Читать книгу In Nacht und Eis - Fridtjof Nansen - Страница 9

DIE WINTERNACHT

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Es sah wirklich aus, als ob wir jetzt endgültig eingefroren waren, und ich erwartete nicht, dass die »Fram« eher aus dem Eis wieder herauskam, als bis wir auf der anderen Seite des Pols waren und uns dem Atlantischen Ozean näherten. Der Herbst war schon ziemlich weit vorgeschritten, die Sonne stand von Tag zu Tag niedriger am Himmel und die Temperatur fiel stetig.

Die lange Winternacht kam heran – die gefürchtete Nacht. Uns blieb nichts zu tun übrig, als uns auf sie vorzubereiten, und so verwandelten wir das Schiff, so gut wir konnten, in ein behagliches Winterquartier. Gleichzeitig trafen wir alle Maßregeln, uns gegen die Kälte, das Treibeis und sonstige Naturkräfte zu sichern, denen wir, wie uns prophezeit war, unterliegen müssten.

Wir holten das Steuerruder in die Höhe, um zu verhindern, dass es durch die Eispressungen zermalmt würde. Das Gleiche wollten wir auch mit der Schraube tun, allein da sie mit ihrer eisernen Umkleidung sicher das Achterende des Schiffs und besonders den Ruderpfosten verstärkte, so ließen wir sie an ihrer Stelle.

Auch mit der Maschine hatten wir viel Arbeit; jeder einzelne Teil wurde herausgenommen, geölt und für den Winter weggelegt; Schieber, Kolben und Wellen wurden untersucht und gründlich gereinigt. Amundsen sorgte für die Maschine, als ob sie sein eigenes Kind wäre; spät und früh war er unten und wir pflegten ihn zu necken, nur um ihn sagen zu hören: »Ihr könnt meinetwegen reden, aber es gibt keine zweite solche Maschine der Welt und es wäre Sünde und Schande, nicht gut für sie zu sorgen.«

Im Raum machten wir Platz für eine Tischlerwerkstätte; die Mechanikerwerkstelle hatten wir im Maschinenraum, die Schmiede war anfänglich auf Deck und später auf dem Eis; die Klempnerarbeiten wurden meist im Kartenzimmer, die Schuhmacher- und Segelarbeiten im Salon vorgenommen.

Von den empfindlichsten Instrumenten bis zu den groben Holzschuhen und Axtstielen – alles wurde an Bord der »Fram« gemacht. Als wir eine neue Lotleine brauchten, wurde auf dem Eis eine großartige Reepschlägerei eingerichtet.

Jetzt stellten wir auch die Windmühle auf. Sie sollte die Dynamomaschine treiben und uns elektrisches Licht liefern. Solange das Schiff in Fahrt war, wurde die Dynamomaschine von der Schiffsmaschine getrieben, allein schon seit langer Zeit hatten wir uns in unseren dunklen Kabinen mit Petroleumlampen begnügen müssen. Die Windmühle wurde an der Backbordseite auf dem Vorderdeck zwischen der großen Luke und der Reling errichtet, doch dauerte es mehrere Wochen, ehe sie betriebsfähig war.

Montag, 9. Oktober. Nachmittags – wir saßen gerade müßig und plauderten – entstand ganz plötzlich ein betäubendes Getöse und das ganze Schiff erzitterte: Es war die erste Eispressung. Alle Mann stürzten an Deck, um zuzusehen.

Die »Fram« verhielt sich wundervoll, wie ich es von ihr erwartet hatte. Mit stetigem Druck schob sich das Eis heran, musste jedoch unter uns durchgehen und wir wurden langsam in die Höhe gehoben. Diese Pressungen wiederholten sich den ganzen Nachmittag und waren manchmal so stark, dass die »Fram« mehrere Fuß gehoben wurde; aber dann konnte das Eis sie nicht länger tragen und brach unter ihr entzwei. Es scheint hier ziemlich viel Bewegung im Eise zu sein. Peder erzählt uns soeben, dass er das dumpfe Knallen starker Pressungen nicht weit entfernt gehört habe.

Dienstag, 10. Oktober. Der Aufruhr im Eis dauert fort.

