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27: Tarita

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Alle heilige Zeit ereignet sich eine so genannte sexuelle Revolution. Darunter versteht man laut Definition einen Wandel der öffentlichen Sexualmoral im Sinn einer enttabuisierten Sexualität. Die sexuellen Bedürfnisse und Gewohnheiten der Geschlechter werden, unabhängig von institutionell oder religiös legitimierten Zwängen, mehr und mehr akzeptiert.

Drei sexuelle Revolutionen in Europa und Amerika seit Ende des 19. Jahrhunderts sind zu erkennen: die erste sexuelle Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit der Sigmund Freud bei seiner Sexualtheorie konfrontiert ist. Fasziniert verfolgt Harry die Entstehung der Psychoanalyse und wie Freud dem Vorwurf ausgesetzt ist, dass er die Bedeutung des Sexuellen für das Menschsein überschätze. Er selbst ist nicht der Meinung, dass Freud übertreibt. Die Bedeutung des Sexuellen für das Menschsein kann man ja eigentlich, wenn man ehrlich ist, gar nicht überschätzen!

Engagiert verfolgt er die Diskussion über Onanie der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung in Heft 2 von 1912. Engagiert, aber kritisch: Alles in allem vermutet er in der Psychoanalyse und Psychiatrie die fehlerhafte Tendenz, die Neigung zur sexuellen Selbstbefriedigung als etwas Pathologisches anzusehen und sie einer charakterlichen Fehlhaltung zuzuschreiben. Man unterschätzt den einfachen Umstand, dass ein Mensch mit einem angeborenen überstarken Trieb ja praktisch gar nicht anders kann, als auf die Dauer der Liebessucht zu verfallen. Wie der junge Rousseau: Mein erhitztes Blut füllte unaufhörlich mein Hirn mit Mädchen und Frauen, aber da ich keine Ahnung hatte, was man wirklich mit ihnen macht, beschäftigte ich sie in der Einbildung seltsamerweise nach meinen Phantasien, ohne zu wissen, was ich weiter mit ihnen anfangen sollte; und diese Gedanken hielten meine Sinne in einer sehr lästigen Tätigkeit.

Wie Felix Krull bei Thomas Mann: Da habe ich denn vor allem anzuführen, dass jene Angelegenheit sehr frühzeitig in meinem Leben eine Rolle zu spielen, meine Gedanken zu beschäftigen, den Inhalt meiner Träumereien und kindischen Unterhaltungen zu bilden begann: lange nämlich, bevor ich irgendeinen Namen dafür besaß oder mir auch nur von ihrer weiteren und allgemeinen Bedeutung ein Bild zu machen wusste, so dass ich die lebhafte Neigung zu gewissen Vorstellungen und das durchdringende Vergnügen daran durch geraume Zeit für eine ganz persönliche und anderen gar nicht vorstellbare Eigentümlichkeit hielt, über die ihrer Sonderbarkeit halber lieber nicht zu sprechen sei. Da es mir an einer eigentlichen Bezeichnung dafür gebrach, so fasste ich diese Empfindungen und Eingebungen bei mir selbst unter dem Namen ,Das Beste' oder ,Die große Freude' zusammen und hütete sie als ein köstliches Geheimnis … In der Tat grenzte meine Begabung zur Liebeslust ans Wunderbare; sie übertraf, wie ich noch heute glaube, das gemeine Ausmaß bei weitem.

Ihm selbst, Heine, schreibt Isidor Sadger eine überstarke Sinnlichkeit zu. Ist das aber schon bei ihnen so, dann ist es in Myriaden anderen Fällen auch nicht anders. Erkennen die Psychiater das aber an, verdienen sie nicht mehr daran. Ist das mit ein Grund für den ketzerischen Spruch, die Psychoanalyse selber sei die Krankheit, von der sie uns zu heilen verspricht? … –

Dann ist da die teils kommerziell-antiautoritäre, teils regierungsamtlich-sozialliberale Revolution der sechziger und frühen siebziger Jahre; und schließlich die so genannte Neosexuelle Revolution in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Letzteres ist ein unspektakulärer, weil eher unterschwellig und gleichsam hinter den Kulissen verlaufender tiefgreifender Wandel der Sexualmoral in den Ländern der westlichen Welt nach der 68-er Bewegung.

