Читать книгу In Nacht und Eis - Fridtjof Nansen - Страница 10
FRÜHJAHR UND SOMMER 1894
ОглавлениеSonntag, 14. Januar. Die Zeit verfliegt beinahe schnell und jeden Tag wird es heller. Gestern war das Eis ruhig, heute Morgen aber herrschte an verschiedenen Stellen wieder beträchtlicher Eisdruck. Ich machte einen weiten Marsch nach Südwesten und geriet mitten in die Pressungen hinein. Das Zusammenschieben begann gerade, wo ich stand, mit donnerndem Getöse unter mir und auf allen Seiten; ich sprang und rannte wie ein Hase, gerade als ob ich so etwas noch nie gehört hätte; es kam so unerwartet. Das Eis war im Süden merkwürdig flach; je weiter ich ging, desto flacher wurde es und dabei war die Oberfläche ganz vorzüglich für Schlittenfahrten geeignet. Auf solchem Eis könnte man täglich viele Meilen fahren.
Montag, 15. Januar. Je länger ich hier umherstreife und dieses Eis nach allen Richtungen hin ansehe, desto stärker erfasst mich ein Plan, mit dem ich in Gedanken schon lange umgegangen bin.
Mit Hunden und Schlitten musste es möglich sein, auf diesem Eis den Pol zu erreichen. Den Rückweg würde man dann in der Richtung auf Franz-Joseph-Land, Spitzbergen oder die Westküste von Grönland nehmen. Für zwei Leute könnte man es fast als eine leichte Expedition bezeichnen.
Allein, es würde voreilig sein, im Frühjahr aufzubrechen. Erst müssen wir sehen, welche Drift der Sommer bringt. Und wenn ich darüber nachdenke, halte ich es doch für zweifelhaft, ob es richtig wäre, mich zu entfernen und die anderen zu verlassen. Man denke sich nur, wenn ich nach Hause käme und sie nicht!
Und doch bin ich hierher gekommen, um die unbekannten Polargebiete zu erforschen; dafür haben die Norweger ihr Geld hergegeben und es ist sicher meine erste Pflicht zu tun, was ich kann. Ich muss die Drift noch einer längeren Probe unterziehen. Wenn wir aber nach einer verkehrten Richtung geführt werden, dann bleibt nichts anderes übrig, als den Polmarsch anzutreten, komme danach, was da wolle!
Dienstag, 16. Januar. Ist es die Ruhelosigkeit des Frühlings, die über den Menschen kommt? Der Wunsch nach Tätigkeit, nach etwas, was sich von diesem Leben unterscheidet? Ist die Menschenseele nichts weiter als eine Aufeinanderfolge von Stimmungen und Gefühlen, die sich so unberechenbar verändern wie der Wind? Vielleicht ist mein Gehirn übermüdet; Tag und Nacht sind meine Gedanken auf den einen Punkt gerichtet gewesen, auf die Möglichkeit, den Pol zu erreichen und wieder nach Hause zu kommen. Vielleicht ist es Ruhe, was ich brauche, um zu schlafen, zu schlafen! Fürchte ich mich, das Leben zu wagen? Nein, das kann es nicht sein.
Aber was hält mich sonst zurück? Vielleicht ein geheimer Zweifel, dass der Plan durchzuführen ist? Mein Geist ist verwirrt; alles ist in Unordnung geraten, ich bin mir selbst ein Rätsel. Ich bin abgenutzt und fühle doch keine besondere Ermüdung. Alles um mich herum ist Leere und mein Gehirn ist ein weißes Blatt. Ich schaue die Bilder aus der Heimat an und sie langweilen mich; ich blicke in die Zukunft und es kommt mir vor, als sei es mir ziemlich einerlei, ob ich in diesem oder im nächsten Herbst zurückkomme. Wenn ich schließlich überhaupt nur zurückkomme, scheinen mir ein oder zwei Jahre fast nichts zu sein.
