentlich schon weniger um ihretwillen als mehr um ihrer Besucherin willen. Schon auf dem Weg zu ihr spürt er die knisternde Spannung, Crescence zu sehen. Wo anders sollte sie auch hin, kennt sie doch niemanden sonst in der Stadt, noch nicht. Auch nächtigt er jetzt, seitdem Crescence bei ihr wohnt, nicht mehr bei Morelle, und vermeidet es sogar, dass sie die Nacht bei ihm an der Porte St. Denis verbringt.

Die meiste Zeit geht Crescence ihr im Laden zur Hand. Sie plappert sich schnell in die Herzen der Leute. Sie schwatzt den Kunden gern etwas vor, steht in der Ladentür, lächelt die Vorübergehenden an und wird von ihnen angelächelt; das Schuhgeschäft belebt sich merklich durch sie. Sieht er sie so vor dem Laden stehen und den Vorübergehenden aufmunternde Blicke zuwerfen, spürt er bereits stechende Eifersucht. Wie leicht könnte ein junger Passant, Fant ihre Blicke aufschnappen und sie auf ganz ungeschäftliche Weise erwidern? Wie lang bleibt ein mannbares Mädchen wie sie in Paris allein? Par dieu! er muss ein Auge darauf haben, dass sie ihm nicht auf diese Weise abhanden kommt, und sucht sie durch alle möglichen Aufmerksamkeiten an sich zu binden. Zum Glück glaubt er festzustellen, dass sie selber nicht von der Art Sinnlichkeit scheint, die ebenso schnell jener erläge, die sie erweckt. Vorläufig gehört sie ganz ihm und Morelle.

Sie hat eines von Morelles leerstehenden Zimmern in Beschlag und fühlt sich darin ganz zu Hause. Er besucht sie zumeist abends, wenn der Laden schon zu ist, um sie noch in der Stadt auszuführen. A la bonne heure besteht da in Paris, der Hauptstadt der Welt, keine Not. Er führt seine beiden Konkubinen, Tante und Nichte, in das Café, das Leclerque geheißen und an der Ecke des Gässchens St. Mery gelegen ist, und wo es gute Leckereien gibt. Besonders für Speiseeis zeigt se ein ausgesprochenes Faible, – was insofern günstig ist, als es ihm Gelegenheit gibt, sich großzügig zu zeigen. Es gibt Vanille, Pistache, Melée. In der Karte deutet sie – nicht aus einem unbescheidenen Wunsch, sondern weil es so großspurig aussieht – lustig auf einen prächtigen bunten Becher, dessen Namen sie nicht entziffern kann. Nicht dass sie ihn möchte, dazu ist sie zu genügsam, er fällt ihr nur seiner Auffälligkeit wegen auf.

Coppa Paris! kommt Henri ihr zungenfertig zu Hilfe.

Ah, Coppa Paris! wiederholt sie schüchtern.

Ihr Wort ist ihm Befehl. Une Coppa Paris! ordert er, sobald der Garçon wieder am Tisch ist, und gibt ihr so zu verstehen, dass er nicht allein ihren Wunsch als Befehl, sondern auch jedes ihrer Worte schon als einen Wunsch versteht.

Solche Aufmerksamkeiten erweist er ihr offen vor Morelle, wie um dem Verdacht vorzubeugen, als hätte er irgendwelche Heimlichkeiten nötig. Er führt sie in die diversen Konditoreien. Er führt sie ins Restaurant Pestel und au Périgord, eines der elegantesten Café-Restaurants von Paris. Die Rechnung teilt er sich, meist zu seinem Nachteil, mit Morelle, so dass Crescence, die nicht viel bei sich hat, keinen Sou verliert. Manchmal erfindet er einen besonders persönlichen Vorwand zum Feiern, damit er die Rechnung allein übernehmen kann. Äußert sie schüchternen Protest: ob der Onkel nicht zuviel Geld für sie ausgebe?, so verweist er stolz auf den Scheck, der ihm gerade seitens seines Verlegers zukomme. Hat Crescence schon keine Ahnung vom Inhalt seiner Poesien, und kann nichts davon lesen, soll sie doch wenigstens einen Eindruck davon kriegen, was sie materiell abwirft.

