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29: Linda

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Die Matura nennt man jetzt Abitur. Nach dem Abitur, als seine Klasse auf eine Autorallye geht, macht er eine Spanienreise, um nach dem andalusichen Flamenco zu recherchieren. Er begegnet Pepi und Loli in der Straße Ramón y Cajal und Marina, die aus Marokko herüber getrampt kommt, und hört zum ersten Mal von dem Stargitarristen Paco de Lucía.

Von der Reise zurück, sucht er besonders die Hamburger Alsterpavillons auf. Besonders vor dem einen, dem so genannten Schweizerpavillon, lässt sich gut sitzen, wenn es Sommer ist und die Nachmttagssonne nicht zu wild glüht, sondern nur heiter lächelt und mit ihrem Glanz die Linden, die Häuser, die Menschen, die Alster und die Schwäne, die sich darauf wiegen, fast märchenhaft lieblich übergießt. Da lässt sich gut sitzen, und da sitzt er gut gar manchen Sommernachmittag und denkt, was ein junger Mensch eben so denkt, nämlich gar nichts, und betrachtet, was ein junger Mensch eben so betrachtet, nämlich die jungen Mädchen, die vorübergehen – und da flattern sie vorüber, jene holden Wesen mit ihren geflügelten Häubchen und ihren verdeckten Körbchen, worin nichts enthalten ist – da trippeln sie dahin, die bunten Vierlanderinnen, die ganz Hamburg mit Erdbeeren und eigener Milch versehen, – da stolzieren die schönen Kaufmannstöchter, mit deren Liebe man auch so viel bares Geld bekommt – da wandeln Priesterinnen der schaumentstiegenen Göttin, hanseatische Vestalen, Dianen, die auf die Jagd gehen, Najaden, Dryaden, Hamadryaden und sonstige Predigerstöchter – ach! da wandelt auch Minka und Heloisa! Wie oft sitzt er vor dem Pavillon und sieht sie vorüberwandeln in ihren rosagestreiften Roben. – „Prächtige Dirnen!“, rufen die tugendhaften Jünglinge, die neben ihm sitzen – Die eine möcht ich mir mal als Frühstück, und die andere als Abendbrot zu Gemüte führen, und ich würde an solchem Tage gar nicht zu Mittag speisen. Harry sagt nie etwas dergleichen und denkt seine süßesten Garnichtsgedanken und betrachtet die Mädchen und den heiter sanften Himmel und die stille blaue Alster, worauf die Schwäne so stolz und so lieblich und so sicher umherschwimmen.

Kommst Du dort viel unter Weiber? schreibt er aus der Ferne an Immanuel Wohlwill. Nimm Dich in acht, die Hamburgerinnen sind schön. Die Röcke der bunten Vierlanderinnen sind inzwischen merklich kürzer geworden – so minimal, dass man früher nur davon träumen konnte und sie wortwörtlich Miniröcke heißen.

Der Minirock ist als kurzer Rock so geschneidert, dass sein unterer Saum mehr oder weniger weit oberhalb des Knies der Trägerin endet. Harry sieht es desto lieber, je weiter oberhalb er endet. In seiner Grundform war der Rock zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Kulturen als praktische Bekleidung in Form einer um die Hüfte gebundenen Verhüllung der primären Geschlechtsmerkmale zur ungehindert-beinfreien Bewegung bekannt. In der Antike waren, wie man in den Sandalenfilmen sieht, Miniröcke auch als Männerröcke beliebt. Heute noch gehören rote Miniröcke zur traditionellen Stammestracht der Massai-Männer. Der Minirock im engeren Sinn wird erst Anfang der 1960er Jahre in England von der Designerin Mary Quant für die Damenwelt neu entdeckt. Zunächst in der Öffentlichkeit aufgrund seiner erotisch interpretierten Signalwirkung skandalisiert, ist er eines der prägenden Beispiele für die Popkultur und die Kleidermode der weiblichen Jugend der westlichen Welt in den 1960er und 1970er Jahren. Später etabliert sich der Minirock – auch erweitert als Mini-Kleid – in unterschiedlichen Stil-Variationen in der Alltagsbekleidung von säkular ausgerichteten Industriegesellschaften und wird hauptsächlich in den warmen Jahreszeiten getragen.

Erstmals wird der aus Deutschland der frühen 1930er Jahre stammende und durch Quant wiederentdeckte Minirock 1962 in der britischen Vogue abgebildet. Schon drei Jahre später ist das zunächst als skandalös verunglimpfte Kleidungsstück zu einem weltweiten Verkaufsschlager geworden. Der französische Modedesigner André Courrèges etabliert den Minirock in der Pariser Modewelt. Mary Quant erhält für ihren Mut und ihre sinnlichen Kreationen 1966 den Order of the British Empire; zur Verleihung im Buckingham Palace erscheint sie im Minirock.

Sommers 1968 erklimmt der Minirock seine maximale Popularität, und 1969 als Mini-Mini oder Mikrorock die höchstmögliche Saumhöhe, wobei das Höschen zum öffentlich sichtbaren Bestandteil der Mode avanciert. Das gilt teils als Provokation oder Ausdruck einer allgemeinen Respektlosigkeit, teils aber auch als Zeichen des neuen Selbstbewusstseins der von überkommenen Zwängen befreiten Damenwelt. Die neue Länge setzt sich in allen Gesellschaftsschichten durch. Selbst das britische Königshaus gibt dem Trend nach und akzeptiert eine Länge von genau sieben Zentimetern über dem Knie. Miniröcke gibt es bald in allen Materialien, von edel bis billig, und sie werden bei jeder Gelegenheit, selbst im Winter, getragen. Die Strumpfindustrie zieht bald nach und bringt statt Nylonstrümpfen Strumpfhosen auf den Markt, die die Beine ins richtige Licht rücken. Auch Kleider werden gemäß der Minirocklänge zu Minikleidern.

So ist der Minirock das erste Merkmal der sexuellen Revolution, von der auch Harry profitiert. Zumindest visuell. Jetzt ist der Weg seiner süßesten Garnichtsgedanken vom Knie der Dame aufwärts wesentlich kürzer als früher. Aber was hat er wirklich davon? Der Strumpf am Spann ist da, doch wo er endet, ist weit von mir, kann er mit den Versen des jungen Gottfried Benn nur klagen.