So habe ich früher nie gedacht. Ich habe jetzt keinerlei Neigung zum Lesen, zum Zeichnen oder zu irgendeiner anderen Tätigkeit. Torheit! Soll ich versuchen, einige Seiten Schopenhauer zu lesen? Nein, ich will zu Bett gehen, obwohl ich nicht müde bin.
Das Einzige, was mir hilft, ist Schreiben, der Versuch, mich auf diesen Blättern auszusprechen und dann mich selbst gleichsam von außen her zu betrachten. Ja, das Leben des Menschen ist nichts als eine Aufeinanderfolge von Gemütsstimmungen, halb Erinnerung, halb Hoffnung.
Wenn ich auf das Bild blicke, das mein Haus in Lysaker im Abendlicht zeigt, meine Frau im Garten, so halte ich es für unmöglich, es hier noch viel länger auszuhalten. Aber nur die unbarmherzigen Schicksalsmächte wissen, wann wir dort wieder beisammen sein, die ganze Süße des Lebens wieder fühlen, wann wir über den lächelnden Fjord blicken werden und …
Wir stehen jetzt auf 80° n.B., im September waren wir auf 79° das ist – sage und schreibe – ein Grad in fünf Monaten. Wenn es mit dieser Geschwindigkeit weitergeht, werden wir in 45 Monaten oder vielleicht in 50 Monaten am Pol und in 90 Monaten oder 100 Monaten auf 80° n.Br. auf der anderen Seite des Pols sein, vermutlich mit der Aussicht, dass wir in weiteren zwei Monaten aus dem Eis heraus und nach Hause gelangen. Im besten Falle würden wir in acht Jahren wieder zu Hause sein!
Mir fällt ein, dass ich vor meiner Abreise in meinem Garten Büsche und Bäume für zukünftige Geschlechter pflanzte. Professor Brögger schrieb dazu, niemand wisse, wie lange Schatten diese Bäume werfen würden, wenn ich zurückkäme. Nun, sie liegen jetzt unter dem Winterschnee, werden aber im Frühjahr wieder sprießen und wachsen – wie oft wohl?
Zuzeiten erdrückt diese Untätigkeit geradezu den Geist. Das Leben erscheint so dunkel wie die Winternacht draußen; nirgends Sonnenschein, höchstens in der Vergangenheit und in der weit, weit entfernten Zukunft. Mir ist, als müsse ich diesen Bann der Erstarrung, diese Trägheit durchbrechen und Raum finden für meine Tatkraft. Kann nicht etwas geschehen? Könnte nicht ein Orkan kommen, dieses Eis aufreißen und es in hohen Wogen in Bewegung setzen wie das offene Meer? Lasst uns in Not kommen, lasst uns um unser Leben kämpfen – aber lasst uns nur vorwärtskommen!
Den untätigen Zuschauer spielen zu müssen, keine Hand rühren zu können, um uns selbst vorwärtszuhelfen, das ist grauenhaft. Es bedarf zehnmal größerer Geistesstärke still zu sitzen, seinen Theorien zu vertrauen und die Natur walten zu lassen, als auf seine Kräfte zu bauen – das ist nichts, wenn man ein Paar starke Arme hat.
Hier sitze ich und jammere wie ein altes Weib. Habe ich das alles nicht gewusst, bevor ich aufbrach? Die Dinge sind nicht schlimmer gegangen, als ich erwartet habe; im Gegenteil eher besser. Wo ist nun die Hoffnungsfreudigkeit, die mit dem Tag und der Sonne wuchs? Wo sind die stolzen Fantasien, die jungen Adlern gleich zu einer glänzenden Zukunft emporstiegen? Wie flügellahme, nasse Krähen verlassen sie das sonnenbeleuchtete Meer und verbergen sich in den nebligen Sümpfen der Verzagtheit. Vielleicht wird mit dem Südwind alles wiederkommen – ich muss einen der alten Philosophen durchstöbern …
Montag, 19. Februar. Heute ging der Wind nach Süden herum. Er erreichte 4 Meter Geschwindigkeit in der Sekunde.