Gar für den Beginn einer neuen sexuellen Revolution hält die Zeitschrift stern den Roman Schoßgebete von Charlotte Roche, auch wenn Charlotte eigentlich bloß offen und unverblümt ausspricht, was inzwischen sowieso jeder weiß und denkt.

Genau genommen ist es sein semitischer Stammesgenosse, der ostjüdische Gummifabrikant Israel Fromm, der der sexuellen Revolution durch seine Kondom-Produktion einen entscheidenden Anstoß gibt.

Dieses Kondom ist eine dünne Hülle, zumeist aus vulkanisiertem Kautschuk, die ebenso vor der Empfängnis wie sexuell ansteckenden Krankheiten schützt. Sie wird vor dem Geschlechtsverkehr über den erigierten Penis des Mannes gestreift, der dann innerhalb ejakuliert. Zur Aufnahme des Spermas dient das so genannte Reservoir, eine Ausbuchtung an der Spitze des Gummis. Die ersten Kondome waren aus gewebtem Stoff und als solche bei der Verhütung nicht besonders brauchbar. Die ersten wirksamen Kondome wurden aus Schafsdärmen oder anderen tierischen Membranen gefertigt. Solche Formen sind auch heute noch erhältlich. Sie gelten bei manchen als sinnlicher, fühlen sich dank weniger Elastizität und Slip-Stick anders an, sind jedoch nicht so effektiv wie künstlich hergestellte. Der physikalische Stick-Slip-Effekt – Haftgleiteffekt – bezeichnet allgemein das Ruckgleiten von gegeneinander bewegten Körpern, wie beispielsweise ratternde Scheibenwischer, die am Latexluftballon oder Rand eines Trinkglases rubbelnde nasse Fingerkuppe, oder eben auch die Geschlechtsteile von Mann und Frau. Bereits Casanova benutzte Kondome, die im 18. Jahrhundert so genannten English Overcoats, zum Schutz vor der Syphilis. Laut der verbreitetsten Theorie über die Herkunft des Namens leitet er sich von Oberst Dr. Condom ab, dem Hofarzt von Charles II. von England, der zur Empfängnis- und Infektionsverhütung angeblich Hammeldärme empfahl.

Charles Goodyears bahnbrechende Erfindung von 1839: die Vulkanisierung von Kautschuk, führt zur Herstellung von wasser-, wärme- und kältefestem sowie bruchstabilem Gummi. 1855 wird so das erste Gummi-Kondom fabriziert und 1870, mit zwei Millimetern Dicke vernäht, serienmäßig produziert. Ende des 19. Jahrhunderts verkauft die Maison A. Claverie, Paris, aufgerollte Kondome mit Reservoir unter dem Artikelnamen Le Parisien – der Pariser. Sie sind aus dehnbarem Gummi und gegebenenfalls mehrmals verwendbar. Eine Weiterentwicklung des populären Produkts hat am unteren Rand des Reservoirs einen angeklebten Stachelring aus Gummi und heißt Le Parisien Dentelé, der gezahnte Pariser. Die französischen Versandfirmen für Ehehygiene befinden sich nur in Paris. Sie vertreiben die gleichen Kondome unter verschiedenen Namen, z. B. Le Bijou, das Juwel. In Deutschland wird 1888 Frauen und Jugendlichen durch Bundesratsverordnung die Arbeit in Präservativfabriken aus moralischen Gründen verboten.