Als er in der Klasse in seinem Schwerpunktfach Deutsch einen ausgiebigen Vortrag über Benns Gedicht Untergrundbahn hält, ist ein Kollege Kramers – der jetzt Baumgartner heißt –, namens Spach, mit in der Zuhörerschaft. Der ist offenbar zeichnerisch begabt, denn nach dem Vortrag überhändigt er ihm eine angefertigte Zeichnung, der ihn am Stehpult zeigt – mit einer großen Gedankenblase über dem Kopf, in der sich eine nackte Frau räkelt. Es erinnert ihn an die Zeichnung, die einmal in einem anderen Leben ein Münchner Kunstjünger von ihm gemacht hat, und mit ärgerlicher Verlegenheit betrachtet der Abkonterfeite dieses schlagende Argument, dass dem Maler doch unter Umständen auch einige Macht über den Dichter gegeben sei. Sollte das eine Kritik an seiner Interpetation sein? Wie anders aber hätte man Benn denn bitte interpretieren sollen?

Einmal sieht er am Alsterstrand von hinten, wie eine sonnenübergossene junge Frau mit einem ganz kurzen Mikrorock sich über einen Obststand beugt, um die Qualität der Früchte zu prüfen. Dabei rutscht der Saum so weit hoch, dass über ihren sonnenumgleißten Wammen der Ansatz ihres weißen eingezwängten Slips aufblitzt. In seinen Lenden schießt eine Stichflamme hoch. Sie ist genau seine Kragenweite. Er wittert was wie Büchners Dantonin der Atmosphäre; es ist, als brüte die Sonne Unzucht aus. Möchte man nicht drunter springen, sich die Hosen vom Leibe reißen und sich über den Hintern begatten wie die Hunde auf der Gasse?“ Warum kann er nicht einfach von hinten an sie ran, ihr den Rock noch etwas höher raffen, und den Slip über die Schenkel herunter, und sie auf offener Straße wie ein Hund von hinten über den Früchten begatten? Ein peruanischer Freund, der ihn begleitet, und der dasselbe sieht, bemerkt:

Las mujeres me alocan. – Die Frauen machen mich verrückt.“

In seiner Vorstellungswelt wimmelt es nun von Frauenröcken zwischen Knie und Saumhöhe. Manche davon, die so genannten Hot pants, sind so knapp, dass seine Gedanken sich an der Stelle stauen, wo der fransige Rand so in den obersten Oberschenkel schneidet, dass sich an dem weichen Fleisch eine kleine Ausbuchtung bildet.

Die frühen Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts bringen im subkulturellen Untergrund den so genannten Sexfilm. Nicht allein mehr, dass man die hübschesten Frauen spärlich bekleidet auf der Leinwand sieht, jetzt sind sie ganz nackt bis aufs Evaskostüm ausgezogen und tun so, wie wenn sie wirklich kopulierten. Manchmal geht auch Harry hin. So sieht er, um nur ein Beispiel zu nennen, die italienische Produktion Malizia mit der hinreißend schönen Laura Antonelli.

Der in Rom gut situierte Ignazio La Brocca, so die Handlung, hat kaum seine herrschsüchtige Frau beerdigt, da steht das neue Dienstmädchen vor der Tür – Angela, die von der Frau noch kurz vor ihrem Tod angestellt wurde. Man versteht gar nicht, wie die Frau ihrem Mann ein so verfängliches Ding ins Haus lassen kann, nachdem der seinerzeit von Dr. Wertheim für Henri engagierten Krankenpflegerin Mariette von Mathilde die Tür gewiesen wurde.

Schon beim ersten Anblick schnellt der Hormonpegel des Witwers alarmierend in die Höhe. Er und seine drei Söhne gewöhnen sich schnell an die Fürsorglichkeit der neuen Dienstbotin. So wenig an ihrer Hausarbeit auszusetzen ist, gilt die allgemeine Idolatrie des Männerhaushalts doch ungleich mehr noch ihrer erotischen Attraktivität. Der ältere Sohn, Antonio, wird immer zudringlicher und lässt keine Gelegenheit aus, die junge Frau zu bedrängen. Auch der Witwer selbst kann der Versuchung nicht widerstehen und macht ihr, nach Rücksprache mit einem Priester, trotz der kurzen Zeit seit dem Tod seiner Frau einen Heiratsantrag. Sie bedingt sich dafür aber das Einverständnis seiner Kinder aus. Der 18-jährige Antonio, der 6-jährige Enzino sind einverstanden, nur der 14-jährige Nino, in seiner pubertär-chaotischen Gefühlswelt Angela blind begehrend, verweigert sich.

Nino will, besessen von seinen seit kurzem erwachten erotischen Phantasien, Angela erpressen und verlangt immer dreister nach ihrer sexuellen Gunst. In seiner pubertären Unschuld hält er sie wie vom Schicksal geschickt, um ihn in die ersten Weihen der Liebe einzuführen. Die Konkurrenz zwischen Vater und Sohn vollzieht sich mit südländischem Temperament. Zwischen Angela und Nino kommt es zu einer heimlichen Beziehung auf Gegenseitigkeit, in der sie gezwungen ist, die erotischen Bedürfnisse des Pubertiers zu befriedigen, damit dieser ihrer Verehelichung zustimmt. Nach einer Reihe überfallartiger Besuche und geheimer Stelldicheins kommt es zu Ninos sexueller Initiation. Man sieht, während draußen gerade ein Learsches Gewitter tobt, die beiden wild zusammen rangelnd im Bett und kann sich vorstellen, wie der frühreife Junge Angelas üppiges Geschlecht penetriert. Der Hochzeit zwischen Ignazio und Angela steht somit nichts mehr im Wege.

Eigentlich sollte Harry über die Pubertät schon so weit hinaus sein, um sich noch mit Nino zu identifizieren. Anderseits ist ihm dessen Drangsäligkeit nach wie vor allzu vertraut. Hat er doch immer noch keine Frau, so dass er's ihm besser nachfühlt, als ihm lieb ist. Außerdem ist die Antonelli so hinreißend sexy, dass er nicht anders kann, als im Kino unterm Regenmantel zu masturbieren. – Einmal liest er in einer Zeitung, dass die Schauspielerin die Geliebte des französischen Action-Stars Jean-Paul Belmondo ist. Eines der Flittchen, die sich der smarte Franzose unter den Nagel reißt. Nicht zu sagen, wie er ihn um die Schickse beneidet! Belmondo gehört mit zu den berüchtigsten Frauenhelden der Zeit. Wieder einmal spürt er hebephrenisch stacheligen Sexualneid.

