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28: Nadine

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Neuerdings ist es die Antigone des französischen Dramatikers Jean Anouilh im Düsseldorfer Nationaltheater, die er mit Giselle besucht. Es basiert auf der Tragödie des Sophokles. Anouilh behält als Schauplatz Theben bei, verlegt die Handlung aber ins 20. Jahrhundert. Dabei verbindet er antike Tragik mit existentialistischer Philosophie; Harry ist verblüfft, wie die verschiedenen geistigen Welten hier aufeinanderprallen. Es ist ein Klassiker des modernen französischen Theaters und eine der meistdiskutierten Arbeiten Anouilhs. Seine Übertragung des antiken Stoffes ins 20. Jahrhundert wird durch eingestreute Dinge wie Autos oder Zigaretten äußerlich illustriert.

Dass Antigone ihren Bruder Polyneikos gegen König Kreons Verbot bestattet und dafür die Todesstrafe auf sich nimmt, gilt als Sinnbild für den französischen Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht. Aus der historischen Verlagerung ergeben sich vor allem veränderte moralische Konsequenzen. Bei Sophokles lehnt Antigone sich gegen Kreon auf, um einem ewigen göttlichen Gesetz zu gehorchen. Bei Anouilh glauben weder Kreon noch Antigone mehr an irgendeine Götterwelt. Ihre Auseinandersetzung ist eher ein Generationenkonflikt. Anouilhs Kreon ist ein Herrscher voller Widersprüche und Zweifel, kein Despot, der über Leichen geht. Für die junge, leidenschaftliche Antigone sind seine relativierende Weltsicht und politische Pragmatik unattraktiv. Sie sehnt sich nach absoluten Ideen und dem Pathos großer Gefühle. Weil ihre Revolte aber keine glaubwürdigen Inhalte hat, wird ihre Kompromisslosigkeit zu Hochmut und sie stirbt einen sinnlosen Tod.

Ihre Diskussion während der Pause ist kontrovers. Während Harry gefühlsmäßig auf der Seite Antigones steht, nimmt die junge Giselle paradoxerweise den Standpunkt des materialistischen Kreon ein. Auf dem Platz vor dem Theater, der mit runden glatten Steinen gepflastert ist, die nur zur Hälfte im Boden stecken, bleibt der Stöckel ihres linken Schuhs zwischen zwei Kieseln hängen. Währenddem er niederkniet, um den Schuh loszumachen und ihn ihr wieder anzuziehen, steht sie wie ein Reiher auf einem Bein und hält den Fuß hoch, um nicht den Nylonstrumpf zu beschmutzen. Er kommt, als er ihr den Schuh wieder anpasst, nicht auf den Gedanken, sie kniend um die Gunst zu bitten, ihren weißen, blühenden Lilienfuß küssen zu dürfen, den er doch gläubiger an die Lippen gepresst hätte, als er es mit dem Fuß des Papstes getan haben möchte.

Ein Mitschüler seiner Klasse hat Ingmar Bergmans Film TynstadenDas Schweigen – gesehen und erzählt ihm aufgeregt davon. Eine Frau, Anna, irrt durch eine fremde Stadt in einem fremden Land, deren Sprache sie nicht versteht, und sieht in einem Varieté, wie ein Paar während der Vorstellung kopuliert. Der Mann sitzt zurück in den Sitz gelehnt, die Frau hat ihren Schlüpfer ausgezogen und reitet ihm zugewandt mit entblößten Brüsten auf ihm, wobei ihre Unterleiber gegeneinander rammeln. Beide bäumen sich orgiastisch hintüber, so dass die Stühle knarzen. So etwas Geiles, beteuert der Kamerad, dem dabei förmlich der Speichel im Mundwinkel zusammenläuft – und angesichts seines Gesabbers glaubt Harry es ihm aufs Wort –, habe er im Leben noch nicht gesehen!

