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26: Debra

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Aber auch einheimische deutsche Schauspielerinnen hinterlassen einen unauslöschlichen Eindruck bei ihm. Es ist die Zeit des so genannten ,Fräuleinwunders' der Fünfzigerjahre, als sich die ganze Welt über die mirakulöse Schönheit der jungen deutschen Frauen wundert. Einmal sieht er im Schaukasten eines Düsseldorfer Kinos, wie gebannt von dem bezaubernden Körper, die junge Senta Berger nackt auf einem Liegestuhl in der Sonne liegen. Susanna im Bade. Verschämt geht er vor der Vitrine hin und her, heimlich um sich blickend, ob er nicht seinerseits bei seinem Voyeurismus beobachtet wird. Senta ist aber auch wirklich so ein Fräuleinwunder, dass ihr sogar der bekannte Hollywoodstar Richard Widmark an die Wäsche will.

Ebenso machen ihn die fränkische Elke Sommer, Karin Baal, Karin Dor, die Österreicherinnen Marisa Mell und Maria Perschy oder die italienische Gina Lollobrigida an. Aber auch Angelika Domröse oder Renée Soutendijk sind sein Typ. Die schöne Schwedin Britt Ekland hat Mitte der 1970er Jahre eine Affäre mit dem englischen Rockstar Rod Stewart, von dem sie sagt, er sei der sinnlichste Mann, der ihr je begegnet ... Harry, der es zufällig in der Zeitung liest, fragt sich gelb vor Eifersucht, wie sie dergleichen behaupten mag, während er selber noch lebt? Der sinnlichste Mann, der ihr je begegnet – ja, weil sie ihm nie begegnet ist, kann sie es nicht besser wissen. Ahnen diese schönen Weiber eigentlich, welche Wirkung sie auf kleine Jungen haben? Wie sie auf erwachsene Männer wirken, wissen sie natürlich. Aber ahnen sie auch, wie sehr sie schon auf die juvenile Sinnlichkeit wirken? Zumindest auf solch geborene Anbeter weiblicher Schönheit wie Harry? Was kann ein Erdensohn mehr verlangen von einem Weibe? Ist ein solches nicht ein wandelndes Paradies?

Wird er, Ritter von der traurigen Gestalt, jemals eines solchen teilhaftig werden, oder muss er, wie die Weiber im Koran, sich mit dem bloßen Anblick des Paradieses begnügen?

Viele Filme sind erst ab sechzehn, so dass er nicht hinein darf. Er hat das Gefühl, als würde ihm dadurch etwas vorenthalten, was wesentlich mit zum Leben gehört. Offenbar machen da Männer und Frauen etwas zusammen, was er noch nicht sehen darf. Ein information hiding, das man Jugendschutz nennt. Offenbar soll er davor geschützt werden, das zu sehen, wonach es ihn am meisten verlangt. Das weckt die unwiderstehliche Neigung in ihm, es sich wenigstens vorzustellen. Daher erhebt sich die Frage, ob man es die Jugend doch nicht lieber gleich sehen lassen soll, weil die Vorstellungen, zu denen man sie nötigt, womöglich noch viel gefährlicher für sie sind als das, wovor man sie schützt.

Soviel unverhüllte Frauenschönheit in den Journalen und auf der Leinwand, und da soll eine so romantische Natur wie die Harrys nicht ein für allemal durch Liebessucht verdorben werden? Geradeso gut könnten Sie einen notorischen Gewohnheitstrinker in Ihrem Weinkeller logieren lassen. Oder mit einem Pollenallergiker auf einer blühenden Wiese herumspazieren. Werden die weiblichen Akte auf den Bildern der alten Meister, die er in der Arche Noä absorbierte, jetzt erstmals in der Geschichte doch gleichsam realiter verkörpert und auf der Leinwand zu leibhaftem Leben erweckt. Im modernen Film ist er wie Pygmalion vor der lebendig gewordenen Statue Galathées.