Die eigentliche Revolution in der hedonstischen Gummichemie aber verdanken wir wie gesagt Israel Fromm, der 1916 unter dem Firmennamen Fromms Act das weltweit erste Kondom ohne störende Naht, einfachheitshalber Fromms genannt, auf den Markt bringt. Der inzwischen Julius genannte Israel ist das zweite Kind einer armen ostjüdischen Familie aus dem damals zum Russischen Reich gehörenden Teil Polens. Seine Eltern leben im Schtetl, dem jüdischen Armenviertel von Konin. Wegen ihrer Armut und Perspektivlosigkeit emigriert die Familie 1893 nach Berlin, lebt im Scheunenviertel nahe dem Alexanderplatz und verdient ihren Lebensunterhalt mit Heimarbeit durch Herstellung und Verkauf von Zigaretten. Die Fromms landen in der Mulackstraße, der ärmsten und verrufensten Ecke Berlins, wo laut einem zeitgenössischen Autor „Schwerverbrecher und Dirnen mit ihrem arbeitsscheuen Anhang“ hausen.

Neben seiner Arbeit als Zigarettenverkäufer studiert Julius in Abendkursen Chemie. 1906 heiratet er seine schwangere Verlobte. Insgesamt hat das Paar drei Söhne. Nach dem frühen Tod seiner Eltern übernimmt er 1912 die Verantwortung für seine sechs jüngeren Geschwister und macht sich selbstständig. 1914 gründet er in einer Hinterhofwerkstatt im Prenzlauer Berg sein Fabrikations- und Verkaufsgeschäft für Parfümerie und Gummiwaren. Er experimentiert viel mit Gummi und erfindet das transparente und nahtlose Kondom aus Naturkautschuk, bei dem ein Glaskolben in eine Rohgummilösung getaucht wird. Als Ein-Mann-Unternehmer vertreibt er es über den Drogeriehandel.

1916 bringt er mit seiner florierenden, deflorierenden Fromms Act Gummiwerke GmbH sein erstes Markenkondom unter dem Namen Fromms Act unter die Leute. Die damals gebräuchlichen Kondomarten, meist aus Tierdärmen, Fischblasen oder Gummiprodukten genäht, sind ziemlich unbeliebt, schützen jedoch vor der Syphilis und anderen venerischen Übeln. Fromms modernes Produkt wird zum Verkaufsschlager, ab 1930 sind verhütende Latex-Kondome allgemein erhältlich. Angesichts eines bereits 90-prozentigen Marktanteils meint Israel zu seinem Werbechef: Schreiben Sie: Die Konkurrenz platzt. In Deutschland sind die Fromms so populär, dass in Berlin sogar die Bier-Kabarettisten und Piano-Humoristen darüber herziehen: Fromms zieht der Edelmann beim Mädel an, singen sie, oder: Wenn's Euch packt, nehmt Fromms Act, wahlweise auch: Ich bin ganz Fromms – zum Platzen gespannt. Allerdings hat ein junger Mann wie Harry beim Produkt seines Stammesgenossen, außer im Bordell, eigentlich gar nichts zum Lachen, solange er nicht auch ein Mädel hat, das dabei mitmacht, mitlacht.

Der Verkauf von Kondomen ist bis Mitte des 20. Jahrhunderts vielerorts verboten, beziehungsweise nur zu medizinischem Gebrauch erlaubt. Im rückständigen Irland beispielsweise gilt eine solche Regelung sogar noch bis Anfang der 1990er. Fromm macht ein sagenhaftes Geschäft, als im Ersten Weltkrieg Kondome zum Standardequipment der Soldaten gehören. Die deutsche, französische und britische Armee verteilt Kondome kostenlos unter ihre Soldaten; nicht dagegen die US-Armee, so dass amerikanische Soldaten häufiger Geschlechtskrankheiten kriegen als andere. Die frühen Latex-Kondome sind einander so ähnlich wie ein Ei dem andern. Der Unterschied ist bei einigen Kondomen das Fehlen des heute gebräuchlichen Reservoirs. Eine frühe Entwicklung, die short cap, die nur über die männliche Eichel gestreift wird, versagt allerdings bei der Reduzierung von Schwangerschaften und Krankheiten.