In einer anderen Szene des Films sieht man von vorn von oben, wie die umwerfend schöne Ingrid Thulin, eine sichtlich sinnliche Frau, auf ihrem Bett mit hintübergeworfenem Kopf, während sie dem Zuschauer in die Augen blickt, sich in den Schlüpfer greift und sich, die Augen nicht vom Betrachter lassend, sexuell selbst befriedigt. Das ist womöglich sogar noch geiler. Sie hat dieselbe Lage wie Chrisis auf Agostinos Stich und hat den gleichen honigsüßen Orgasmus wie Hedy Lamarr, die hier als Pionierin wirkte, in Ekstase. Oder doch nicht den ganz gleichen?

Durchaus nicht den ganz gleichen, denn irgendwie ist Mariannes Ekstase noch viel überzeugender und einleuchtender als der Lamarrs. Der Unterschied ist, dass Mariannes Orgasmus nicht beim Geschlechtsakt eintritt, sondern in der Onanie. Die erste Szene weiblicher Onanie in der Filmgeschichte! Das ist unerhört. Wann hat man je eine Frau auf der Leinwand oder sonstwo masturbieren sehen? Das ist etwas absolut Neues und sorgt zu der Zeit für den hanebüchensten Skandal. Man muss die Thulin für ihren Mut bewundern.

Also auch die Frauen onanieren und haben ihren Orgasmus! Wieso aber auch nicht? Warum sollen ihnen die Männer da etwas voraus haben? Zwar ist auch Ingrids Orgasmus nur gespielt, doch ist er menschlich noch überzeugender als der Hedys. Der Grund ist, dass der Orgasmus aus der Onanie, im Unterschied zu dem beim Koitus, jedem halbwegs normalen Menschen vertraut ist, so dass an seiner Wirklichkeit kein Zweifel besteht. Ingrid spielt also nur nach, was alle bestätigen können. Diese für die damalige Zeit unerhörten Szenen rufen einen der größten Filmskandale der 1960er Jahre hervor und lösen eine erbitterte Zensurdebatte aus. Seitdem kommt weibliche Onanie auch im Film immer wieder vor. Seit Jean-Luc Godard gehört sie fast mit zum kinematografischen Standard.

Von Ingmar Bergman sieht er den Film Die Jungfrauenquelle von 1960, in dem die junge Karin, gespielt von Birgitta Pettersson, brutal von zwei Hirten vergewaltigt und getötet wird. Die Jungfrau – so beschreibt es der Spiegel – reitet, in ein gelbseidenes Hemd gewandet, auf dem Weg zur Kirche durch einen Wald. Augenblicke später beginnt die gewagteste Vergewaltigungsszene in der Geschichte des Films: Zwei Unholde packen das Mädchen, zerren es zu Boden, reißen seine Glieder auseinander und schänden es. Zwei Minuten lang starrt das Kamera-Auge fast gierend auf die drei verschlungenen Gestalten. Nur Keuchen dringt aus den Lautsprechern im Kinosaal. ,Wo sonst erfuhr man', fragt Die Zeit beeindruckt, ,dass hörbares Atmen von solch dramatischer Wirkung sein kann?' Besonders in der frenetischen, wie elektrisierten Wollust, mit der einer der Täter sich auf dem Mädchen windet, wird Harry fortan zum Beispiel paradigmatischer Wollust.