Am Morgen nahmen wir Eisbohrungen vor. Das Eis war an der Backbordseite 1,875 Meter dick und mit einer Schneeschicht von ungefähr 4 Zentimetern bedeckt. Am Bug war es 2,08 Meter dick und ebenfalls mit mehreren Zentimeter Schnee überzogen. Man kann das für einen ganzen Monat kein großes Wachstum nennen, wenn man bedenkt, dass die Temperatur bis 50°C unter null gesunken war.
Heute und gestern haben wir wieder das Spiegelbild der Sonne gesehen; heute stand es hoch über dem Horizont, beinahe so rund wie eine Scheibe. Einige Kameraden behaupteten, sie hätten den oberen Rand der Sonne selbst gesehen; Peder und Bentsen wollten mindestens die Hälfte der Sonnenscheibe beobachtet haben, und Juell und Scott-Hansen erklärten, sie sei ganz über dem Horizont gewesen. Ich fürchte, es ist schon so lange her, seit sie die Sonne gesehen, dass sie ganz vergessen haben, wie sie aussieht.
Dienstag, 20. Februar. Großer Sonnenfesttag heute. Aber ohne Sonne. Wir müssten sie sehen, wenn keine Wolken am Horizont wären. Wir lassen uns jedoch nicht um unser Fest betrügen und können ja, wenn wir die Sonne wirklich zum ersten Mal sehen, nochmals feiern.
Mit einem großen Scheibenschießen fingen wir morgens an; dann hatten wir ein Mittagessen von vier Gängen und »Fram-Wein« alias Zitronensaft, Kaffee und später »Fram-Kuchen«; abends Ananas, Kuchen, Feigen, Bananen und Konfekt.
Großes Gesichtswaschen aus Anlass des Tages. Guter Gott, wohin soll das noch führen? Einige sehen aus wie Masttiere und die Backen von Juell machen geradezu Sorge. Als ich ihn im Profil betrachtete, dachte ich darüber nach, wie er es wohl machen würde, einen solchen Körper über das Eis zu schleppen, wenn wir eines Tages das Schiff verlassen müssten. Ich beschließe, eine Zeit lang schmalere Rationen zu geben. Abends kletterten wir mit dem Gefühl in die Kojen, dass wir uns beim Essen übernommen hatten. Draußen halber Sturm aus Südosten.
Gründonnerstag, 22. März. Noch immer starker südöstlicher Wind und gute nördliche Drift. Unsere Stimmung hebt sich. Der Wind pfeift durch die Takelung; er tönt wie ein Siegessang durch die Luft.
Am Vormittag hatte ein junger Hund schwere Krämpfe; er hatte Schaum vor dem Maul und biss wütend um sich. Als der Anfall mit Starrkrampf endete, brachten wir das Tier auf das Eis. Es hüpfte wie eine Kröte umher, die Beine steif ausgestreckt, Hals und Kopf aufwärts gebogen, während der Rücken wie ein Sattel eingedrückt war. Da es Tollwut oder eine andere ansteckende Krankheit sein konnte, erschoss ich den Hund.
Karfreitag, 23. März. Die Mittagsbeobachtung ergibt 80° n.Br. In vier Tagen und Nächten sind wir ebenso schnell nach Norden getrieben wie in drei Wochen nach Süden. Auf alle Fälle ist es ein Trost, das zu wissen. Rasch sind die Nächte hell geworden. Jetzt gelingt es selbst Sternen erster Größe kaum noch, um Mitternacht am blassen Himmel zu funkeln.