An der Schwelle zur pornografischen Ära steht der Film Der letzte Tango in Paris des italienischen Regisseurs Bernardo Bertolucci 1972, mit Maria Schneider und dem inzwischen in die Jahre gekommenen Marlon Brando: Der 45-jährige angegraute Amerikaner Paul lebt seit einiger Zeit in Paris. Seine französische Frau Rosa hat Selbstmord begangen. Er trifft auf Jeanne, eine 20-jährige Französin, die so vor sich hinlebt. Bei der Besichtigung einer Wohnung kommt es spontan, ohne dass sie sich erst miteinander bekannt gemacht hätten, zu einem wilden Geschlechtsakt, woraufhin sie wortlos die Wohnung verlassen. Als Jeanne am nächsten Tag wiederkommt, drängt Paul darauf, dass sie einander nichts von ihrem Leben erzählen und sich künftig nur in dieser Wohnung treffen, um miteinander zu schlafen. Jeannes Verlobter Tom, ein Jungfilmer, dreht fürs Fernsehen einen Pseudo-Cinéma-vérité-Streifen über sie. Zunächst empört darüber, dass er sie nicht nach ihrem Einverständnis gefragt hat, berichtet sie vor der Kamera doch von ihrer Familie und Kindheit. Derweil forscht Paul dem Tod von Rosa nach. In der heruntergekommenen Absteige, die sie führte, besichtigt er das Bad, in dem sie sich getötet hat; ein Dienstmädchen spielt ihr Vorgehen nach. Danach streitet er mit seiner Schwiegermutter, die ein kirchliches Begräbnis mit Priester, Blumen und Karten will, während er ihr wütend einen Priester verbietet.

Das nächste Mal sieht man Paul und Jeanne nackt umeinandergeschlungen sitzen. Das Verbot, von ihrem Leben zu erzählen, halten sie ein. Paul erzählt aber von seinen Eltern und seiner Jugend im ländlichen Amerika; Jeanne erzählt von ihren bisherigen sexuellen Erfahrungen und masturbiert. Wie Paul entdeckt, war einer der im Hotel einquartierten Bewohner, Marcel, der Geliebte seiner Frau. Paul und Marcel haben eine lange Unterhaltung, doch versteht Paul nicht, was Rosa in ihm gesehen hat. Beim nächsten Treffen vergewaltigt Paul Jeanne und erzwingt mit Butter als Gleitmittel analen Verkehr. Aus Revanche verpasst sie ihm mit einem Plattenspieler einen Stromschlag. Jeanne trifft erneut Tom, der ihr vor laufender Kamera vorschlägt, in einer Woche zu heiraten. Tom möchte mit ihr eine ,Pop-Ehe' führen. Von der Brautkleidanprobe läuft sie über zu Paul. Sie erklärt ihm, in ihm den Mann fürs Leben gefunden zu haben. Er fordert sie auf, sich die Fingernägel zu schneiden und ihre Finger in seinen Hintern zu stecken. Dann begibt er sich in den Raum, in dem seine Frau aufgebahrt liegt, und hält einen anklagenden Monolog. Weinend bringt er hervor, dass er in ihrer Ehe keine Zuneigung gefunden, dass sie ihn belogen und betrogen habe.

Als Jeanne wieder in die Wohnung kommt, ist Paul ausgezogen. So holt sie Tom, um die Wohnung zu besichtigen. Tom gefällt sie aber nicht. Jeanne verlässt die Wohnung nach Tom. Auf der Straße läuft ihr Paul nach, breitet sein Leben vor ihr aus und schlägt ihr vor, dass sie heiraten. In einem Lokal mit einem biederen Tangowettbewerb Pariser Bürger versucht er vergeblich, sie zu überzeugen. Sie stören mit ihrem Tanz die Paare auf der Tanzfläche und Paul zeigt der Wettbewerbsleitung den blanken Hintern. Schließlich ziehen sie sich in eine Ecke zurück, wo sie ihm mitteilt, dass es aus ist, und ihn dabei mit der Hand unterm Tisch letztmalig befriedigt. Sie verlässt den Ort, doch er folgt ihr durch die Stadt, sie flüchtet in ihre Wohnung und nimmt aus einer Schublade die Pistole ihres Vaters. Er fragt nach ihrem Namen, und noch während sie ,Jeanne' sagt, gibt sie einen Schuss auf ihn ab. Er bleibt tot auf dem Balkon, und sie murmelt Sätze vor sich hin, die sie später der Polizei gegenüber aussagen wird: dass sie ihn nicht kenne, dass er ein Verrückter gewesen sei, der sie verfolgt und vergewaltigen habe wollen. „Ich weiß nicht, wie er heißt.“ –

So kreist der Film thematisch um den Daseinsschmerz und die Unterdrückung des Individuums durch gesellschaftliche Institutionen und Erwartungen. Er polarisiert die Kritik, einige Sexszenen werden als erniedrigend und inakzeptabel empfunden. Die Bewertungen reichen von der Anerkennung als Meisterwerk bis hin zu entsetzter Ablehnung. Vorübergehend Opfer der Zensur, gerät der Film zu einem kassenträchtigen Skandalerfolg, der dem verblassten Starruhm Brandos wieder aufhilft. Bertolucci erlaubt ihm, in einigen Szenen zu improvisieren und Erfahrungen aus seinem Leben einfließen zu lassen. Marlon ist einer der wenigen Weltstars, die sich für ein so freizügiges Spiel zur Verfügung stellen. Harry kennt die meisten seiner klassischen Filme und wundert sich, wie er es sich leisten kann. Er versteht nicht alles in dem Film, hat aber das Gefühl, als müssten sich die Probleme darin auch anders lösen lassen. Marlon, der bereits seit längerer Zeit an Lungenfibrose leidet, stirbt 2004 im Alter von 80 im UCLA Medical Center in Los Angeles an Lungenversagen. Im Kreise der engsten Angehörigen wird er vier Tage darauf an unbekannter Stelle in LA eingeäschert. Unter Aufsicht von Tarita, Maria Christina Ruiz, deren Schwester Angela, und seinen Kindern Miko, Teihotu und Tuki wird die Hälfte seiner Asche im Death Valley vom Wind verweht. Die andere Hälfte nimmt Tarita mit und verstreut sie 2005 auf Tetiaroa in einer Lagune. Wie Storm auf Plattdeutsch schrieb:


Geliek as Rook un Stoof verswindt,

Also sind ock de Minschenkind.

Gleich so wie Rauch und Staub verschwindt,

Also sind auch die Menschenkind.


Ein vorläufiger Höhepunkt der sexuellen Emanzipation ist es, als in den Siebzigerjahren das Sexualstrafrecht liberalisiert wird. Der Pornografieparagraph wird abgeschafft, und der Pornofilm für Erwachsene freigegeben.