Trotz ungekürzter Freigabe durch die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft sowie der Prädikatisierung ,wertvoll' wird der Film der expliziten Vergewaltigungsszene wegen durch das Amtsgericht München als ,unzüchtig' beschlagnahmt. Die Schändung werde, so der federführende Richter, in einer Ausführlichkeit gezeigt, die zum Verständnis der Filmhandlung absolut nicht erforderlich und daher überflüssig sei – die Untat werde ersichtlich nur zu dem Zweck dargeboten, dem Geschmack eines gewissen Filmpublikums entgegenzukommen und ihm sexuell anreizenden, die Lüsternheit befriedigenden Filmstoff zu bieten. Als die Schlagzeilen über die Polizei-Aktion im nach-eucharistischen München das Publikum rechtzeitig zum Wochenende erreichen, schnellen in den anderen Erstaufführungsstädten, wo der Film noch gezeigt werden darf, die Besucherzahlen sprunghaft in die Höhe. Samstags notieren die Kinobesitzer 90 Prozent Kapazitätsausnutzung, am Sonntagabend 100 Prozent. In Hamburg begutachtet eine Horde Staatsanwälte, von der Münchner Quelle alarmiert, die Jungfrauenquelle in einer Sonderveranstaltung, nimmt aber keinen Anstoß an den 16 Metern Vergewaltigung. Harry kann es dem Münchner Richter nachempfinden, ist nichtsdestoweniger aber der Meinung, dass die Freiheit der Kunst nicht so beschnitten werden darf. Im Kino geht es eben nicht nur um das Verständnis der Handlung. Die Filmkunst lebt von der direkten Veranschaulichung der Dinge und damit vom unmittelbaren Erlebnis des Zuschauers. Würde die Vergewaltigung der Jungfrau nicht so brutal gezeigt, wäre der Eindruck eben nicht mehr derselbe – und damit nicht die drastische Rache des Vaters, Max von Sydows, verständlich, mit der dieser, wie Odysseus einst Penelopes Freier, die drei Brüder, auch den jüngsten mit zwölf, erschlägt. Damit wäre dann aber der ganze Film nicht mehr im Gleichgewicht. Als Karins Leichnam geborgen wird, entspringt aus dem Boden eine Quelle. – Später bekommt der alte Schwede, wie zur Wiedergutmachung, sogar einen jahrelangen Vertrag als Regisseur am Münchner Residenztheater.

Mit sechzehn beeindruckt ihn tief der Film La guerre est finie von Alain Resnais, wieder mit der hinreißend schönen Ingrid Thulin. Diego Mora, gespielt von Yves Montand, lebt als Mitglied der kommunistischen Partei Spaniens im Pariser Exil. Als Verbindung zwischen den spanischen Exilanten in Frankreich und den im Spanien Francos verbliebenen Genossen passiert er unter falschem Namen immer wieder die Grenze. Gerade geht er über Irún nach Frankreich. Bei einem heiklen Identitätscheck kommt er dank einer jungen Frau frei. Nadine, gespielt von Geneviève Bujold, ist die Tochter des Mannes, dessen Identität er fälschlicherweise annahm. Die junge Revoluzzerin ist so fasziniert von ihm, dass sie sich ihm beim ersten Treffen in ihrer Wohnung spontan hingibt – ein poetisch verklärend gefilmter, mit elegischer Musik unterlegter Liebesakt, der im beiderseitigen Orgasmus endet, bei dem der jungen Frau schier die Sinne schwinden. Wie Hedy und Ingrid hat es auch Geneviève darauf, wie man wollüstige Ekstasen simuliert. Danach nehmen sie voneinander Abschied, um sich, da Diego eine feste Geliebte hat, nicht wiederzusehen.

Yves Montand ist ein so überzeugender Verführer, dass man Nadine ihren Orgasmus durchaus abnimmt. Harry ist ziemlich von der Rolle: Also ist die freie Liebe doch möglich? Denn was Diego Mora in Paris kann, das kann ein anderer ein andermal natürlich auch in jeder anderen Stadt. Wie kann ein Mann eine so erotische Ausstrahlung haben, dass er ein Mädchen gleich bei der ersten Begegnung herumkriegt? Warum kann er, der sechzehnjährige Poet, das nicht? Warum ist das nicht auch mit Giselle oder Béa möglich? Warum kommt diese freie Liebe in seinem Leben nicht vor?