Ostersonnabend, 24. März. Wir haben dem Frühlingslicht den Eintritt in den Salon gestattet. Während des Winters war das Oberlicht zum Schutz gegen die Kälte mit Schnee bedeckt und außerdem waren die Hundehütten rundherum aufgestellt. Jetzt haben wir die Glasscheiben freigemacht und geputzt.
Montag, 26. März. Wir liegen ohne Bewegung; keine Drift.
Die Sonne steigt empor und taucht die Eisebenen in ihren Glanz. Der Frühling kommt, bringt aber keine Freude. Hier ist es so einsam und kalt wie je. Die Seele erstarrt.
Ich habe nicht den Mut an die Zukunft zu denken … Und wie wird es zu Hause werden, wenn Jahr auf Jahr vergeht und niemand kommt?
Ich weiß, es ist alles krankhafte Stimmung; aber diese untätige, tote Einförmigkeit ohne jede Veränderung drückt mich. Alles ist so still und tot, so steif und starr unter der Eisdecke. Was gäbe ich nicht für einen einzigen Tag des Kampfes – ja selbst für einen Augenblick der Gefahr!
Noch immer muss ich warten und die Drift beobachten; aber wenn sie die verkehrte Richtung einschlagen sollte, dann werde ich alle Brücken hinter mir abbrechen und alles auf einem Marsch nach Norden über das Eis wagen. Ich weiß nichts Besseres zu tun. Es wird gefährlich sein, eine Frage um Leben oder Tod; aber habe ich eine andere Wahl? Es ist des Mannes unwürdig, eine Aufgabe zu übernehmen und sie aufzugeben, wenn der Höhepunkt der Schlacht bevorsteht. Es gibt nur einen Weg und der ist »Vorwärts, Fram«!
Immer wieder grübelte ich über Zukunft und Drift. Manchmal glaubte ich, dass alles so ging, wie wir gehofft und erwartet hatten. So war ich am 17. April überzeugt, dass eine Strömung durch das unbekannte Polarbecken ging, da wir entschieden nordwärts trieben. Das Ergebnis der Mittagsbeobachtung waren 80°20’, das heißt 9 Minuten seit dem 15. April. Seltsam! Vier ganze Tage anhaltender Nordwind versetzte uns nach Süden, während 24 Stunden dieser spärlichen Brise uns 9 Minuten nordwärts treiben.
Vielleicht sind wir mit der Drift nach Süden zu Ende! Wenn ich noch die Wasserwärme, die wir in der Tiefe gefunden haben, berücksichtige, dann scheint mir die Lage wirklich lichter. Meine Gründe dafür sind folgende:
Die Wassertemperatur in der ostgrönländischen Strömung ist selbst an der Oberfläche nirgends über 0°C (der mittleren Jahrestemperatur) und scheint in der Regel –1°C zu sein, auch noch auf 70° n.Br. Auf dieser Breite sinkt die Temperatur mit größerer Tiefe stetig; in Tiefen von mehr als 100 Faden (183 Meter) ist sie nirgends über –1°C, vielmehr in der Regel zwischen –1,5 und –1,7°C bis zum Grund hinab; außerdem ist die Temperatur auf dem Grund des ganzen Meeres nördlich von 60° unter –1°C; ausgenommen auf einem Streifen längs der norwegischen Küste und zwischen Norwegen und Spitzbergen. Hier ist die Temperatur von 160 Metern abwärts über –1°C und in 250 Meter Tiefe bereits +0,55°C, und zwar, wohlgemerkt, nördlich von 80° Breite in einem Meer, das den Kältepol umschließt.
Dieses warme Wasser stammt schwerlich aus dem Polarmeer selbst, da die von dort nach Süden setzende Strömung eine mittlere Temperatur von –1,5°C hat. Es kann kaum anders sein, als dass der Golfstrom seinen Weg hierher findet und das Wasser ersetzt, das in den oberen Schichten nach Norden strömt und die Quelle der ostgrönländischen Polarströmung bildet. Alles das stimmt mit meinen früheren Annahmen gut überein und unterstützt die Theorie, auf der der Plan der Expedition aufgebaut war. Wenn man außerdem berücksichtigt, dass die Winde, wie erwartet, in der Regel aus dem Südosten wehen, wie es auch auf der internationalen Station bei Sagastir an der Lenamündung der Fall war, so erscheinen unsere Aussichten nicht ungünstig.