Das ist eine epochemachende Wendung. Harry erscheint es wie die bedeutendste Neuerung seit der Erfindung des Rades. Plötzlich sind die pornografischen Motive, die sich bislang in einschlägigen Magazinen verstecken mussten, zum ersten Mal offen als Hardcore im Film zu sehen. Hardcore ist eine explizite Darstellung der Sexualität, wobei der Geschlechtsakt in allen Details gezeigt wird. Dabei kommt es nicht auf die Handlung, sondern nur auf die sexuellen Aktivitäten an. Schon in der pornografischen Literatur ja war die Handlung stets auf eine Verkettung von Klischees beschränkt geblieben. Stil, Struktur, Bildhaftigkeit sollten den Leser nie von seiner Sinnenlust ablenken. So muss jetzt auch der Film aus einem Wechsel sexueller Szenen bestehen. „Die Passagen zwischen ihnen dürfen“, schrieb Nabokov über den pornografischen Roman, „nicht mehr sein als Verbindungsnähte für das Verständnis, logische Brücken einfachsten Entwurfs, kurze Ausführungen und Erklärungen, die der Leser vermutlich nur überfliegen wird, auf deren Vorhandensein er aber nicht verzichten will, weil er sich, wenn sie fehlten, betrogen fühlen würde (eine Denkweise, die auf die Gewöhnung an die ,wahren' Märchen der Kindertage zurückgeht).“ Überdies müssen die sexuellen Szenen im Film einer ansteigenden Linie folgen, neue Varianten bringen, neue Kombinationen, neue sexuelle Partner und damit ein stetiges Anwachsen der Zahl der Beteiligten (in mehr als einem Film wird gar der Gärtner hinzugerufen), so dass der Film gegen Ende mehr Unzüchtigkeiten enthält als in den ersten Sequenzen. Die Handlung hat fast immer nur eine Alibifunktion und geht schnell in den eigentlichen Sex über. Pornokinos des Typs PAM – ,Pa auf Ma' – schießen plötzlich wie die Pilze aus dem Boden.

Damit ist die Ära des Sexfilms, jetzt rückblickend Softcore genannt, an ihrem historischen Ende. Der Sexfilm stirbt geradeso aus, wie in der biologischen Evolution eine Spezies dadurch ausstirbt, dass eine neue Tierart auftritt und ihr die Ressourcen wegnimmt; wie die Saurier ausstarben, als die Säugetiere auf den Plan des Lebens traten.

Damit flimmert, was früher ,Unzucht' hieß, jetzt allenthalben über die Leinwand, so dass man eigentlich gar nicht mehr weiß, was das Wort noch für einen Sinn haben kann. Der Begriff Unzucht bezeichnete bislang abwertend ein menschliches Sexualverhalten, das gegen das in einem speziellen kulturellen oder religiösen Kontext empfundene, angenommene oder vorgegebene allgemeine Sittlichkeits- und Schamgefühl verstößt. Das konnte ebenso von einem säkularen wie religiösen Umfeld geprägt sein und war durch die Sittengeschichte hindurch nicht einheitlich definiert. Bis in die 1960er Jahre galten in den westlichen Ländern die Masturbation, der voreheliche Geschlechtsverkehr, Homosexualität und Ehebruch als Unzucht. Im Rahmen der gesellschaftlichen Liberalisierung nun wird Unzucht als Rechtsbegriff in Deutschland aufgegeben. Der Bundesgerichtshof entschied letztmals 1962, dass der Beischlaf unter Verlobten Unzucht und deren Förderung durch das Zurverfügungstellen einer Wohnung als Kuppelei strafbar sei. Mit der Großen Strafrechtsreform 1969 wurden u. a. die Straftatbestände des Ehebruchs und der Kuppelei abgeschafft. In der gegenwärtigen deutschen Rechtsprechung taucht der Begriff nicht mehr auf. Im Strafgesetzbuch ist „Unzucht mit Minderjährigen“ durch „Sexueller Missbrauch von Kindern“ ersetzt.

Geschlechtsverkehr mit Minderjährigen ist in Deutschland nicht grundsätzlich verboten. Es kommt aber auf das Alter des Teenagers und des älteren Sexualpartners an – und darauf, in welchem Verhältnis sie stehen. Die Regelung ist penibel durchdacht und höchst differenziert. Sexuelle Handlungen mit jungen Minderjährigen bis 13 Jahre sind generell verboten. Sie gelten laut Paragraph 176 des Strafgesetzbuches als sexueller Missbrauch von Kindern und werden mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft. Verboten ist nicht nur Geschlechtsverkehr mit den Kindern, man darf vor ihnen auch selbst keine sexuellen Handlungen vornehmen oder ihnen Pornos zeigen. – Sexuelle Kontakte mit 14- oder 15-Jährigen sind erlaubt, vorausgesetzt, der ältere Sexualpartner ist höchstens 21. Ist er älter, können sexuelle Kontakte nach Paragraph 182 des Strafgesetzbuches als sexueller Missbrauch von Jugendlichen geahndet werden, wenn die „fehlende Fähigkeit des Opfers zu sexuellen Selbstbestimmung“ ausgenutzt wird. Der berühmte polnische Filmregisseur Roman Polanski hat in Amerika angeblich eine 14-Jährige vergewaltigt. Sein Pech ist, von der fraglichen Gewalt einmal abgesehen, offenbar, dass er schon älter als 21 war. Unter 18-Jährige dürfen von Erwachsenen außerdem nicht für Sex bezahlt werden. Besondere Regeln gelten für Schutzbefohlene wie Schüler, Auszubildende oder Konfirmanden. Nach Paragraph 174 des Strafgesetzbuches sind sexuelle Handlungen mit 14- oder 16-Jährigen verboten, wenn man sie erziehen, ausbilden oder betreuen soll. – Sex mit 16- oder 17-Jährigen dagegen ist auch älteren Erwachsenen erlaubt. Allerdings ist es nach Paragraph 182 des Strafgesetzbuches verboten, dafür eine Zwangslage auszunutzen, worauf bis zu fünf Jahre Haft stehen. Wer älter als 18 ist, darf unter 18-Jährige auch nicht für Sex bezahlen. Auch hier gelten wieder besondere Vorschriften für Schutzbefohlene: Paragraph 174 des Strafgesetzbuches verbietet Ausbildern, Betreuern oder Arbeitgebern sexuelle Kontakte mit 16- oder 17-Jährigen, wenn sie das Abhängigkeitsverhältnis ausnutzen. –

Die so genannte Neosexuelle Revolution seit den späten 1970ern ereignet sich gleichwie still und schleichend hinter den Kulissen des öffentlichen Lebens. Auch für Harry ist die Hardcorepornografie eine revolutionäre Erfahrung. Oder sollte es heißen, es ist die erste sexuelle Revolution, von der er auch selber was hat?