Betty, die die Szene später im Fernsehen sieht, nennt Nadine eine ,so eine Freche'. Sogar seinen Lehrer im Kunstunterricht, zu dem er ein besonders vertrautes Verhältnis hat, lotst er zu dem Film ins Kino und gesteht ihm seine pubertäre Verblüfftheit: dass er nicht versteht, wie man eine Frau so einfach verführen kann. Er empfindet seine Schüchternheit wie eine Art männlicher Unterlegenheit …

Viel später erst wird ihm klar, dass es nicht allein an seiner pubertären Unreife lag – es ist überhaupt sein Problem, die Anarchie des Blutes mit der vernunftgeordneten Einrichtung der Welt in Übereinstimmung zu bringen. Tatsächlich dürften solche One-night-stands im wahren Leben, zumal in bürgerlichen Milieus, eine extreme Seltenheit sein. Und es ist eher eine Verzerrung der Realität durch den Film, eine sexuelle Freizügigkeit zwischen Mann und Frau vorzuspielen, die es in Wirklichkeit so nicht gibt. Es ist eine pure poetic license in der Sexualmoral, welche sich die Regisseure erlauben. Aber nicht einmal sein gestandener Lehrer ist geistesgegenwärtig oder beschlagen genug, ihn über den Umstand aufzuklären. Dabei hätte er ihm viel hebephrenische Verwirrung ersparen können.

Tatsächlich nämlich glaubt Harry an Männer von derart erotischer Ausstrahlung, dass sie die Frauen buchstäblich um den Finger wickeln. Gibt es solche One-night-stands in La guerre est finie, dann kommen sie sicher auch sonst noch vor. Errol Flynn, Marlon Brando oder Berühmtheiten wie Pablo Picasso oder populäre Rockstars brauchen nur mit dem Finger zu schnippen, und schon haben sie eine. Ist aber seine Lust bei der einsamen, nur auf Illusion beruhenden Selbstbefriedigung schon so ungeheuer, – um wieviel größer müsste sie, folgert er, dann erst sein, wenn er eine wirkliche Frau besäße! Kommen diese Verführer ständig so auf ihre Kosten, dann ist er ihnen gegenüber unermesslich im Nachteil. Wer aber die Liebeslust versäumt, hat kein Leben. Die Vorstellung wird zu einer fixen Idee – einer jugendlichen Hebephrenie. Wann immer er von einem Mann hört, dem er eine solche Anziehungskraft zutraut, spürt er den Stachel Sexualneid in sich. Einmal bekommt er in einer Kaschemme mit, wie ein junger Kerl von dem amerikanischen Countrysänger Johnny Cash schwärmt. Schon dem Ton seiner Stimme glaubt er entnehmen zu können, dass es ihm mit solchen Männern genauso geht wie ihm selber.

Ein andermal glaubt er bei seiner alten Liebe Hanni dieselbe Bewunderung gegenüber einem verheirateten Religionslehrer zu bemerken und wundert sich fast, dass sie ihm keine sichtbaren Avancen macht. Offenbar traut er seiner Umwelt ungleich mehr Libertinismus zu, als zu welchem er sich selbst versteht.

Erst viele Jahre später erkennt er, dass weder eine solche erotische Anziehungskraft noch der entsprechende Libertinismus der Realität entsprechen. Die bürgerliche Welt ist, was sexuelle Liberalität betrifft, extrem konservativ. Kurzum, Renais' Liebesszenen sind künstlich stilisiert und übertrieben. Und nicht nur die seinen: Es ist überhaupt die poetic license des Films – und die Regisseure machen desto heftiger Gebrauch davon, je näher wir der Gegenwart kommen. Desungeachtet ist Yves Montand nicht von schlechten Eltern. Während des Drehs von Let's make love vernascht er Marilyn Monroe, die noch mit Arthur Miller, einem bedeutenden Dramatiker, verheiratet ist, von der Bettkante weg. Harry wundert sich über den mangelnden Respekt des Schauspielers gegenüber dem berühmten Dichter. Wusste er vielleicht, dass die Ehe der beiden nur noch auf dem Papier bestand? Auf die Frage von Reportern, wie sie dazu steht, meint seine Frau Simone Signoret nur: Marilyn habe einen guten Geschmack. Noch mit 67 macht er der 28jährigen Carole Amiel ein Kind, Valentin.