Endlich glaubte ich oft auch unter dem Eis Zeichen einer stetigen, nordwestlich setzenden Strömung zu entdecken; das verbesserte meine Stimmung natürlich. Wenn aber der Strom wie oft wieder südlich setzte, kamen auch wieder Zweifel, und es schien mir keine Aussicht, unsere Aufgabe innerhalb einer angemessenen Zeit zu lösen.
Freilich ist solches Treiben im Eis aufregend und es bildet wenigstens eine Tugend aus: die Geduld. Die ganze Expedition ist in Wirklichkeit eine einzige, lange Übung in dieser nützlichen Tugend.
Im Frühjahr kamen wir etwas besser vorwärts als im Winter; im Großen und Ganzen aber war es stets derselbe ermüdende Krebsgang. Jedes Mal, wenn wir eine weite Strecke nach Norden zurückgelegt hatten, folgte eine Zeit des Rückschlags.
Merkwürdig war, dass der Bug der »Fram« während der ganzen Zeit nach Süden, gewöhnlich Süd ¼ West stand und seine Richtung während der langen Drift nur sehr wenig änderte. Ich schrieb am 14. Mai: »Die ›Fram‹ geht ihrem Ziel im Norden rückwärts entgegen, mit der Nase immer nach Süden gekehrt. Es ist, als ob sie ihre Entfernung von der Welt zu vergrößern fürchte, als ob sie sich nach südlichen Breiten sehne, während eine unsichtbare Gewalt sie dem Unbekannten entgegenzieht. Ist dieses Rückwärtsschreiten nach dem Innern des Polarmeeres ein böses Omen? Ich denke: nein; selbst der Krebs erreicht schließlich sein Ziel.«
Der allgemeine Verlauf unserer Drift ergibt sich am besten aus der Angabe unserer Länge und Breite an verschiedenen Tagen des Jahres 1894:
Bis dahin waren wir erfreulich weit nach Norden gekommen; dann aber wendete sich das Blatt:
Dann begannen wir wieder nordwärts zu treiben, wenn auch nicht sehr schnell.
Wie früher hielten wir beständig Ausguck nach Land und aus manchen Anzeichen schlossen wir auch auf Landnähe, aber sie erwiesen sich als Einbildung, außerdem sprach auch die große Tiefe des Meeres dagegen, dass Land nahe war.
Später, am 7. August, als ich 3850 Meter Tiefe gefunden hatte, schrieb ich in mein Tagebuch:
»Ich glaube nicht, dass man ferner noch von einem seichten Polarmeer sprechen wird, in dem man überall Land erwarten kann. Sehr möglich, dass wir in den Atlantischen Ozean hinaustreiben, ohne einen einzigen Berggipfel zu sehen!«
Der schon früher erwähnte Plan, mit Hunden und Schlitten über das Eis vorzudringen, beschäftigte mich sehr viel und ich prüfte während meiner täglichen Ausflüge, zum Teil auf Schneeschuhen, zum Teil mit Hunden, stets den Zustand des Eises und die Aussichten für einen Marsch über das Eis.
Während des Aprils war das Eis für Hunde besonders geeignet. Die Oberfläche war gut, da die Kraft der Sonne sie glatter gemacht hatte als das starke Schneetreiben zu Anfang des Winters; außerdem hatte der Wind die Eisrücken ziemlich eben zugedeckt, schließlich waren auch nicht so viele Spalten und Rinnen im Eis, sodass man ohne viel Mühe meilenweit vordringen konnte.