Beim Tanz auf dem Sommerfest im Biergarten eines griechischen Lokals im Bois du Boulogne kommt er mit ihrem goldenen Haar in Kontakt. Hartnäckig hält sie bei der Valse Musette in seinen Armen die Augen abgewandt, als fürchtete sie, seinem Blick zu begegnen. Bei jeder Drehung wirft sie ruckartig wie mechanisch den Kopf auf die andere Seite, und er fragt sich, will sie so als zünftige Tänzerin erscheinen oder nur seinem suchenden Blick entfliehen? Er ist wie der Fuchs, der das Küchlein belagert, und Morelle schaut ihm nichtsahnend zu. Nicht aber nur hält er ihre kühle Hand auf seiner Schulter fest unter seiner heißen und feuchten, sondern taucht auch sein sonnengebräuntes Gesicht in den Katarakt ihres Haars, das ihr vom Scheitel auf die weißen Arme herab fällt. Dabei hält er sie, während seine Wange durch den durchlässigen Schleier der Haare die ihrige sucht, so eng bei sich, dass es, wie er selber fühlt, eine Schande ist.

Einmal war es seine Tante Sylvette, Simons Braut, die er so inzestuös an sich schmiegte; jetzt ist er selber, der Oncle titulaire, dabei, die Nichte zu verführen. Henri, oncle incestueux! Er weiß, wenn er sich dabei gehen lässt, kompromittiert er auch sie. Er verhält sich aber nur so, wie es seiner wahren Empfindung entspricht. Soll er sich seiner Liebe schämen? So kann er, was er nicht sagen darf, zumindest zeigen. Alle können es sehen, und wenn sie es nicht wahrhaben wollen, ist es ihre eigene Schuld. Morelle aber verschließt überhaupt die Augen, denn was sie nicht einmal denken kann, kann sie auch nicht sehen. Als diese Wahrheit fast schon mit Händen zu greifen ist, nimmt Crescence, wie wenn sie es ahnte, ihn beim Arm und geleitet ihn, wie um ihn auf den Pfad der Tugend zurückzuführen, wieder an den gemeinsamen Tisch:

La tante ... Morelle ..., sagt sie erklärend, indem sie seinen Kosenamen für Chloé übernimmt.

Er folgt ihr gehorsam wie ein schuldbewusster Schuljunge, der bei einem Streich ertappt wurde; oder wie ein süchtiger Trinker auf Freigang zurück zum Entzug; oder wie ein straffällig Gewordener seinem Betreuer zurück in die Resozialisierung. Doch hat er bei all seinen riskierten Annäherungen nie das Gefühl, dass sie sich darüber ärgert oder es ihm verargt. Ihre Sanftheit und Güte ist wie ein Schirm vor seiner Ruchlosigkeit. Solch ein nachsichtiger Engel sollte ihn einst durch die Pforten des Himmels führen. Doch kommt er nicht ungeschoren davon. Es bleibt nämlich bei diesem ersten und einzigen Mal im Bois du Boulogne, und auch im Jardin du Luxembourg, dass er mit ihr tanzt; er weiß nicht, ist es Zufall oder kalkulierte Absicht, dass es sich nicht wiederholt. Aber zu spät. Sein Entschluss ist gefasst. Les jeux sont faits.