Zum ersten Mal nämlich bekommt er, schon in seinen Zwanzigern, das weibliche Geschlecht unverstellt in Cinemascope auf der Leinwand zu sehen. Zum ersten Mal wird da die weibliche Anatomie in allen Einstellungen und Perspektiven ausgeleuchtet. Heutzutage, da das fast jedes Kind auf dem PC-Bildschirm hat, kann man sich kaum mehr vorstellen, wie sehr die Freigabe der Pornografie das Bild des menschlichen Sexus revolutioniert. Zigtausende von Generationen lang haben die Männer sich fast ein Bein ausreißen müssen, um eine fremde Vagina in natura zu sehen; und manche haben vielleicht nie eine zu Gesicht bekommen. Jetzt sieht man mit einem Mal so viele davon wie ein vielbeschäftigter Gynäkologe. Dabei ist es damals aber noch nicht so weit, dass der Sex durch YouPorn und Co. sein letztes Mysterium verloren hat.

Er ist Anfang zwanzig und studiert in Göttingen Jura. Seine Karriere in Rindskopfs Frankfurter Kontor und Salomons Hamburger Bank ist misslungen, der junge Dichter eignet sich nicht fürs Geschäft. Seine Kusine Molly hat ihm einen Korb gegeben, den er nur langsam oder nie verschmerzt. Von der Hansestadt verabschiedet hat er sich mit dem Gedicht Affrontenburg, das er jetzt silbenmäßig zur Melodie von The House of the Rising Sun der Animals adaptiert:

Die Zeit verfließt, jedoch das Schloss,

Das Schloss mit Turm und Zinn'

Und seinem blöden Menschenvolk,

Kommt mir nicht aus dem Sinn.

Ich sehe stets die Wetterfahn,

Die auf dem Dach sich dreht.

Ein jeder blickte scheu hinauf,

Eh er den Mund auftät.

Wer sprechen wollt, erforschte erst

Den Wind, damit nicht gar

Der alte Brummbär Boreas

Anschnaubt ihn sonderbar.

Die Klügsten freilich schwiegen ganz –

Denn ach, es gab am Ort

Ein Echo, das im Wiederklatsch

Verfälschte jedes Wort.

Inmitten im Schlossgarten stand

Ein sphinxgezierter Bronn,

Der immer trocken war, obgleich

Dort manche Trän geronn.

Vermaledeiter Garten! Ach,

Da gab es keine Stätt,

Wo nicht mein Herz gekränket ward,

Ich nicht geweinet hätt.

Da gab's wahrhaftig keinen Baum,

Wo nicht Beleidigung

Mir zugefüget worden ist

Von fein und grober Zung.

Die Kröte, die im Gras gelauscht,

Sagt alles zu der Ratt,

Die sagt der Muhme Viper gleich

Was sie vernommen hatt.

Die hat's gesagt dem Schwager Frosch –

Und so erfahren konnt

Die ganze schmutzge Sippschaft stracks

Den neuesten Affront.

Des Gartens Rosen waren schön,

Und lieblich ihre Düft;

Doch früh hinwelkend starben sie

An sonderbarstem Gift.

Zu Tod ist auch erkrankt seitdem

Der Nachtigallen Spross,

Der jenen Rosen sang sein Lied; –

Und dann das Gift genoss.

Vermaledeiter Garten! Ja,

Auf dem ein Fluch drauf last;

Manchmal am hellen lichten Tag

Mich dort die Angst erfasst.

Mich grinste an der grüne Spuk,

Der mich grausam verhöhnt,

Und aus den Taxusbüschen drang

Etwas, das röchelt, stöhnt.

Am Ende der Allee war

Der Söller, wo die Welt

Der Nordsee zu der Zeit der Flut

Unten am Stein zerschellt.

Dort schaut man weit hinaus ins Meer.

Dort stand ich oft im Traum.

Brandung war auch in meiner Brust –

Ein Tosen, Rasen, Schaum –

Ein Schäumen, Rasen, Tosen war's,

Ohnmächtig wie die Wog',

Die kläglich brach der harte Fels,

Wie stolz sie auch anzog.

Mit Neid sah ich die Schiffe ziehn

Dahin nach frohem Land –

Doch mich hielt das verdammte Schloss

Verflucht in seinem Bann.

Molly wurde die Frau des Gutsbesitzers John Friedländer, und einsam, wie immer, unter der Sonne bleibt er. Er studiert Jura und Verwaltungswissenschaft und wohnt in einem Studentenheim der Göttinger Burschenschaft. Im Hörsaal sitzen viel mehr Studentinnen als früher – die Frauen sind akademisch längst auf Vordermann –, darunter auch ungemein hübsche; in ihren Zwanzigern aber sind sie meist schon vergeben. Die jungen Mädchen verlieben sich heute im Durchschnitt zwischen sechzehn und achtzehn, haben dank Pille gleich Sex, und wer den Anschluss verpasst, muss selber sehen, wo er bleibt. Ab und zu verliebt er sich ohne besondere Aussicht. In seinem sexuellen Elend bleibt ihm nur die Selbstbefriedigung, so masturbiert er einsam auf seiner Bude. Molly ist schuld, warum hat sie ihn nicht haben wollen.

Einer seiner alten Klassenkameraden, der in Göttingen Medizin studiert, berichtet ihm von einem Kino vor Ort, in dem neuerlich – nach Abschaffung des antiquierten Paragraphen – Pornofilme gezeigt werden. Der Streifen hat den Titel Deep Throat. Die sichtliche Angeregtheit des Freundes erinnert ihn unwillkürlich daran, wie ihm ein anderer einmal von Bergmans Schweigen erzählte. Überhaupt scheint der Dieter für Sex nicht wenig empfänglich. Einmal behauptet er gar, er würde nicht eher ruhen, als bis er alle Tänzerinnen des Fernsehballetts vernascht hat. Harry ist sich der hybriden Natur dieser Phantasien wohl bewusst.

„Das sind die Schimären deiner Einsamkeit!“, belehrt er ihn. Danach verliert er seine Spur und kann nicht sagen, wie weit er es in seinen promiskuitiven Ambitionen gebracht hat.

Tatsächlich scheint dies, denkt Harry, die einzige Art, wie einem eingefleischten Erotiker zu helfen wäre: wenn er jede Frau haben dürfte, auf welche immer er scharf ist. Wenn er bei jeder abschießen dürfte, die ihm vor die Lunte kommt. Nur unter dieser Bedingung ja wäre überhaupt die Erfahrung zu machen, dass es bei jeder Frau mehr oder weniger das Gleiche ist – und folglich laut Schopenhauer das so sehnsuchtsvoll Begehrte nichts mehr leistet als jede andere Geschlechtsbefriedigung auch: so dass er sich nicht sehr dadurch gefördert sieht. Vielleicht würde man so überhaupt die Lust an der Promiskuität – dem Donjuanismus in effigie – verlieren und sich von Hause aus auf eine einzige bestimmte Frau beschränken wollen, – womit man dann genauso weit wäre wie jeder andere Normalsterbliche auch, der sich von Anfang an so bescheidet.