In den folgenden Jahrzehnten entwickeln Hersteller Kondome in vielen Variationen, die sich in Materialien, Größen, Stärken, Farben, Formen, Struktur unterscheiden. Der Globale Fonds zur Bekämpfung von AIDS, Tuberkulose und Malaria finanziert allein 2014 die Verteilung von 5,1 Milliarden Kondome weltweit … – Man stelle sich einmal deren gleichzeitigen Gebrauch vor. Immer aber noch hat ein junger Spund wie Harry vom Produkt seines Genossen, außer im Bordell, eigentlich nichts, solange nicht auch eine Partnerin mitmacht! Außerdem würde er es, sobald er die Gelegenheit bekäme, als ziemlich störend empfinden, zwischen sich und die Frau eine spanische Wand aus Gummi zu ziehen.

Letzteres erübrigt sich durch die Erfindung der Antibabypille, oder einfach ,Pille' genannt. Diese ist ein oral einzunehmendes Präparat zur modernen Empfängnisverhütung. Es enthält die weiblichen Hormone in unterschiedlicher Kombination und ist ein sicheres Mittel gegen unbeabsichtigte Schwangerschaft. Lamettries Maschine Mensch zeigt sich unfehlbar auch hier: Sogar der weibliche Körper ist, so unromantisch es sich anhört, eine Maschine – genauer, eine Reproduktionsmaschine; so ist es kein Wunder, dass auch die Maschinerie der Fortpflanzung durch technische Eingriffe manipuliert werden kann. Im Nachkriegsdeutschland ist die Pille umstritten und im Konflikt mit den Moralvorstellungen. Die Firmen verkaufen sie deshalb zuerst als ein ,Mittel zur Behebung von Menstruationsstörungen', das zunächst nur verheirateten Frauen zukommen soll. Offenbar befürchtet man, dass man die noch Ledigen zu solcher Promiskuität verführen könnte, dass sie am Ende gar nicht mehr heiraten wollen.

Die römisch-katholische Kirche, die es moderner Wissenschaft ungeachtet inzwischen immer noch gibt, lehnt die Verwendung künstlicher Verhütungsmethoden sowieso ab. Der Papst, ihr römischer Oberhirte, steht nach wie vor auf dem vorsintflutlichen Standpunkt, dass aufgrund des natürlichen Sittengesetzes jeder eheliche Akt „auf die Erzeugung menschlichen Lebens ausgerichtet bleiben“ müsse. Das wäre aber, da die Welt allmählich auf die Bevölkerungsexplosion zutreibt, praktisch gleichbedeutend mit totaler Enthaltsamkeit oder Masturbation.

Indem die Pille den Sex von zwangsläufiger Nachkommenschaft befreit und praktisch frei verfügbar macht, ist sie eine das 20. Jahrhundert maßgeblich prägende Neuerung. Fünf Jahre nach ihrer Zulassung, 1965, nehmen sie in den Vereinigten Staaten 41 % der verheirateten Frauen unter 30 Jahren. Erst 1972 erhalten auch die unverheirateten Frauen der Vereinigten Staaten freien Zugriff darauf. 1976 verhüten bereits drei Viertel der 18- und 19-jährigen Frauen mit oralen Kontrazeptiva. Inzwischen sind es nahe 100 % der ab 16-Jährigen.

Mit der Pille gehen die Geburtenraten in den Industrienationen merklich zurück: der ,Pillenknick'. – Damit können die Frauen ihre Geschlechtlichkeit jetzt theoretisch nach Belieben ausleben, ohne Angst vor ungewollter Schwangerschaft haben zu müssen. Die ,frei Liebe' wird möglich. Der Papst ist wie gesagt dagegen. Er hat aber auch, wenn man ihm glauben darf, selber nichts zu verhüten.