Immer wieder führt sie ihn wieder zurück zu zu Morelle. Bei einer Dampferfahrt auf der Seine, zu der er einlädt, bemerkt er ein kleines weißes Bläschen an ihrem Kinn. Seine Hand zuckt nach dem Makeup in seinem Jackett, doch wagt er nicht, sie anzufassen und ihre Natürlichkeit zu touchieren. Einmal sitzt er auf dem Dampfer allein mit ihr, trunken von ihrer Nähe, am Tisch. Angesichts ihres Kinns zuckt seine Hand wieder nach dem Makeup. Fast scheint sie etwas Schuldgefühle zu haben, dass sie mit ihm allein ist. Wieder sagt sie:

Morelle …, mit dem Blick nach Chloé.

Aber zu spät. Die Würfel sind gefallen. Der Skandal ist nicht mehr aufzuhalten.

Stets ist sie so umsichtig, empfindsam und delikat darauf bedacht, dass sie nicht zwischen Morelle und ihn gerät. Mit ehrgeiziger Achtsamkeit passt sie auf, nicht einmal räumlich zwischen sie zu geraten, dergestalt, dass wenn sie zu dritt durch die Stadt flanieren und Morelle zu seiner Rechten geht, sie sich möglichst wieder rechts von ihr hält; dies direkt entgegen seinem eigenen Bestreben, sie zwischen sich und Morelle – oder gar, wenn Morelle links von ihm geht, rechts von sich – zu kriegen. So auffällig ist, bewusst oder nicht, ihr zuwiderlaufendes Bestreben, dass es ihn fast schon amüsiert und er sich – ruchloser Henri! – einen grausamen Spaß daraus macht, Zufall zu spielen, ihre Anstrengungen bewusst zu vereiteln und sie auf alle Art zu boykottieren. Natürlich geschieht das so scheinbar unbefangen und unauffällig, dass sie es nicht merkt und auf den Gedanken kommt, diese Anstalten könnten seinerseits schnöde Absicht sein.

Würde sie ihm das unsensible Verhalten um seiner Liebe willen verzeihen? Schon jetzt leistet er ihr heimliche Abbitte für die Peinlichkeiten – delitti d'amore –, die er ihr dadurch verursacht – die Stolpersteine, die ihr seine Zärtlichkeit in den Weg wirft. Einmal kommt sie auf einer Bank im Bois de Boulogne, wo die Leute am Seeufer promenieren, zwischen Morelle und ihn zu sitzen, weil er angesichts der beiden Sitzenden bewusst auf der falschen Seite – nicht rechts neben Morelle, sondern links neben ihr – Platz nimmt. Sogleich springt sie wie von der Tarantel gestochen auf, um ihm den Platz neben Morelle zu räumen und sich rechts von ihr niederzulassen. Morelle selbst vereitelt ihre Absicht, indem sie, seinem Anschlag treuherzig Vorschub leistend, um ihm links außen Platz zu machen, ihrerseits ans linke Ende der Bank rutscht.

Ist er sich bewusst, dass ihr solch scheinbare Unachtsamkeitkeiten in der Seele weh tun müssen? Natürlich ist er sich dessen bewusst, aber abgesehen davon, dass er sie durch scheinbare Gedankenlosigkeit überspielt, gewöhnt er sie dadurch an die noch ungleich größere Grausamkeit, die ihr bevorsteht. Er spürt den wilden, ungezügelten Drang, seinen Arm um Crescence zu legen –, und hält sich für die Unmöglichkeit dadurch schadlos, wie nahe ihre Füße jetzt nebeneinander sind.

Immer entspringt sie, wenn sie zwischen Morelle und ihn gerät, ihm gleichsam wie in Panik – ein Zicklein, das sich versehentlich neben den Wolf verirrte. Ay, ihre Schönheit! Ihre unbefangene, integre Schönheit! Das aber gerade ist es, was die Bestien lieben: Je klarer ihre Reinheit und Integrität, desto anziehender wird sie für ihn – so dass ihre instinktiven Fluchtversuche gerade den gegenteiligen Effekt haben. Je angestrengter sie seiner Verliebtheit zu entrinnen sucht, desto stärker ruft sie sie hervor … –

Als ihre Ferien vorbei sind und sie sie zum Postwagen nach Vinot bringen, blutet sein Herz wie die Augen der Madonna. Ihm bleibt nur die Aussicht, dass sie nächsten Sommer wieder kommt. Noch am selben Abend macht er, allein in seiner Klause, ein Gedicht. Mesdames erfahren nichts davon:

Wie entwickeln sich doch schnelle,

Aus der flüchtigsten Empfindung,

Leidenschaften ohne Grenzen

Und die zärtlichste Verbindung!