Ähnliches hört man von dem mexikanischstämmigen Anthony Quinn. Der hat von fünf Frauen 13 Kinder. Noch im Alter von 82 bis 86 hat er mit seiner früheren Sekretärin zwei Kinder. Harry denkt an Thersites in Troilus und Cressida: Nothing but lechery! All incontinent varlets! Nichts als Unzucht! Lauter geile Kerle!

Um zu testen, was er sich alles leisten kann, oder wie weit er gehen kann, bringt er ein Exemplar des Magazins Playboy eines Freundes mit in die Schule, in dem sich in einer Fotoserie die bezaubernde Silva Koscina, eine italienische Schauspielerin jugoslawischer Herkunft, nackt am Swimmingpool aalt. Gibt es eine reizendere Susanna oder Bathseba im Bade? Sein Zeichenlehrer weist ihn bestürzt darauf hin, dass er deswegen von der Schule geschmissen werden könnte. Harry wundert sich, weil ihm die antiken priapeischen Figuren aus dem Kunstunterricht, die den geilen Gott mit prall erigiertem Phallus zeigen, weit anstößiger scheinen als die bezaubernde Silva. Tatsächlich scheint es eher die allgemeine Bigotterie der Schule, wenn nicht die des Mentors, die solcherlei mit Sanktionen bedroht. Es ist eine fatale Sache, relegiert zu werden; sogar das bloße Konsiliiertwerden soll sein Unangenehmes haben.

Eine amerikanische Schauspielerin mit eindrucksvoller Oberweite, Jayne Mansfield, ruft einen internationalen Skandal hervor, als sie sich mit entblößten Brüsten am Michigansee zeigt. Sie stirbt am 29. Juni 1967 im Alter von 34 zusammen mit ihrem Verlobten bei einem Autounfall in Louisiana.

Doch hat sich an der Situation der jungen Leute seit Kants Anthropologie wenig geändert: Die erste physische Bestimmung unserer menschlichen Sexualität ist der Antrieb zur Erhaltung unserer Gattung, als Tiergattung. Hier treffen aber die Naturepochen unserer Entwicklung mit den bürgerlichen nicht zusammen. Nach der ersteren sind wir im Naturzustand spätestens in unserem 15-ten Lebensjahr durch den Geschlechtsinstinkt angetrieben und vermögend, unsere Art zu erzeugen und zu erhalten. Nach der zweiten können wir es (im Durchschnitt) vor dem 20-sten schwerlich wagen. Denn hat der Jüngling gleich früh genug das Vermögen, seine und seines Weibes Neigung als Weltbürger zu befriedigen, so hat er doch lange noch nicht das Vermögen, als Staatsbürger sein Weib und Kind zu erhalten. Er muss einen Beruf erlernen, sich in Kundschaft bringen, um ein Hauswesen mit seinem Weib anzufangen, worüber aber in der geschliffeneren Volksklasse auch wohl das 25. Jahr verfließt, ehe er zu seiner Bestimmung reift. – Womit nun, fragt der Philosoph, füllen wir diesen Zwischenraum einer abgenötigten und unnatürlichen Enthaltsamkeit aus? Seine Antwort: Kaum anders als mit Lastern.

Kaum anders als mit Lastern!? Trifft Immanuel damit den Nagel auf den Kopf?

Ja und nein, Harry ist geteilter Meinung. Gewiss, die abgenötigte Enthaltsamkeit ist unnatürlich, soviel ist sicher. Deshalb halten sich die jungen Leute ja auch gar nicht daran, heute so wenig wie früher. Haben Mann und Weib Lust aufeinander, haben sie jetzt kraft Pille auch jederzeit die Möglichkeit dazu. Alfi und Inga haben es bewiesen. Kein Anlass also zu Lastern.

Die Leute haben die reine Möglichkeit! verbessert er sich, denn was ist mit denjenigen Jungen, die keinen gleichgesinnten Partner haben? Was ist mit denjenigen jungen Männern und Frauen, die allein in ihrem Fleisch sind? Denen nützt auch die Pille nichts, so dass für sie das Kantische Problem so aktuell ist wie vor zweihundert Jahren.