Das ist nun aber eine ganz unerhörte Neuerung! Früher mussten Mann und Frau, wenn sie auf natürliche und ungestörte Weise miteinander Sex haben wollten, stets mit der störenden Möglichkeit rechnen, dass die Frau schwanger würde. Wollten sie das nicht, musste der Mann, bevor er zur Ejakulation kam, sein Ding rechtzeitig aus ihrem Schoß ziehen und sich sonstwohin entleeren. Das war der so genannte Coitus interruptus, wie ihn schon Onan bei Thamar in der Bibel verübte. Dieser so genannte „unterbrochene Geschlechtsverkehr“ ist eine veraltete und recht unsichere Methode der natürlichen Empfängnisverhütung, bei der der Koitus so beendet wird, dass die Ejakulation des Mannes außerhalb von Vagina und Vulva erfolgt, um das Vordringen der Spermien zur Eizelle im Eileiter der Frau zu verhindern. Die Ejakulation kann dann, bei ihrem Einverständnis, auf den Körper der Frau oder sonstwohin ins Blaue hinein, auf jeden Fall aber jenseits der Vaginalöffnung, jenseits von Eden, erfolgen. Die katholische Kirche verteufelt den Coitus interruptus mit dem Hinweis auf den vorgenannten biblischen Onan, der sich mittels dieser Methode von der gesetzlichen Pflicht befreien wollte, die Frau seines verstorbenen Bruders zu schwängern und ihren Kindern ihr Erbteil zu sichern.

Im Gegensatz dazu ist der Coitus interruptus etwa im Islam erlaubt. Da wurde er schon zur Zeit des Propheten Mohammad gepflegt und gebilligt. Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, welch vermaledeites Malheur unsere Altvordern damit gehabt haben müssen. Man denke nur an die ganze Engelmacherei der Abtreibungen. Schon die Bibelleser kennen den alttestamentarischen Onan, der von Thamar kein Kind haben wollte und daher ins Nirwana hinein onanierte. Das ist aber gar nicht nach Harrys Geschmack, der sich nicht anderes vorstellen kann, als sich immer in seiner Geliebten Schoß zu verströmen. Außerdem ist man nicht einmal beim Coitus interruptus sicher, dass die Frau nicht empfängt, weil sich noch immer leicht ein Samenfädchen selbstständig machen und sich als Irrläufer ins Ovum einschleichen kann.

Das alles ist jetzt Schnee von gestern. Jetzt braucht die Frau nur regelmäßig die Pille zu nehmen, und einem ungestörten Geschlechtsverkehr steht nichts mehr im Wege. Wieder hat der Mensch der Natur ein Schnippchen geschlagen und nimmt seine Fortpflanzung selbst in die Hand. Was für ein unheimlicher Fortschritt! die Natur hat uns die Pflicht zur Lust verordnet, wir aber machen eine Kür daraus. Aus der Pflicht zur Vermehrung eine Kür der Lust. Damit erfüllt sich das utopische Geraune aus Rousseaus Emile: „Nicht genug damit, dass die Frauen ihre Kinder nicht mehr nähren, wollen sie auch keine mehr gebären, das ist eine ganz natürliche Konsequenz. Sobald das Muttersein als lästig empfunden wird, findet man auch bald ein Mittel, sich völlig davon zu befreien; man will einen Genuss ohne Folgen, um immer von Neuem mit ihm beginnen zu können, und verkehrt den Reiz zum Schaden der Gattung, der doch gegeben ist, sie zu vermehren.“ Soviel zu einer Zeit, der von Übervölkerung noch nichts schwante.

Aber sonderbar! Merkwürdigerweise hat Harry von dem ganzen revolutionären Fortschritt persönlich überhaupt nichts. Auch die Erfindung der Pille nämlich kommt nur solchen Männern zugute, die sich mit ihrer Geliebten paaren wollen, ohne ihr gleich ein Kind zu machen. Um solche Sorgen zu haben, muss man aber erst einmal eine Geliebte haben! Der neue Komfort nützt jedoch denjenigen Männern, die keine Geliebte haben, auch nicht das Mindeste dabei, eine solche zu kriegen!

Und nicht nur, dass sie der unbeweibten Männerwelt nichts dabei nützt, ist sie für diese auch noch eine arge Ironie insofern, als sie jetzt, während sie selber auf dem Trockenen sitzt, auch noch dabei zusehen muss, wie die Glücklicheren ungehinderter denn je ihrem antikonzeptionellen Pläsier frönen. Die Ehe ist ein zweischläfriger Egoismus. Pater est quem nuptiae demonstrant. Die Pille bringt Harry nur Hohn und Spott. Wie ist es denn mit Federico und Béa? Während er zu Hause bleibt, vögeln sie in ihrem Madrider Liebesnest.