Das änderte sich jedoch im Mai. Schon am 8. Mai hatte der Wind das Eis vielfach aufgebrochen, sodass sich überall Rinnen bildeten, die die Fahrt mit Hunden sehr hemmten und aufhielten.
Am 20. Mai schrieb ich: »War vormittags auf Schneeschuhen draußen. Das Eis ist infolge der beständigen Winde während der letzten Woche in verschiedenen Richtungen sehr stark aufgebrochen; die Rinnen sind schwer zu überschreiten, da sie voll kleiner, treibender Eisstücke sind. Wiederholt geriet ich mit den Schneeschuhen auf schwimmende Schneebänder, die plötzlich unter mir nachgaben, sodass ich Mühe hatte, auf das feste Eis zurückzukommen.«
Am 5. Juni machte ich mit Sverdrup eine Schneeschuhfahrt nach Süden. Ich schrieb: »Das Eis hat sich verändert, aber nicht zum Besseren; die Oberfläche ist zwar hart und gut, aber die Eisketten sind sehr unangenehm und überall sind Spalten und Hügel. Eine Schlittenexpedition würde auf solchem Eis schlecht vorwärtskommen.«
Am 13. Juni heißt es im Tagebuch: »Das Eis wird mit jedem Tag weicher. Rund um uns herum bilden sich große Wasserpfützen auf den Schollen. Kurz, die Oberfläche ist abscheulich; die Schneeschuhe brechen überall durch ins Wasser. Man würde heute an einem Tag nicht weit kommen, wäre man gezwungen, nach Süden oder Westen aufzubrechen. Jeder Ausgang ist verbaut. Wir sitzen hier fest.
Manchmal kommt es mir ziemlich merkwürdig vor, dass keiner unserer Leute besorgt ist, dass wir weiter und immer weiter nach Norden treiben, ins Unbekannte hinein; keiner zeigt eine Spur von Furcht. Alle sehen düster aus, wenn es nach Süden oder zu weit nach Westen geht, und sie strahlen vor Freude, wenn wir nach Norden treiben, je weiter, desto besser.
Und doch kann keiner der Tatsache gegenüber blind sein, dass es sich um Leben und Tod handelt, wenn jetzt das eintreten sollte, was uns fast alle prophezeit hatten. Sollte das Schiff wie die ›Jeannette‹ vom Eis zermalmt werden und in die Tiefe sinken, ohne dass wir genügend Vorräte retten, um die Drift auf dem Eis fortzusetzen, dann würden wir den Kurs nach Süden zu richten haben und unser Schicksal würde kaum zweifelhaft sein.
Den Leuten von der ›Jeannette‹ erging es schlecht genug, aber ihr Schiff sank auf 77° n.Br., während für uns das nächste Land vielmal mehr als das Doppelte entfernt ist, von dem nächsten bewohnten Land gar nicht zu reden.
Von unserem Standort bis Kap Tscheljuskin sind es jetzt mehr als 550 Kilometer, und von dort nach einer bewohnten Gegend ist es noch viel weiter. Aber die ›Fram‹ wird nicht erdrückt werden. Niemand glaubt daran. Es geht uns wie dem Kajakruderer, der sehr wohl weiß, dass ein einziger falscher Ruderschlag genügt, ihn zum Kentern zu bringen und in die Ewigkeit zu schicken; ruhig aber setzt er seinen Weg fort, weil er weiß, dass dieser falsche Schlag nicht kommen wird.«
Sonntag, 12. August. Ein herrlicher Abend. Ich machte einen Spaziergang zwischen den Rinnen und Eishügeln; es war wunderschön ruhig und windstill, kein Laut zu hören außer den Wassertropfen von einem Eisblock. Die Sonne steht niedrig im Norden und über uns ist der blassblaue Himmelsdom mit goldverbrämten Wolken. Der tiefe Frieden der Einsamkeit. Wie kommt es, dass ich mich zuzeiten über die Einsamkeit beklage? Mit der Natur um sich, mit Büchern und Studien kann man sich doch nie ganz allein fühlen!