Sein römischer Lieblingsdichter, Ovid, schildert es in den Metamorphosen: Der Künstler Pygmalion aus Zypern ist aufgrund schlechter Erfahrungen mit den so genannten Propoetiden – sexuell entarteten Weibern – zum Frauenfeind geworden und lebt nur noch für seine Bildhauerei. Ohne bewusste Absicht, also unbewusst, erschafft er eine elfenbeinerne Skulptur, die wie eine lebendige Frau aussieht. Er behandelt die Figur immer mehr wie einen echten Menschen und verliebt sich schließlich in sie. An einem Festtag der Venus betet er zu der Göttin. Zwar äußert er nicht direkt den Wunsch, seine Statue möge menschlich werden, doch fleht er darum, seine künftige Frau möge so sein wie sie. Als er nach Hause kommt und wieder mal dem Elfenbein schmeichelt, wird dieses allmählich lebendig. Im 18. Jahrhundert erhielt die zum Leben erweckte Statue den Namen Galatea. Harry stellt sich die Freuden Pygmalions mit Galatea ganz realistisch vor.

Voilá, der alberne antike Mythos ist durch den modernen Film realisierbar geworden! Pygmalions Flehen ward durch die moderne Technik erhört, und was einstmals nur in knöchernem Elfenbein oder Stein oder Marmor erschien, das tummelt sich nun wie es leibt und lebt in Cinemascope im Evaskostüm auf der Leinwand.

Kann man sich eine schönere Galathée denken als Debra Paget bei ihrem Tempeltanz?

Gibt es eine echtere Venus génitrice als die schöne Schweizerin Ursula Andress in James Bond jagt Dr. No, wie sie als Muscheltaucherin Honey Ryder in weiß gegürtetem Bikini singend wie eine karibische Aphrodite Anadyomene schaumgeboren dem Meer entsteigt? Davor verblasst sogar noch Botticellis Gemälde mit der schönen Florentinerin Simonetta Vespucci. Sie trägt, da sie den blauen Wassern entsteigt, einen weißen Bikini, darüber um die Hüften einen weißen Gürtel fürs Muschelmesser. Gern würde auch Harry mit ihr nach Muscheln, nach ihrer Muschel, tauchen. Die Andress entwarf den Bikini angeblich zusammen mit dem Regisseur Terence Young, und ein Schneider aus Jamaika hat ihn während des Drehs unter Verwendung eines ihrer diversen Bügel-BH's genäht. Infolge der Szene wird der Bikini mit Gürtel in den 60er Jahren rund um den Globus zur Mode; die gegürtete und bewaffnete Aphrodite illustriert den Frauentyp, der eine sexuelle Revolution einleitet.

Angelehnt an die Première 1962 wird der Dr.-No-Bikini 2002 modisch reaktiviert. Jetzt ist es die bezaubernd schöne Amerikanerin Halle Berry in Stirb an einem anderen Tag, die im orangefarbenen Zweiteiler, weiß gegürtet, als farbiges Bondgirl dem feuchten Element entsteigt. Hatte Shakespeare eine schönere Kleopatra im Sinn, die in ihrer Barke auf dem Fluss Cydnus treibend dem Antonius den Kopf verdreht, wie er es von seiner Lektüre mit Abbé Daulnoin her kennt? Das Zitieren alter und neuer Bücher ist das Hauptvergnügen eines jungen Autors, und so ein paar grundgelehrte Zitate zieren den ganzen Menschen:

I will tell you. The barge she sat in, like a burnish'd throne, Burn'd on the water: the poop was beaten gold; Purple the sails, and so perfumed that The winds were love-sick with them; the oars were silver, Which to the tune of flutes kept stroke, and made The water which they beat to follow faster, As amorous of their strokes. For her own person, It beggar'd all description: she did lie In her pavilion — cloth-of-gold of tissue — O'er-picturing that Venus where we see The fancy outwork nature: on each side her Stood pretty dimpled boys, like smiling Cupids, With divers-colour'd fans, whose wind did seem To glow the delicate cheeks which they did cool, And what they undid did.