Wie ist es denn mit seinem Adlatus Alfi, der ihm Inga ausspannte – mit dem sich ihm Inga selber ausspannte? Die pimpern zünftig drauf los, dieweil er selber mit psychischen Zuständen in der Etappe bleibt!

Wie ist es denn mit Isabel und Vicente? Sie lehren den Moscatel der Lust bis zur Neige.

Wie ist es mit Natalie und Paule? Die gehen gleich aufs Ganze und werden noch vor der Matura schwanger!

Daher kann Harry an allen diesen Revolutionen persönlich auch nichts sonderlich Revolutionäres finden. Persönlich merkt er kaum etwas von der Erfindung, die angeblich die freie Liebe ermöglicht. Er selber hat gar nichts davon, denn seine eigene Liebesleidenschaft ist kein Lützel freier als vorher. Die Frauen geben sich im Sexuellen, auch wenn sie es theoretisch könnten, praktisch keineswegs so frei, wie es die Pille erlaubt. Sie suchen sich, kaum sind sie mannbar, wie gehabt einen einzigen festen Partner und obliegen ihrer Liebeslust dann exklusiverweise mit diesem. Das soll die ,freie' Liebe sein? Diese neue freie Liebe ist für Harrys Empfinden genauso unfrei wie die alte.

So taugt ihm die Antibabypille höchstens zu einer neuen Erkenntnis: Die Liebe ist grundsätzlich nicht ,frei'. Die Liebe ist an sich selbst etwas zutiefst Restriktives. Die Liebe bleibt trotz aller abstrakten Freiheit konkret doch immer auf das jeweilige Paar beschränkt, das mit eifersüchtiger Ausschließlichkeit auf seine Zweisamkeit pocht.

Die ,Freiheit' der Liebe gilt immer nur für die beiden Liebenden selbst, die frei sind, zu tun, was sie wollen – wovon ein Außenstehender gar nichts hat. Harry erkennt: das ist ein menschliches Universale. Trotz Pille bleibt er, da er ohne Partnerin ist, genauso einsam in seinem Fleisch wie vorher, und seine Gedichte sind der Ausdruck derselben romantischen Sehnsucht wie eh und je.

Allerdings gibt es Männer, die dem Ideal der freien Liebe ziemlich nahe kommen. Am bekanntesten darunter sind wohl die Filmstars. Nehmen wir beispielsweise Marlon Brando. Harry sieht Marlon zuerst 1962 in der Rolle des Offiziers Fletcher Christian in Die Meuterei auf der Bounty. Das Schiff Bounty soll die Brotfrucht aus Tahiti nach England bringen. Es untersteht dem Kommando des berüchtigten Kapitäns Bligh, der bald, nachdem sie den Hafen verlassen haben, eine tyrannische Herrschaft auf seinem Schiff ausübt. Geringe Vergehen der Mannschaft werden mit der neunschwänzigen Katze und anderen Foltern bestraft. Als Blighs anfänglicher Plan, Kap Hoorn zu umsegeln, der rauen Wetterlagen wegen scheitert, muss die Bounty, anstatt wie beabsichtigt durch die kürzere Route Zeit einzusparen, umkehren und den langen Weg um Afrika und Australien machen. Bligh setzt die Besatzung immer mehr unter Druck, um die durch den Fehlschlag verlorene Zeit wieder einzuholen. Neben dem aufsässigen Matrosen Mills wagt es lediglich Blighs Erster Offizier, der charismatische Fletcher Christian, sich ihm zu widersetzen. Auf Tahiti angekommen, hat die Ruheperiode der Brotfruchtbäume bereits eingesetzt, ein Umpflanzen für den Transport ist nicht möglich. So widmen sich die Männer unter Blighs scheelsüchtigen Blicken einige glückliche Monate lang den einheimischen Frauen. Den Tahitianerinnen.