Täglich wächst zu dieser Dame

Meines Herzens tiefste Neigung,

Und dass ich in sie verliebt sei,

Wird mir fast zur Überzeugung.

Schön ist ihre Seele. Freilich,

Das ist immer eine Meinung,

Sichrer bin ich von der Schönheit

Ihrer äußeren Erscheinung.

Diese Hüften! Diese Stirne!

Diese Nase! Die Entfaltung

Dieses Lächelns auf den Lippen!

Und wie gut ist ihre Haltung!

Wie immer, wenn er in ein Frau verliebt ist, wird er, so sehr es ihn nach körperlichem Besitz drängt, von instinktiver Scheu erfasst, sich im Gedanken an sie sexuell zu befriedigen. Es ist, als würde die Reinheit seiner Liebe dadurch entweiht – oder ihr sträflicherweise etwas geraubt, was sie ihm nur von sich aus gewähren kann. So hat er, da er sie umgekehrt auch nicht mit Morelle betrügen wollte, die ganze Zeit über enthaltsam gelebt.

Jetzt aber, da Crescence wie eine verschwundene Fata morgana wieder fort ist, ist seine Phantasie erfüllt von der Sehnsucht nach ihr. So kehrt er zur Welt der schönen Bilder zurück. Wann immer er seine Erotika durchblättert – noch immer bewahrt er seine Sammlung aus der Arche Noä, da er sich nicht entschließen konnte, sie wegzuwerfen –, hat er ein genaues Bild, an dem seine Phantasien haften bleiben: Crescence, Crescence, Crescence. Lässt er Carraccis Stiche Revue passieren, verschmelzen die abgebildeten Frauen mit ihr. Sie ist seine Venus génitrice auf dem Muschelwagen, sie ist Oenone in Paris' Armen, die über Medor hockende Angélique, die Nymphe vor dem stehenden Satyr, die Kaiserstochter Julia über dem namenlosen Athleten, die auf dem Schenkel des Herakles jauchzende Dejanira, Venus am Spieße des Mars, die Bacchantin vor dem Standbild des Gottes Priap, die launische Kleopatra zwischen Mark Antons Schenkeln, Ariadne, den Kopf im Sand, den Schoß auf der Höhe von Dionysos' Stab.

Auch Nummer 16 zeigt ein historisches Paar, Ovide et Corinne. Es ist der große Liebesdichter Ovid in persona – Henri fühlt sich, seit er seine Ars amatoria im Original las, ihm so verwandt wie keinem andern römischen Dichter, und er selber ist so exiliert wie jener in Tomi am Schwarzen Meer –, der hier beim Sex mit Corinna treibt. Ovid übernahm den Namen Corinna, der vielleicht von der berühmten griechischen Lyrikerin Korinna herrührt, als Name für die Geliebte des elegischen Ichs in seinen Amores. Im Mittelpunkt der Amores, zwischen 20 und 15 vor unserer Zeit zunächst in fünf, dann in drei Büchern erschienen, steht eine junge Frau namens Corinna, von der nicht bekannt ist, ob es sie als reale Person im Leben des Autors gab.

Bei Ovid ist die Liebe nicht mehr, wie bei seinen Vorläufern, ein leidvolles Schmachten, sondern ein amüsantes und frivoles Spiel. Nichts liegt der Phantasie näher als die vorliegende Kopulation des Dichters mit einer – fiktiven oder realen – Figur seines Werks, wie wenn Henri sich mit Zuleima, Maria MacGregor, Lorelei paaren wollte. Die idealisch gezeichnete Corinne liegt, dem Betrachter zugewandt, mit auseinandergenommenen Beinen auf den üppigen Polstern eines Alkovens, während der Dichter, uns Rücken und Hinterteil zuwendend, in muskulöser Nacktheit über ihr kniet.