Ja, mehr noch: vielleicht würde man dann endlich erkennen, dass es gar nicht der reale Geschlechtsverkehr ist, der uns solch frenetischen Genuss verschafft, wie er uns ideell vorschwebt, – sondern dass es die bloße Illusion bei der Selbstbefriedigung war, die ihn uns vorgegaukelt. Man würde dann, von der Realität enttäuscht und gewitzt geworden, vielleicht sogar freiwillig wieder zu seinen ipsistischen Phantasien Zuflucht nehmen, womit man wieder genauso weit wäre wie vorher. Alles hängt ab von der Illusion, die uns beim Anblick einer schönen Frau überkommt, und ob sie wirklich stark und überwältigend genug ist, um uns an unserem besseren Wissen wieder irrewerden zu lassen. Da der Erotiker, der fehlenden Promiskuität wegen, das Experiment mit dem Fernsehballett aber nicht machen kann, ist die Überlegung müßig und ihm schwer zu helfen.

Nun erlaubt der pornografische Film – via Identifikation des Betrachters mit den Darstellern – das Experiment zumindest aber in vitro. Eines Abends, als ihm wieder einmal das Dach auf den Kopf fallen will, macht er sich auf den Weg in das bezeichnete Kino. Da er alt genug ist, braucht er keinen Ausweis vorzuzeigen. Man kauft hier keine Eintrittskarte wie in den normalen Kinos, sondern bezahlt eines herrschenden Gedeckzwangs wegen einen erhöhten Betrag für ein paar Getränke inklusive mit. Man ist nämlich, wenn man den Film sehen will, von Gesetzes wegen gezwungen, so zu tun, als träte man einem privaten Club oder Verein bei, der ,nur für Mitglieder' ist. Der Club der Voyeure.

Er kommt, während vorn die blendende Leinwand flimmert, in einen ungewohnt dunklen, abgedunkelten Saal. Als er sich an die Finsternis gewöhnt hat, stellt er fest, dass die Besucher – anscheinend lauter Männer – isoliert und in weitem Abstand voneinander auf den Plätzen sitzen. Der Grund dafür wird ihm bald klar: Sie wollen allein für sich bleiben.

Deep Throat – ,Tiefer Schlund' – ist ein amerikanischer Porno von anno 1972. Der – fast surrealistische – Inhalt ist schnell berichtet. Die hübsche Hauptdarstellerin, die etwa 20-jährige Linda, hat sexuelle Probleme. Dem Vernehmen nach hatte sie noch nie einen Orgasmus, in ihrem Alter natürlich ein ganz unerträglicher Zustand. Aber auch ihre Freundin Helen kann ihr nicht helfen, und der von ihr organisierte Gruppensex befriedigt nur sie selbst. Also begibt Linda sich in ärztliche Untersuchung. Da entdeckt Doktor Young mit Hilfe gezielter Auskultationen, dass Linda keine Klitoris hat – will sagen, zumindest nicht da, wo die Frauen sie normalerweise haben, so dass sie beim Koitus das männliche Genital nicht entsprechend spüren kann. (Einmal abgesehen davon, dass selbst beim Koitus die Frauen Probleme damit haben dürften, den Mann an der Klitoris zu spüren.) Das ist die Erklärung für den fehlenden Orgasmus. (Dass die Klitoris auch beim normalen Geschlechtsverkehr nicht ohneweiters gereizt wird, so dass die Frau womöglich auch dabei unbefriedigt bleibt, bleibe hier einmal außer Betracht.)

Der Onkel Doktor lokalisiert das verirrte Organ bald an einem Ort, wo man es vermutlich nicht vermutet hätte: in Lindas Kehle. Daraufhin probiert sie, um den männlichen Penis zu spüren, versuchsweise Fellatio, indem sie tief erigierte Penisse schluckt, sie gewissermaßen inhaliert – und findet prompt ihre sexuelle Erfüllung. Während Linda ihren palatalen Orgasmus hat, ejakulieren die Männer happy in ihren Hals – deep throat. Sie beginnt als Dr. Youngs Assistentin und beglückt so nicht nur sich selbst, sondern auch andere bedürftige Patienten. Die absurde Story endet damit, dass sie mit einem Mann schläft, der ihr einen Heiratsantrag macht. Wir erfahren nicht, wie ihr weiteres Eheleben verläuft.

Geradeso unrealistisch wie der Inhalt sind die Szenen des Films. Das gilt für alle Pornofilme: indem all das, was in Wirklichkeit nie und nirgendwo möglich wäre, auf der Leinwand realisiert wird, wird die Realität auf krasse Weise verzerrt. Es ist, als würden die verrücktesten erotischen Phantasien und sexuellen Tagträume plötzlich zu delirierender Wirklichkeit. Es kommt wie gesagt nie auf die ,Handlung' an, nur auf die sexuellen Handlungen, und diese erscheinen in Cinemascope mit sensationeller Deutlichkeit. Die einsamsten sexuellen Phantasien werden direkt und unverstellt auf die Leinwand projiziert. Bisher war nur das Papier geduldig. Jetzt ist es nicht minder auch das Zelluloid.

Die Absicht ist klar. Kaum sind ein paar der Aktionen über die Leinwand geflimmert, da spürt er es unverkennbar schon zwischen den Beinen. Nicht lang, und sein Ding ist unterschwellig so erregt, dass er es feucht in sein Unterzeug gehen spürt. Auf die Dauer des Films ist es ein wahres Drangsal der Lust; sein drangsäliges Glied will sich versteifen, ist aber so eingezwängt, dass kein Raum dafür ist. Einmal, verstohlen um sich blickend, ob ihn keiner der Nächstsitzenden sehen kann, greift er sich heimlich in die Hose, um es wenigstens der Länge nach auszurichten. Je mehr der aufreizenden Bilder und Szenen er von der Leinwand auf sich einströmen fühlt, desto größer wird die Spannung in seinen Lenden. Vom Scheitel bis zur Sohle erfüllt ihn ein einziges großes Jucken, wie er es kaum je kannte, sowie der unwiderstehliche Drang, sich durch die nötigsten Manipulationen davon zu befreien. Es ist das elektrochemische Feld von Millionen und Abermillionen angeregter Zellen in seinem Gehirn, die zum endgültigen Feuern gebracht werden wollen.