Bei Schlegel-Tieck:

Ich will's berichten. –

Die Bark, in der sie saß, ein Feuerthron,

Brannt auf dem Strom: getriebnes Gold der Spiegel,

Die Purpursegel duftend, dass der Wind

Entzückt nachzog; die Ruder waren Silber,

Die nach der Flöten Ton Takt hielten, dass

Das Wasser, wie sie's trafen, schneller strömte,

Verliebt in ihren Schlag; doch sie nun selbst –

Zum Bettler wird Beschreibung: sie lag da

In ihrem Zelt, das ganz aus Gold gewirkt,

Noch farbenstrahlender als jene Venus,

Wo die Natur der Malerei erliegt.

Zu beiden Seiten ihr holdselge Knaben,

Mit Wangengrübchen, wie Cupidos lächelnd,

Mit bunten Fächern, deren Wehn durchglühte

(So schien's) die zarten Wangen, die sie kühlten;

Entzündend, statt zu löschen.

Einen weißen Badeanzug trägt auch die schöne Französin Emmanuelle Béart in Chabrols L'Enfer.

Gibt es eine vorbildlichere Susanna im Bade als Bo Derek in Zehn – Die Traumfrau? Ein spanischer Freund zeigt sie Harry in einer Illustrierten im Bikini am Strand. Das einzige Wort, das ihm dazu einfällt, ist: emocionante aufwühlend, bewegend.

Die schönsten Frauen der Welt flimmern jetzt sinnberaubend über die Leinwand. Er sieht Gina Lollobrigida in Der Glöckner von Notre Dame nach Victor Hugo, mit Anthony Quinn in der Rolle des verwachsenen Quasimodo. Eine junge Dame, die mir sehr nahesteht, äußerte sich jüngst über diese Hässlichkeitssucht der Hugoschen Muse mit sehr treffenden Worten. Sie sagte nämlich: „Die Muse des Victor Hugo mahnt mich an das Märchen von der wunderlichen Prinzessin, die nur den hässlichsten Mann heiraten wollte und in dieser Absicht im ganzen Lande das Aufgebot ergehen ließ, dass sich alle Junggesellen von ausgezeichneter Missbildung an einem gewissen Tage vor ihrem Schlosse als Ehekandidaten versammeln sollten … Da gab's nun freilich eine gute Auswahl von Krüppeln und Fratzen, und man glaubte das Personal eines Hugoschen Werkes vor sich zu sehen … Aber Quasimodo führte die Braut nach Hause.“

Er sieht Kim Novak in Hitchcocks Vertigo, Marilyn Monroe in Let's make love, Ingrid Thulin in Der Krieg ist vorbei. Er sieht die umwerfend schöne Julie Christie als Larissa in Doktor Schiwago und ihren Sex zusammen mit Donald Sutherland in Wenn die Gondeln Trauer tragen. Die fragliche Szene wird mehrmals gekürzt, damit der Film in den USA die Bewertung Restricted – Children Under 17 Require Accompanying Parent or Adult Guardian erhält. Der Film ist der größte Nonsens, den man sich denken kann, allein der Sexszenen mit der wunderschönen Julie Christie wegen aber ein unvergesslicher Klassiker. Und was ist mit Anne Hathaway? Selbst Shakespeare hätte keine schönere Frau verdient.

Der Unterschied zwischen der alten und neuen Zeit ist ja nicht, dass es früher keine so heißblütigen Dichter gegeben hätte wie heute. Ovid, Catull, Villon, Rousseau, Flaubert, Stendhal, Tolstoi, Heine ... sind unübertrefflich. Solche genetisch determinierten Erotomanen gibt es seit der Steinzeit, wenn nicht seit Homo habilis oder, wie schon der Name sagt, Homo erectus. Der Unterschied ist bestimmt auch nicht, dass die kleinen Jungs zu Betty van Geldern's Zeit von den Müttern weniger verzärtelt und erotisiert wurden; „durch Liebessucht verdorbene Kinder“ gab es Gottfried Keller zufolge immer schon. Der Unterschied zwischen der alten und neueren Zeit liegt vielmehr darin, dass in der modernen von vorn bis hinten durchsexualisierten schönen neuen Welt schon die Kinder mit erotischen Reizen geradezu infiltriert werden. Die sexistische Tendenz ist inzwischen universell. Wenn überhaupt, dann hätte der Jugendschutz im Kleinkindalter anzusetzen, was aber ganz aussichtslos wäre. Anderseits, warum die Menschen in ihrer Jugend vor etwas schützen, dem sie als Erwachsene dann sowieso ihr Leben lang exponiert sind?