Was aber meint Kant mit ,Lastern'? Da ist er wenig explizit. Das ,Laster' ist vielleicht der Umgang mit den Prostituierten in den Freudenhäusern, wo man die körperliche Liebe kaufen kann. Dabei reichen die Mittel der Betroffenen meist aber gerade so wenig wie dafür, ein Weib zu ernähren, auch für den Besuch im Bordell! Das besagte Jahrzehnt einer abgenötigten und unnatürlichen Enthaltsamkeit, die auf Dauer sowieso nicht einzuhalten ist – und auch gar nicht einsehbar ist, wieso sie überhaupt eingehalten werden sollte –, führt daher eher zu einem anderen, ebenso abgenötigten wie allgemein praktizierten Verhalten: der sexuellen Selbstbefriedigung. Freud nannte es Notonanie: diejenige Onanie, die aus der Not kommt, dass der Einzelne ohne Sexualpartner ist. Davon zu unterscheiden ist offenbar diejenige Onanie, die auch dann noch praktiziert wird, wenn es einen solchen Partner gibt. Ist also die Masturbation – ob nun abgenötigt oder freiwillig – das ,Laster', auf das Kant anspielt?

In seiner Philosophie des Unbewussten von 1869 kommentiert der Philosoph Eduard von Hartmann die Kantische Stelle: Wer aber wirklich ausnahmsweise sich von allen das Provisorium erfüllenden Lastern frei hält und mit der Anstrengung der Vernunft die Qualen der erregten Sinnlichkeit in ewig erneutem Kampf überwindet, der hat in diesem Zeitraum von der Pubertät bis zur Verheiratung, dem Zeitraum wenn auch nicht der nachhaltigsten Kraft, doch der loderndsten sinnlichen Glut, eine solche Summe von Unlust zu ertragen, dass die in dem späteren Zeitraum folgende Summe der geschlechtlichen Lust sie nimmermehr aufwiegen und wiedergutmachen kann. Das Alter der Verheiratung der Männer rückt aber mit fortschreitender Kultur immer höher hinauf, der provisorische Zeitraum wird also immer länger und ist am längsten gerade bei den Klassen, wo die Nervensensibilität und Reizbarkeit, also auch die Qual der Entbehrung am größten ist. Da wäre es doch, wenn nicht gar menschenunmöglich, so doch jedenfalls höchst menschenfeindlich, wenn in dem Zeitraum der loderndsten sinnlichen Glut die Vernunft zu keinem besseren Zweck gebraucht werden sollte, als die Qualen der erregten Sinnlichkeit „in ewig erneutem Kampf zu überwinden“, anstatt dafür wenigstens halbwegs nach Ersatz zu suchen.

Ein Mann mit der loderndsten sinnlichen Glut und der größten Nervensensibilität und Reizbarkeit ist zweifellos er, Harry Heine! Es wäre daher höchst irrational, wenn er sich von allen das Provisorium erfüllenden Lastern frei halten und mit der Anstrengung der Vernunft die Qualen der erregten Sinnlichkeit in ewig erneutem Kampf überwinden und in dem Zeitraum von der Pubertät bis zur Verheiratung – dem Zeitraum, wenn auch nicht der nachhaltigsten Kraft, doch der loderndsten sinnlichen Glut – eine solche Summe von Unlust ertragen wollte, dass die in dem späteren Zeitraum folgende Summe der geschlechtlichen Lust sie nimmermehr aufwiegen und wiedergutmachen könnte ...!