Diese Frauen tanzen in Hularöckchen halbnackt, nur mit einem Lendenschurz umkleidet, mit beschwingten Hürften und wippenden Brüsten um die Männer herum. Christian verliebt sich in Maimiti, die Tochter des Häuptlings Hitihiti, die von Tarita Tumi Teriipaia, einer hinreißenden polynesischen Tänzerin, gespielt wird. Wer könnte es ihm verdenken? Die wirkliche Teriipaia arbeitet zu dieser Zeit in einem Restaurant als Tellerwäscherin und Tänzerin. Sie wird für die Rolle gewählt, weil sie wundervoll tanzt, sehr schön ist und genau dem Typ der wollüstig-unschuldigen Südsee-Schönheit entspricht, der den Produzenten vorschwebt. Die Rolle ist schauspielerisch so bescheiden, dass ihre Unerfahrenheit vor der Kamera keine Probleme macht.

Unvergesslich ist Harry die Szene, wo Tarita und Fletcher mit bunten Blumenkränzen um den Hals sich allein unter Palmen, unterlegt mit ungemein romantischer Musik, hingebungsvoll küssen. „Ja, Fletcher!“, sagt Tarita, woraufhin sie zusammen hinter einem der üppig wuchernden Büsche zu Boden gleiten und dem Blick entschwinden. Die Frage, worauf das die Antwort ist, kann er sich nur noch denken. Ausgerechnet da kommt, gleichfalls mit bunten Blumenkränzen um den Hals, die gar nicht zu ihm passen, der steife Bligh vorbei, linst scheelsüchtig hinter den Busch und ruft seinen Offizier: „Mister Christian!“ Im Hintergrund immer noch die verträumt romantische Musik. Als Antwort kommt hinter dem Busch hervor witzigerweise: „Nicht zu Hause!“ Kurz darauf erscheint Marlon, seine Uniform ordnend, aus den Büschen: „Was gibt’s?“ – „Die Tochter des Königs“, ruft ihn der Kapitän zur Räson, „sollte Ihnen heilig sein. Vergessen Sie nicht, wir stehen hier im Namen der Krone. Ihre Lüsternheit können Sie anderswo befriedigen.“

Lüsternheit, sagt er. Wer könnte es ihm verdenken? Wozu sonst hätte man Tarita gecastet? Christian überlegt einen Moment und entschließt sich unter trockenem Lachen zu einer ironischen Auskunft: „Wenn man es recht betrachtet“, erklärt er mit abgewandtem Blick und schulmeisterlicher Miene, „haben wir uns überhaupt nur unterhalten über die Vielfalt der Vegetation hier, denn die Möglichkeiten im Urwald sind ...“ – Natürlich merkt Bligh, dass er verhöhnt wird, und unterbricht ihn: „Führen Sie sofort den Befehl aus!“ Christian überlegt einen Augenblick, was das für ein Befehl sein könnte, bevor er mit militätischer Miene spöttisch erwidert: „Lüsternheit anderswo befriedigen, jawohl!“ – „Aber nicht heute“, maßregelt ihn Bligh. „Melden Sie sich sofort an Bord!“ Er wendet sich ab und geht weg. Christian sieht ihm einen Moment lang nach und überlegt wohl, ob er dem Befehl nachkommen oder zu der am Boden liegenden Tarita zurückkehren soll. Dann zerreißt er resigniert seine Blumenkränze. „Hirnverbrannter Idiot!“, sagt er, und zu Tarita hinter dem Busch: „Unterricht muss heute ausfallen.“ Und geht ohne weiteren Abschied ab. Kurz danach kommt Tarita hinter dem Busch hervor, das Röckchen über den braunen Schenkeln bis an die Hüften hochgeschoben … Der südseeinsulanische Liebestraum ist vorübergehend gestört. Coitus interruptus, denkt Harry, falls er zu der Zeit schon das Wort dafür kennt.