Man sieht ihn, außer dem Halbprofil seines Gesichts, nur von hinten. Er kniet vor Corinnes ihm wulstig entgegengewölbter Vulva so zwischen ihren Beinen, dass sein linker Oberschenkel neben Corinnens rechts aufgestelltem Knie steht, während der andere zwischen ihren linken Oberschenkel und Wade verkeilt ist. Der Vorteil der Stellung ist, dass er sie gut im Griff und optimale Bewegungsfreiheit hat. Von dieser macht er nun Gebrauch, indem er in der linken Hand sein prächtiges, in unrealistischer Länge gezeichnetes Ding mit der prunkenden Eichel hält; und zwar so, wie wenn er sie vor dem Eindringen noch etwas an der Glans ihrer gewölbten Klitoris reiben und sie mit den quellenden Elixiren der Lust überströmen wollte. Corinne-Crescence blickt ihm von unten her, den linken Arm hinter dem Kopf, mit aufgelöstem Haar und üppig geschürzten Lippen entgegen, wie in erwartungsvoller Neugier, ob Henri-Ovid die Ars amatoria, die er in seinen berühmten Liedern verherrlicht, auch in praxi so überzeugend auszuüben vermöchte … – Wie aber könnte die Wirklichkeit jemals halten, was die poetische Phantasie verspricht?

Enée et Didon, Agostinos nächstes Blatt, sind der Trojaner Äneas und Dido, die Königin von Karthago, bei der der Held einen Zwischenhalt einlegt. Vergil erzählt die Geschichte, wie er gerade, seinen alten Vater Anchises auf den Schultern, dem brennenden Troja entfloh und in Didos Reich Unterschlupf fand. Die beiden befinden sich, vielleicht am Rande eines Jagdausflugs, gerade in einer dunklen felsüberhangenen Höhle. Ist es nicht genau wie die Szene aus Shakespeares Titus Andronicus: wo während der Jagd die Kaiserin Tamora ihr Gefolge verlassen hat und ganz allein im Walde mit dem geliebten Mohren zusammentrifft, und die zu den schauerlich süßesten Zaubergemälden der romantischen Poesie gehört? Oder hat sie ein glücklicher Sturmwind überrascht, so dass sie in der verschwiegenen Grotte Zuflucht suchten? Ausnahmsweise ist es einmal kein direkter Geschlechtsakt. Der Held hat nämlich noch ganz seine martialische Rüstung an, mit umgürtetem Schwert, und hält die entblößte Königin auf seinem martialischen Schoß.

Entblößt insofern, als sie erst unterhalb der noch bedeckten Brüste ihr Kleid geöffnet und von da weit zurückgeschlagen hat, so dass sie vom schön gewölbten Bauch abwärts mit nacktem Unterleib erscheint und im Mittelpunkt des Werks vollen Einblick in ihre karthaginiensische Schatzkammer bietet. Sie hat nämlich, auf seinem Schoß hockend, die Beine so passend gespreizt, dass man direkt in ihre Gabel mit ihrer königlich gekerbten Vulva blickt. In dieser Öffnung steckt nun ausnahmsweise nicht das ganze Gewaffen, sondern bloß ein abgebogener Finger des trojanischen Helden, und zwar der Zeigefinger der linken Hand, die unter ihrem Schenkel hindurch geführt ist und ihre majestätische Muschi massiert. Vielleicht macht er sie so gerade scharf und bereitet sie auf das nächste Manöver vor. Vielleicht hat er sein Unterzeug ja bereits abgestreift und wartet unter übergeschlagenem Waffenrock mit steil erigiertem Gemächt auf den Zeitpunkt völliger Erstürmung.