Fasziniert ist er vom Düsseldorfer Karneval. Die Leute gehen leichtgeschürzt, benehmen sich wie bacchantisch. Die bürgerliche Wohlanständigkeit scheint auf einmal so urgesellschaftlich außer Kraft, dass es einem ganz unanständig im Blut kribbelt. Darin sieht er seine Chance. Ein bacchantischer Geist ergreift sein ganzes Wesen. Mensch ist man erst recht auf dem Maskenballe, wo die wächserne Larve unsere gewöhnliche Fleischlarve bedeckt, wo das schlichte Du die urgesellschaftliche Vertraulichkeit herstellt, wo ein alle Ansprüche verhüllender Domino die schönste Gleichheit hervorbringt, und wo die schönste Freiheit herrscht – Maskenfreiheit. Für mich hat eine Redoute immer etwas höchst Ergötzliches. Er geht auf den Ball, um sich an die kleinen Mädchen heranzumachen:

Citronia hab ich genannt

Das wunderbare Zauberland,

Das ich einst bei der Hindermans

Erblickt im goldnen Sonnenglanz –

Es war so zärtlich ideal,

Zitronenfarbig und oval,

So anmutvoll und freundlich mild

Und stolz empört zugleich – dein Bild,

Du erste Blüte meiner Minne!

Es kam mir niemals aus dem Sinne.

Aber seltsam! Die scheinbare Freizügigkeit ist bloße Fassade, die kleinen Mädchen in ihrer spärlichen Kluft sind genauso anständig wie sonst auch und mögen es nicht, wenn man sie freizügig anfasst. Sie haben sich nur so entzückend verkleidet, sind hinter ihren Masken aber genauso züchtig geblieben wie sonst auch. Vom Fasching enttäuscht, legt er die Pappnase ab.

Im Söller der Arche Noä liest er jetzt James Fenimore Coopers Lederstrumpf, Karl May, Flauberts Salammbô und L'éducation sentimentale, Eine Liebe Swans von Proust, Lady Chatterley von D. H. Lawrence, Hemingway, Henry Millers Stille Tage in Clichy, Portnoys Beschwerden von Philip Roth. Schon in der Mittelstufe hält er vor der Klasse einen Vortrag über Rilkes Gedicht Der Panther aus dem Jardin des Plantes, Paris:

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe

so müd geworden, daß er nichts mehr hält.

Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe

und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,

der sich im allerkleinsten Kreise dreht,

ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,

in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille

sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,

geht durch der Glieder angespannte Stille –

und hört im Herzen auf zu sein.

Als er größer wird, bekommen sie in der Schule Physik, Chemie, Biologie. Die Vorgänge in der Natur werden durch die Naturgesetze erklärt. Die Welt ist nicht von einem übernatürlichen Wesen geschaffen, sondern trägt ihre eigene Ursache in sich. Es geht auf der Welt allenthalben mit natürlichen Dingen zu; und ,natürlich' heißt, dass alles in der Welt den Naturgesetzen folgt, wie sie von der Naturwissenschaft erforscht werden. Sind schon so viele natürliche Vorgänge naturgesetzlich-rational erklärbar, dann scheint auch schon alles in der Welt rational erklärbar – und alle metaphysischen Spekulationen erübrigen sich! Der wissenschaftliche Naturalismus hat sich als allein gültige Weltanschauung durchgesetzt.

Trägt die Welt aber ihre Erklärung in sich, dann trägt sie wohl auch ihren eigenen Grund in sich und es braucht keinen ,ersten Beweger' mehr. Es ist albern, zu glauben, der Kosmos um uns herum könnte durch ein einziges übernatürliches Wesen erschaffen sein!