Tarita wird während der Dreharbeiten von Marlon Brando persönlich betreut. Dieser macht zwischen Film und Wirklichkeit offenbar keinen großen Unterschied, da er mit ihr auch persönlich Liebe macht, die – mit einigen Unterbrechungen – bis zu seinem Lebensende dauert. 1963 wird ihr gemeinsamer Sohn Teihotu geboren, 1970 ihre Tochter Tarita Zumi Cheyenne. Seit Teihotus Geburt lebt Tarita meist auf einem Strandanwesen in Papeete, das Brando für sie erwirbt.

Auch sonst scheint Marlon nicht sonderlich zwischen Film und Wirklichkeit zu unterscheiden. Er gilt als sexualsüchtig und hat zahllose kurze wie lange Affären mit Frauen wie Marilyn Monroe, Marlene Dietrich, Joanne Woodward, Pier Angeli, France Nuyen, Ursula Andress, Katy Jurado, und nach eigener Auskunft auch mit Männern. Dauerhaftere Beziehungen unterhält er u. a. mit Stella Adlers Tochter Ellen und den Schauspielerinnen Rita Moreno and Jill Banner. 1957 heiratet er Anna Kashfi, die aber schon ein Jahr später die Scheidung einreicht. Um das Sorgerecht für ihren 1958 geborenen Sohn Christian liefern Brando und Kashfi sich einen bis 1974 dauernden Rechtsstreit. 1960 heiratet er die mexikanisch-amerikanische Schauspielerin Maria ,Movita' Castaneda, die 1967 die Scheidung einreicht. Während der Ehe werden die Kinder Sergio und Rebecca geboren, deren Vaterschaft jedoch strittig ist. Über 43 Jahre, bis zu seinem Tod, ist er mit Tarita und ihren beiden Kindern Teihotu und Cheyenne zuammen. Drei gemeinsame Kinder hat er aber auch mit seiner guatemaltekischen Haushälterin Cristina Ruiz … –

Insgesamt zeugt Brando sieben Kinder mit vier verschiedenen Frauen. Dass er sexsüchtig sei, klingt aber ziemlich beliebig, denn wie sollte man definieren können, wie oft ein Mensch einschlägig aktiv sein darf, damit sein Sexualverhalten noch als normal gilt? So scheint Kinseys ironisches Wort über die Nymphomanie, entsprechend abgewandelt, auch für die Sexsucht zu gelten: „A nymphomaniac is a woman who has more sex than you do. Eine Nymphomanin ist eine Frau, die mehr Sex hat als Sie.“

Überhaupt scheint ,Sexucht' ein neuer modischer Begriff, den es zu Brandos Zeit vielleicht noch gar nicht gibt, in der ein übersteigertes sexuelles Verlangen noch nicht als unnormal gilt, so dass man es ihm erst im nachhinein unterstellt. War Mozart dann vielleicht musikalsüchtig? Oder Gauß und Einstein intellektualsüchtig? Harry ist von soviel Promiskuitivität fasziniert und muss sich fragen, ob nicht auch seinem Temperament eigentlich ein Lebenslauf wie der Marlons entspräche. Berufen sind offenbar viele, aber nur wenige auserwählt. Damit zugleich spürt er aber auch einen inneren Hang zur Liebestreue und einen monogamen Charakter in sich. Natürlich kann ein Mann mehrere Frauen lieben und mit jeder von ihnen glücklich sein. Die Frage ist nur, ob auch eine Frau mit mehr als einem Mann glücklich sein kann. Scheint das ,Glück' eines Mannes bei den Frauen, wenn Marlon irgend glücklich war, doch oft genug gleich dem Unglück der Frauen. Harry liebt die Frauen so sehr, dass er nicht eine von ihnen enttäuschen will. Noch weiß er nicht, dass das das eigentliche Problem seines Lebens ist: seine anarchische Sinnlichkeit und die Anarchie seines Blutes mit der vernunftgeordneten Einrichtung der Welt in Übereinstimmung zu bringen … –

Heine hardcore II - Die späten Jahre

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