Mit der rechten Hand hält er sie zärtlich Kopf an Kopf, Stirn an Stirn bei sich. Dido hat als Insignien ihrer Würde noch die gezackte Krone auf dem Haupt und hält in der Rechten ihr königliches Szepter, während die Linke um die Schulter ihres Lovers geschlungen ist. Das Rührendste dabei ist der Ausdruck beider Gesichter: wie er ihr sei's andächtig sei's scheinheilig ins Antlitz blickt, wie um zu prüfen, welche Wirkung seine Handgreiflichkeiten haben, währenddes sie den Blick so gesenkt hält, wie wenn sie sich ganz auf ihre Übergabe konzentrieren wollte.

Im Vordergrund rechts unten hält der weißgeflügelte knäbische Gott Amor, mit seinen Pfeilen im umgehängtem Köcher, eine brennende Fackel empor, wie um die spektakuläre Szene recht auszuleuchten. Bestimmt checkt er mit seinem Kennerblick, ob der bärtige Haudegen sich in dieser Sparte, Spalte, ebenso bewährt wie auf den Schlachtfeldern Ilions und mit kampferprobter Faust auch diesen Zweikampf besteht. Bei genauerem Hinsehen scheint das Genital des kleinen Spanners über seinen winzigen Hoden steif aufrecht stehend, was bei dem anregenden Vorbild nicht wundert, denn Dido, unter der Hand des trojanischen Helden geschärft, windet sich und zappelt wie ein Fisch an der Angel. Jetzt ist Äneas' phrygischer Griff tief in ihrer Spalte und knetet ihre Schleimhaut wie einen Haufen aufgehenden Hefeteig.

Aber wie? Befriedigt er sie allein mit der Hand, anstatt sie nur für den ultimativen Sturm mürbe zu machen? Letzten Endes liegt es in der Hand des Dichters Henri-Vergil, wie er die Szene ausgehen lässt. Henri bevorzugt die Vollversion und setzt Agostinos Exposition organisch fort. Nach einer Weile nämlich ist Dido-Crescence so karthaginisch aufgegeilt, dass sie es nicht länger aushält und nicht anders mehr kann, als mit weitgespreizten Schenkeln zurückfallend – wie weiland Desirée – ihr atemloses „Jetzt will ich dich spüren!“ zu hauchen. Da springt der vergilische Held Aeneas-Henri, der sich das nicht zweimal sagen lässt, auf beide Beine, reißt sich den ledernen Waffenrock vom Leib und bringt seine aggressiv martialischen Gewaffen in Anschlag. Vielleicht zieht er aber auch nur ein bisschen den Rock auseinander, und in blendender Helle erglänzt sein längst im Hinterhalt liegendes, prächtiges, vor Erregung blauviolett angelaufenes, schleimüberquellendes Ding im Schein von Cupidos Fackel. So kniet er sich über sie, entlässt sein lauerndes Gemächt wie nächtens die Krieger aus Odysseus' Pferd, zwängt es zwischen ihre ballonartig geblähten Labien und pflügt mit kräftigen Stößen die Furche, die seine Hände vorab so fruchtbar bestellten. Nicht allzu lang, und zuckend entlädt er sich – aaahhh … – in die schöne Dido-Crescence, während sie in der Explosion ihres Blutes nur noch unverständliche Laute lallt. Vielleicht geht von dem Anblick sogar dem kleinen Spanner Cupido einer ab. Wie in Shakespeares Titus Andronicus Tamora mit dem Mohren:


Nach solchem Zweikampf, wie der war, den Dido –

Erzählt man – mit Äneas einst genoss,

Als glücklich sie ein Sturmwind überfiel

Und die verschwiegne Grotte sie verbarg,

Lass uns verschlungen beide, Arm in Arm,

Wenn wir die Lust genossen, goldnem Schlaf

Uns überlassen ...


Henri hardcore II - Heines Mannesjahre

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