Dabei heiratet er auch gar noch nicht mit 25, sondern, was bei Intellektuellen gar nicht so selten ist, überhaupt erst mit 43, so dass bei ihm der Zeitraum von der Pubertät bis zum Leben mit Mathilde – der Zeitraum, wenn auch nicht der nachhaltigsten Kraft, so doch der loderndsten sinnlichen Glut – nicht bloß zehn, sondern, bis er sie kennenlernt, annähernd zwanzig Jahre beträgt. Er strengt daher seine Vernunft auch gar nicht erst weiter vergeblich an. Wir sahen es an seiner Notonanie, und wie er manch zotenhafte Anekdote oder schlüpfrige Stelle aus dem Alten Testament, den Carracci-Zyklus und zahllose andere erotische Sujets der Arche Noä kraft poetischer Phantasie zu lebendiger Gegenwart erweckte. Wir sahen es beginnend bei Adam und Eva im Paradies, bei der Geschichte Lots und seiner Töchter, die er lebensnah reproduzierte; wir sahen es an der Geschichte Thamars und Juda's; David und Bathseba's; Susanna's im Bade; Judiths und Holofernes'. Wie sahen es, ins Literarische gewendet, an Ophelia und Horatio, an Kleists Marquise von O. und an Nabokovs Lolita. Diese und unzählige andere Episoden erweckt der junge Harry zu leidenschaftlichem Leben und zieht seine einsame Lust daraus. Ist das ein ,Laster', dann hat Kant wohl Recht mit seiner Behauptung. Wir zögern aber, es so zu benennen.

Ist das aber eine Lösung? Die sexuelle Selbstbefriedigung wirkt im Wesentlichen über die erotische Phantasie, und gewöhnt man sich an die sexuelle Selbstbefriedigung, dann konditioniert man sich auf die erotische Phantasie. Er begegnet der sexuellen Lust zuerst in der Onanie, und begegnet ihr desto intensiver, je größer und schneidender das Gefühl seiner Einsamkeit ist. Denn, so die Gefährlichen Liebschaften des Choderlos de Laclos: Die Einsamkeit steigert die Lust ins Ungeheuere.

Damit vergleichen Mann und Frau dann später aber auch ihre Lust beim realen Verkehr der Geschlechter. Die sexuelle Selbstbefriedigung ist wie eine Blaupause künftiger Lust: eine Schablone, ein Versprechen, das durch den wirklichen Beischlaf eingelöst und gar übertroffen werden soll. Der Einzelne in seiner verliebten Phantasie verwechselt seine einsame Lust mit der Lust, die er mit einer wirklichen Geliebten hat. Begegnen Mann und Frau sich dann erstmals sexuell, sind sie längst auf die ipsistische Phantasie geprägt.

Aber nicht nur während seiner einsamen Jugend befriedigt Harry sich selbst. Er tut es en passant auch noch in Paris bei seiner Liebe zu Morelle. Hat er sich nicht durch Lolita zu jugendgefährdenden Phantasien hinreißen lassen? Sogar in der Erwartung von Crescence noch bewahrte er seine Erotica aus dem Söller der Arche Noä.

Ja, sogar in seiner Ehe mit Mathilde noch identifiziert er sich mit Horatio, der von Ophelias nächtlichem Besuch wider Willen übermannt wird. Im Gedenken an Frisettes Cancan masturbiert er heimlich im Ehebett. Das heißt Freuds Begrifflichkeit weit überstrapazieren und ist keine ,Notonanie' im eigentlich freudianischen Sinne mehr. Was aber dann?

Onanie, die gar nicht abgenötigt wird, ist freiwillige, selbstgewählte, spontane Onanie. Onanie sogar noch in der Ehe. An einen solchen Gedanken aber wagten sich nicht einmal die Philosophen Kant und von Hartmann. Ist das vielleicht das Unnatürliche und also ein echtes Laster?

Ist die sexuelle Selbstbefriedigung durch die lange Einsamkeit konditioniert, dann erscheint es aber wieder als ganz verständlich und natürlich, wenn sie auch weiterhin praktiziert wird, und es wäre eher unnatürlich und erstaunlich, wenn sie von einem Tag zum andern einfach aufgegeben würde. Dies zumal dann, wenn man bedenkt, dass Henris Ehe kein Einzelfall ist, sondern, wie zuletzt der Film American Beauty zeigt, es auch noch in anderen Ehen so zugeht. Also auch hier wieder kein echtes ,Laster'.



Heine hardcore II - Die späten Jahre

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