1953 entschlüsseln Watson und Crick das Erbmolekül DNS, den molekularen Bauplan der Lebewesen einschließlich des Menschen. Die Lebewesen sind biochemische Maschinen, schreibt der Nobelpreisträger Jacques Monod und bestätigt damit Lamettries materialistische Ansicht der Maschine Mensch. Auch der menschliche Geist ist eine Funktion der Maschine – eine Maschinenfunktion – und endet mit dieser Maschine; die Seele ist die Gesamtheit der Gehirnvorgänge, und endet mit dem Tod des Gehirns. Aus dem frühesten Weltalter scheint uns nichts übriggeblieben als einige triste Formeln des Betrugs. Man muss nur die Augen aufmachen, um das zu sehen. Das ist die naturalistische Identitätstheorie im Geist-Körper-Problem, die sich wissenschaftlich durchgesetzt hat. Schon vor dem Abitur ist er überzeugter Identist: ,Sie', Ihre Freuden und Leiden, Ihre Erinnerungen, Ihre Ziele, Ihr Sinn für Ihre eigene Identität und Willensfreiheit, schreibt Francis Crick 1994, – bei alledem handelt es sich in Wirklichkeit nur um das Verhalten einer riesigen Ansammlung von Nervenzellen und dazugehörigen Molekülen. Lewis Carrolls Alice aus dem Wunderland hätte es vielleicht so gesagt: „Sie sind nichts weiter als ein Haufen Neurone.“ Diese Hypothese ist so weit von den Vorstellungen der meisten Menschen entfernt, dass man sie wahrlich als erstaunlich bezeichnen kann. Harry weiß es schon mit neunzehn.

Alle Empfindungen von Lust und Schmerz sind chemische Vorgänge im Gehirn, auch die sexuellen. Diese besonders! Dass er seine Sexualität so überstark empfindet, lässt ihn, weil die Sexualität etwas Biologisches ist, für den Menschen als biologisches Wesen besonders empfänglich werden.

Der überwältigende Fortschritt naturwissenschaftlicher Erkenntnis bewirkt zugleich eine Entzauberung der Welt. Das Wort ist aber doppeldeutig. Auf der einen Seite wird der Mensch vom bösen Zauber übelwollender Mächte befreit, die er durch Beschwörungen und Gebete beschwichtigen zu müssen glaubte. Die Welt wird nicht von bösen Dämonen, guten oder bösen Geistern beherrscht, sondern von neutralen Naturgesetzen, die sich erforschen lassen. Das Gehirn aber, „mit dem der Mensch nun beginnt, seine eigene langwierige biologische Vergangenheit zu verstehen“, so der Anthropologe Washburn, „entwickelte sich unter Bedingungen, die längst nicht mehr gegeben sind. Dieses Gehirn entwickelte sich sowohl in seinem Umfang wie in seiner neurologischen Komplexität während einiger Jahrmillionen, und während des größten Teils dieser Zeit lebten unsere Vorfahren unter dem täglichen Zwang, auf der Grundlage von überaus begrenzten Informationen agieren und reagieren zu müssen. Ein Großteil dieser Information war darüber hinaus falsch … Doch das Gehirn … war dasselbe Gehirn, das sich heute mit den Feinheiten der modernen Mathematik und Physik auseinandersetzt.“ – Auf der anderen Seite verliert die Welt durch diese Rationalisierung aber auch ihren reizvollen romantischen Zauber. In einem gewissen Sinn sind wir alle romantiques defroqués. Harry fragt sich, ob der Gewinn des einen den Verlust des andern wohl aufwiegt. Er denkt an Hofmannsthals Chandos-Brief. Aber natürlich ist das bloß rhetorisch gemeint. Wie in dem jüdischen Witz: Wo liegt das Problem, ist der Onkel aus Amerika zu reich? Die rationale Beherrschung der Welt ist ein unschätzbarer Gewinn!

So, leidenschaftlich zwischen krassen Extremen, der kühlen Geistigkeit des Naturalismus und der verzehrenden Sinnenglut seines Blutes hin und her gerissen, könnte er das Lebensgefühl seiner Jugend nicht besser wiedergeben als der junge Lyriker Brecht in seinem Choral vom großen Baal:

Als im weißen Mutterschoße aufwuchs Baal,

War der Himmel schon so groß und still und fahl,

Jung und nackt und ungeheuer wundersam,

Wie ihn Baal dann liebte, als Baal kam.