Das geht aber nicht. Er kann ja nicht im öffentlichen, wie auch immer abgedunkelten Raum seinen Ständer aus der Hose nehmen und rücksichtslos masturbieren. Spätestens da hat die moderne moralische Freizügigkeit ihr Ende, da spätestens schnappt die bürgerliche Zensur wieder zu. Ertappt man ihn, wird er wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses in polizeilichen Gewahrsam genommen und eingebuchtet. So muss er es, ob er will oder nicht, auf später verschieben.

Als er das Kino verlässt, ist es wie eine Offenbarung für ihn: Das ist eine sexuelle Revolution ohnegleichen. Das ist die Befreiung des Triebes aus all seiner bisherigen Verdrängung und Unterdrückung. Das ist eine neue Zeit, eine neue Welt.

In seinem bisherigen Leben lag alles Geschlechtliche wie hinter einem undurchdringlichen Schleier gesellschaftlicher Tabus verhängt. Jetzt hebt sich der Schleier. Der Pornofilm reißt den neblichten Vorhang auf und zeigt den Sex erstmals in seiner unverstellten Nacktheit. Was bedeutet das für ihn und seine Poesie? Was bedeutet das für die erotische Literatur allgemein?

Auch er persönlich stand bisher unter dem sexuellen Tabu. Indem ein so unverbrüchliches Element des Menschlichen aus der visuellen Erfahrbarkeit ausgeblendet blieb, wurde es in den Bereich der Phantasie verdrängt und öffnete allen Spekulationen Tor und Tür. Der Schlaf des Gesetzes weckte die Ungeheuer des Triebes. Das Tabu der Erfahrung weckte die Wunder und Weihen der romantischen Phantasie. Auch seine Dichtung lebte von der romantischen Phantasie, und seine romantische Phantasie verdankte sich im Wesentlichen dem repressiven Charakter der Liebe wie der Verdrängung und Unterdrückung des Triebs unter entsprechender gesellschaftlicher Repression. Erscheint die Epoche der Romantik nicht überhaupt als eine Zeit, in der die unterdrückte Sinnlichkeit nach einem Ausdruck sucht? Abgeschnitten von der Realität, musste er seinen erotischen Sehnsüchten und Phantasien einen indirekten, verklausulierten Ausdruck geben; jetzt sieht er sie eins-zu-eins auf der Leinwand.

Indem der Pornofilm den Sexus aus seiner phantastischen Quarantäne herausnimmt, befreit er ihn aus dem Ghetto romantischer Träumerei und rückt ihn so den Bereich nüchterner, mithin auch ernüchternder, wenn auch nur visueller Erfahrung. Was man direkt sehen kann, davon muss man nicht immer nur spekulativ träumen. Beschränkt man sich auf das Sehen, kann man auf das Träumen verzichten. Wieviel von seiner Lyrik sich wohl dadurch erübrigt? Es ist klar, das revolutioniert auch die erotische Literatur; auch sie muss dadurch, wo immer sie es noch nicht genügend sein sollte, ernüchtert werden. De Sade, Joyce, Nabokov, Miller sind nur noch harmlose Pioniere, wenn man sie mit den Freizügigkeiten heutiger Leinwand vergleicht. Wie beeinflusst das die erotische Literatur? Sicher wird es sie bis auf die Knochen ernüchtern. Auch in den Werken der darstellenden Kunst war die Liebe – mit Ausnahme weniger Künstler: Carracci – um die körperliche Seite verstümmelt; jetzt sieht man den Liebesakt dreidimensional bei lebendigem Leibe. Meist beschränkt der Porno sich auf die geschlechtliche Seite, denn was die Liebe ist, weiß man sowieso schon.

Er war, wie die Besucherzahlen zeigen, mit seinen Phantasien nicht allein, Millionen anderer haben die gleichen, und die Darsteller führen sie originalgetreu aus. In den Pornofilmen gilt kein geschlechtliches Tabu mehr, alles liegt unverstellt zutage. Um so hedonistischer die Filme aber sind, desto unrealistischer ist ihre Handlung. Hat diese krasse Verfälschung der Realität, fragt er sich skrupelhaft, keinen negativen Einfluss auf das Weltbild der Besucher? Muss nicht Otto Normalverbraucher dadurch an der realen Realität verzweifeln? Hat der sogenannte Hays Code, der seit den 20er Jahren die filmische Darstellung von Sex in den USA verbot, nicht vielleicht damit Recht, dass die Filme Personen, die zwischen Fiktion und Wirklichkeit nicht unterscheiden könnten, zu Unmoral und Kriminalität verleiten?

Aber nein, lieber Harry, natürlich nicht, da kannst du ganz unbesorgt sein! Denn erstens sind die Zuschauer, die ab 18 eingelassen werden, sowieso schon alle erwachsen, so dass sie längst ein gefestigtes Weltbild haben; und außerdem erfahren sie das sofort, sobald sie aus dem Kino auf die Straße kommen, aufs Neue. Zum andern ist keiner der Zuschauer auch nur im entferntesten so naiv, die illusionären Vorspiegelungen der Leinwand für bare Münze zu nehmen. Jeder weiß, was ihm da vorgeflunkert wird. Umgekehrt dient der Porno, als ihr Zerrbild, ex negativo dazu, das eigentliche Wesen von Liebe und Sex schärfer zu beleuchten und konturieren. Also, was soll's. Auch ihn stört es nicht. Es sind eben nur täuschende Phantasien, träumerisches Wunschdenken, käufliche Träume!

Nach Auschwitz, heißt es, kann man kein lyrisches Gedicht mehr schreiben. Kann man im Zeitalter der Pornografie noch ein Liebesgedicht schreiben?

Aber natürlich kann man das. Ändert die über die Leinwand flimmernde Promiskuitivität doch auch heute nicht das Geringste an der Einsamkeit des Einzelnen! Wird der Sex dem Einsamen visuell verfügbar, so dadurch doch noch lange nicht wirklich. Mit Recht sagt der Dichter: Wenn man auch seiner Krücken spottet, so kann man darum doch nicht besser gehen. Noch immer bleibt er selbst in seiner sexuellen Misere befangen. Der Unterschied betrifft nur die Phantasie. Früher war es Sache der Einbildungskraft, sich den Sex vorzustellen, – heute sieht man ihn live auf der Leinwand. So erleichtert die Pornografie, indem sie der Phantasie die Arbeit abnimmt, nur die Selbstbefriedigung. Heine, habe, schreibt Karl Kraus, der deutschen Sprache so sehr das Mieder gelockert, daß heute alle Kommis an ihren Brüsten fingern können. Seinerseits zieht der Porno dem Eros so den Schlüpfer herunter, dass ihn jetzt jeder Kommis besteigen kann. Andererseits lässt die Promiskuität der Leinwand die eigene Einsamkeit nur desto spürbarer werden. Man sieht jetzt schwarz auf weiß und in Farbe, was einem, während es die anderen treiben, persönlich alles entgeht.