Dienstag, 21. August. 81°4,2’ n.Br. Seltsam. Kaum eine Veränderung!
Wir treiben etwas nach Norden, dann etwas nach Süden und bleiben fast immer auf demselben Fleck. Ich glaube aber, wie ich stets, schon ehe wir die Reise antraten, geglaubt habe, dass wir drei Jahre, genauer drei Winter und vier Sommer, nicht mehr und nicht weniger, fortbleiben und von diesem Herbst an in ungefähr zwei Jahren die Heimat wieder erreichen werden.3 Der bevorstehende Winter wird uns, wenn auch langsam, weitertreiben; er kündigt sich bereits an. Letzte Nacht hatten wir 4 Grad Kälte.
Sonntag, 26. August. Es scheint beinahe, dass der Winter schon gekommen ist. Die Kälte hat sich seit Donnerstag im Durchschnitt zwischen –4°C und –6°C gehalten. In der Temperatur gibt es hier nur geringe Veränderungen. Wir können damit rechnen, dass sie von jetzt ab regelmäßig sinkt, obwohl es für den Winteranfang noch ziemlich früh ist. Alle Tümpel und Rinnen sind mit Eis bedeckt, das schon dick genug ist, um einen Mann auch ohne Schneeschuhe zu tragen.
Ich war auf Schneeschuhen draußen. Angenehmer Weg, gutes Fortkommen überall; einige Rinnen hatten sich etwas erweitert oder waren zusammengedrückt worden; das neue Eis war nur dünn und bog sich unangenehm unter den Schneeschuhen, trug mich aber. Zwei Hunde brachen ein. Es hatte auch ziemlich stark geschneit, sodass es schönen Neuschnee gab. Wenn es so bleibt, wie es jetzt ist, werden wir im Winter ausgezeichnet Ski laufen können. Denn es ist Süßwasser, das auf der Oberfläche der Rinne gefriert, es scheidet kein Salz aus. Auf Schnee mit Salz geht man ebenso schlecht wie auf Sand.
Mittwoch, 29. August. Frischer Wind rasselt und pfeift in der Takelung. Eine belebende Veränderung ohne Zweifel! Es herrscht ein Schneetreiben, als ob wir mitten im Winter wären. Schönes Augustwetter! Aber wir treiben wieder nach Norden und das ist auch sehr notwendig! Gestern war unsere Breite 80°53,5’.
Heute Abend arbeitete ich im Raum an meinem neuen Bambuskajak, das der Gipfel der Leichtigkeit wird. Pettersen half mir. Wir unterhielten uns eine Weile über allgemeine Dinge und er meinte, dass wir in der »Fram« ein gutes Heim besäßen, weil wir alles hätten, was wir haben wollten; sie sei ein verteufeltes Schiff, jedes andere würde längst platt gedrückt worden sein. »Wenn ich«, sagte er, »alle die Hilfsmittel betrachte, die wir vorbereitet haben, wie z.B. diese neuen Kajaks, dann fürchte ich mich aber auch nicht, müssten wir das Schiff eines Tages verlassen!«
Dann sprachen wir noch darüber, was wir tun würden, wenn wir nach Hause kämen.
»Was Sie anbetrifft, so werden Sie ohne Zweifel nach dem Südpol reisen!«, meinte er.
»Und Ihr«, erwiderte ich, »wollt Ihr die Hemdsärmel aufkrempeln und Eure alte Beschäftigung wieder beginnen?«
»So wird’s wohl werden! Aber, weiß Gott, erst muss ich eine Woche Ferien haben! Nach einer solchen Reise muss ich sie unbedingt haben, ehe ich wieder zum großen Schmiedehammer greife!«
3 Auf den Tag genau zwei Jahre später lief die »Fram« Skjervøy an der Küste von Norwegen an.