Und der Himmel blieb in Lust und Kummer da,

auch wenn Baal schlief, selig war und ihn nicht sah:

Nachts er violett, und trunken Baal,

Baal früh fromm, er aprikosenfahl.

Und durch Schnapsbudike, Dom, Spital

Trottet Baal mit Gleichmut und gewöhnt sich's ab.

Mag Baal müde sein, Kinder, nie sinkt Baal:

Baal nimmt seinen Himmel mit hinab.

In der Sünder schamvollem Gewimmel

Lag Baal nackt und wälzte sich voll Ruh:

Nur der Himmel, aber immer Himmel,

Deckte mächtig seine Blöße zu.

Und das große Weib Welt, das sich lachend gibt

Dem, der sich zermalmen lässt von ihren Knien,

Gab ihm einige Ekstase, die er liebt,

Aber Baal starb nicht: er sah nur hin.

Und wenn Baal nur Leichen um sich sah,

War die Wollust immer doppelt groß.

Man hat Platz, sagt Baal, es sind nicht viele da.

Man hat Platz, sagt Baal, in dieses Weibes Schoß.

Gibt ein Weib, sagt Baal, euch alles her,

Lasst es fahren, denn sie hat nicht mehr!

Fürchtet Männer nicht beim Weib, die sind egal:

Aber Kinder fürchtet sogar Baal.

Alle Laster sind zu etwas gut,

Und der Mann auch, sagt Baal, der sie tut.

Laster sind was, weiß man, was man will.

Sucht euch zwei aus: eines ist zuviel!

Seid nur nicht so faul und so verweicht,

Denn Genießen ist bei Gott nicht leicht!

Starke Glieder braucht man und Erfahrung auch:

Und mitunter stört ein dicker Bauch.

Zu den feisten Geiern blinzelt Baal hinauf,

Die im Sternenhimmel warten auf den Leichnam Baal.

Manchmal stellt sich Baal tot. Stürzt ein Geier drauf

Speist Baal einen Geier, stumm, zum Abendmahl.

Unter düstern Sternen in dem Jammertal

Grast Baal weite Felder schmatzend ab.

Sind sie leer, dann trottet singend Baal

In den ewigen Wald zum Schlaf hinab.

Und wenn Baal der dunkle Schoß hinunter zieht:

Was ist Welt für Baal noch? Baal ist satt.

Soviel Himmel hat Baal unterm Lid

Daß er tot noch grad gnug Himmel hat.

Als im dunklen Erdenschoße faulte Baal

War der Himmel noch so groß und still und fahl,

Jung und nackt und ungeheuer wunderbar,

Wie ihn Baal einst liebte, als Baal war.

Sein Deutschlehrer Professor Kramer – der jetzt Baumgartner heißt, und auch nicht mehr ,Professor' ist – hat sein eigenes Bild von ihm. Er, der seinen Dialog mit Natalien gelesen hat, spürt seine kreative Unruhe.

Einmal als er in der Halle geht, kommt Kramer hinter ihm drein.

„Ihr Gang“, sagt er, als er ihn eingeholt hat, „strömt eine beängstigende Freiheit aus!“

Ein andermal im Fasching, im Anschluss an eine Schüleraufführung von Oscar Wildes Bunbury zusammen mit ihm und einigen Mädchen in einer Bierstube, deutet er mit einem halb spekulativen, halb ironischen Blick auf ihn und sagt mit Blick auf die Mädchen: „Thomas Wolfe! Er wird ein Thomas Wolfe. Da muss man sich ranhalten!“

Harry ist ihm spontan dafür dankbar. Er weiß nicht, wer Thomas Wolfe ist, nimmt sich aber mit Bestimmtheit vor, nächstens etwas von ihm zu lesen. Die Mädchen müssen den Fingerzeig aber nicht verstanden haben, da keines von ihnen, auch in der Folge nicht, Anstalten trifft, ihm Folge zu leisten.

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