Die Filme werden nach kurzer Pause, wo die Coladosen aufgeräumt werden, meist wiederholt, so dass man sie, bleibt man vor seinem Zwangsgedeck sitzen, so oft man will sehen kann. Also sieht er sie so oft, wie er will. Beim Verlassen des Kinos ist sein Geschlecht von der unbefriedigten Erregung so verquält und gemartert, gleichwie lädiert, dass es wie ein Muskelkrampf ist. Doch ist der gestaute Reiz, wie Glut unter der Asche, immer noch da und jederzeit neu zu entfachen. Er begibt sich auf dem kürzesten Weg nach Hause. Es braucht nur weniger Friktionen, und er hat einen so starken Orgasmus wie kaum je bei der Masturbation. Offenbar ist es der visuelle Eindruck, der die Sinnlichkeit so mobilisiert. Je zahlreicher die Bilder und Szenen, je länger sie wirken, desto nachhaltiger wird der Eindruck.

In der gesamten Geschichte der Menschheit seit der Steinzeit hat es dergleichen noch nicht gegeben. Wohl wurde der Sexualtrieb in der Evolution primär an die visuelle Wahrnehmung geknüpft, noch nie aber hatte der Mensch das Geschlecht in derart promiskuitiver Anschaulichkeit vor Augen wie im heutigen Film. Die berüchtigsten Orgien Babylons, Sodoms und Gomorrhas oder des alten Roms flimmern da für ein paar Mark Eintritt über die Leinwand. In seinen Zwanzigern kann Harry, wenn er es darauf anlegt, an einem Wochenende mehr weibliche Vulven sehen als Don Juan und Casanova während ihrer ganzen Laufbahn. Man muss wahrlich König Salomo mit seinem Harem von tausend Weibern gewesen sein, ein chinesischer Kaiser oder türkischer Sultan, um so viele Muschis aus der Nähe zu sehen wie heutigentags jeder Kommis an einem einzigen Weekend. Das ist aber ganz gut so. Das weibliche Geschlecht wird dadurch auf ungeahnte Weise entmythologisiert und entmystifiziert. Es zeigt sich, was es objektiv ist: der harmlos unverfängliche Reproduktionsapparat der Säugetiere. Die erotischen Männer aber machen einen unaussprechlichen Fetisch daraus, indem sie ihre subjektive hypertrophierte Sinnlichkeit hineinprojizieren und sich alle Wunder und Weihen, die ihnen ihre Phantasie vorgaukelt, davon erwarten.

Seither wurde die Pornografie im gesellschaftlichen Bewusstsein zu einer solchen Selbstverständlichkeit, dass man sich eine Zeit ohne sie gar nicht mehr vorstellen kann. Die Kids sehen es schon ab vierzehn. Zigtausende von Generationen lang war sie hinter dem Scheffel, jetzt plötzlich werden wir überschwemmt damit. Harry selbst stammt aus einer Zeit, als noch das Verdikt des Gesetzes über ihr lag.

Warum ist das wirklich so eine Revolution, wenn man heute sehen kann, was man früher nicht sehen konnte? Was haben wir von dieser schönen neuen Welt obszöner Bilder?

Weil es nicht beim Zuschauen bleibt. Die Pornografie ist von grundlegendem Einfluss auf unser ganzes Verhältnis zum Sex. Die pornografischen Szenen haben unmittelbar Einfluss auf das Sexualverhalten des Einzelnen, und damit auf das Liebesleben der ganzen Gesellschaft. In der Hominidenevolution entstand der Sexualtrieb via die visuelle Wahrnehmung im Zusammenhang mit der Phantasie, daher wird die Sinnlichkeit des Homo sapiens – zusammen mit der frühkindlichen Prägung durch die Mutter – vor allem durch visuelle Eindrücke geprägt. Der Sexappeal unterwandert uns über das Auge. Dabei hatte der fehlenden technischen Möglichkeiten mitsamt der tabuisierten Sexualität wegen der Homo sapiens aber noch nie Gelegenheit, die visuelle Dimension der Lust de facto auch auszuloten, sein hedonistisches Potenzial auszureizen. Da der Sex durch die Phantasie bedingt ist, sind ihrer puren Körperlichkeit wegen nicht einmal die klaffenden Vulven von Salomos tausend Odalisken imstande, seine Phantasie so anzuturnen wie das rein visuelle Medium des erotischen Cinemascope; so kann heute jeder Kommis seine Phantasie so beflügeln, wie das keinem je so promiskuitiv Privilegierten möglich war.

Erst aber, indem das pornografische Medium die erotische Phantasie voll ausreizt und möglichst viele Sinnesneuronen zum Feuern bringt, wird der Einzelne in den Zustand versetzt, sein volles sexuelles Potenzial kennenzulernen – den Zustand alleräußerster Erregung, zu der er individuell fähig ist. Das gilt dann ähnlich auch für den Orgasmus selbst – der ja nichts anderes ist, als wenn das maximale elektrochemische Potenzial, das durch die Lust aufgebaut wird, zur Entladung kommt.

Diese Erfahrung ist in der gewöhnlichen Begegnung der Geschlechter aber schier nicht zu machen – auch mit der versiertesten Liebesdienerin nicht; und auch nicht in der ipsistischen Phantasie der Person. Keine unbewaffnete Einbildungskraft kann mit der Myriade von Bildern mithalten, die von der Leinwand sechzehnmal pro Sekunde auf sie einströmen. So sind die pornografischen Filme im selben Sinn Prothesen der Lust, wie etwa ein Supercomputer eine Prothese mathematischen Denkens ist.

Keine Frau der Welt, auch die so genannte Miss Universe nicht, kann mit den erregend erregten Leibern konkurrieren, die unter orgiastischem Stöhnen auf der Leinwand sich wälzen. Mithin macht es in der ganzen Menschheitsgeschichte überhaupt erst der Pornofilm möglich, den Einzelnen sein sexuelles Potenzial vollauf erfahren zu lassen – es physiologisch zu realisieren. Das geschieht erst vor dem Pornobildschirm, infolgedessen ist dieser historisch und anthropologisch gesehen etwas ganz Außerordentliches. In einem modernen Roman nennt sich der Mathematiker Gauß – da er zu früh geboren sei, um die zukünftigen technischen Möglichkeiten erleben zu können – einen ,Idioten der Zukunft'. Im selben Sinn waren die Männer und Frauen vergangener historischer und prähistorischer Generationen, die noch ohne die unzensierte voyeuristische Freizügigkeit auskommen mussten, die Stiefkinder, die Idioten neuzeitlicher Lust.

Heine hardcore II - Die späten Jahre

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