Mittwoch, 11. Oktober. Heute Nachmittag wurde »Hiob« von den anderen Hunden zerrissen. Wir fanden ihn eine gute Strecke vom Schiff entfernt. »Suggen« bewachte seine Leiche, sodass kein anderer Hund herankommen konnte.

Es sind Schufte, diese Hunde. Kein Tag vergeht ohne Kampf. Bei Tag ist gewöhnlich einer von uns zur Hand, um einer Rauferei ein Ende zu machen, aber keine Nacht vergeht, ohne dass sie über einen ihrer Kameraden herfallen und ihn beißen. Der arme »Barrabas« hat vor Furcht fast den Verstand verloren; er bleibt jetzt an Bord und wagt sich nicht mehr auf das Eis. Nicht eine Spur von Ritterlichkeit steckt in diesen Kötern; wo ein Kampf stattfindet, stürzt sich die ganze Bande wie wilde Tiere auf den Unterliegenden.


Das Eis ist ruhelos und es gab heute wieder eine ziemlich starke Pressung. Sie beginnt mit einem leisen Krachen und Ächzen längs der Schiffsseite, das allmählich in allen Tonarten lauter wird. Jetzt ist es ein hoher, klagender Ton, dann ein Grollen, dann ein Knurren. Das Geräusch nimmt zu, bis es wie sämtliche Pfeifen einer Orgel ertönt; das Schiff erzittert, schüttelt sich und hebt sich in Sprüngen und Sätzen.

Es ist ein behagliches Gefühl für uns, wenn wir auf diesen Aufruhr horchen und uns dabei der Stärke unseres Schiffes bewusst sind. Manches Schiff wäre schon längst zerdrückt worden. Aber bei uns wird das Eis an der Schiffsseite zermalmt, die zertrümmerten Schollen werden haufenweise unter den schweren, unverwundbaren Rumpf gedrängt und wir liegen wie in einem Bett. Bald erstirbt das Geräusch, das Schiff sinkt in seine alte Lage zurück und dann ist alles wieder so still wie früher.

Rund um uns herum hat sich das Eis aufgetürmt, an einer Stelle zu beträchtlicher Höhe. Gegen Abend trat eine Lockerung ein und wir lagen in einem offenen Teich.

Donnerstag, 12. Oktober. Am Morgen trieben wir samt unserer Scholle auf blauem Wasser mitten in einer großen, offenen Rinne, die sich weit nach Norden hin erstreckte, wo die Luft über dem Horizont dunkel und blau war. So weit wir von der Tonne aus mit einem Feldstecher sehen konnten, hatte das offene Wasser kein Ende und es trieben nur hier und dort einzelne Stücke Eis darin. Dies waren außerordentliche Veränderungen.

Ich war ungewiss, ob wir uns darauf vorbereiten sollten, unter Dampf vorwärtszugehen. Leider hatten wir schon die Maschine für den Winter auseinandergenommen, sodass wir längere Zeit gebraucht hätten, sie wieder betriebsfähig zu machen.

Klares Wetter mit Sonnenschein. Ein schöner Wintertag. Aber immer nördlicher Wind. Wir loten und finden 90 Meter Wasser. Wir treiben langsam südwärts. Gegen Abend schob sich das Eis erneut mit großer Gewalt zusammen. Nachmittags fischte ich in einer Tiefe von ungefähr 50 Metern mit dem Murrayschen Seidennetz1 und fing kleine Krustentiere (Copepoden, Muschelkrebse, Flohkrebse usw.) und einen arktischen Wurm (Spadella), der im Meer umherschwimmt.

Das Fischen ist hier schwierig. Kaum hat man im Eis eine Öffnung gefunden und die Leine hinabgleiten lassen, schließt sich das Eis wieder, und man muss so rasch wie möglich aufholen, damit die Leine nicht eingeklemmt wird und alles verloren geht. In der kleinsten Eisöffnung sieht man das Wasser phosphoreszieren2; es ist hier mehr tierisches Leben, als man erwarten sollte.

Freitag, 13. Oktober. Jetzt stecken wir gerade mitten in der Gefahr, vor der uns die Propheten so sehr bange machen wollten. Das Eis presst und schiebt sich mit donnerndem Getöse rund um uns her. Es türmt sich zu langen Mauern und zu Haufen auf, die weit an der Takelung der »Fram« hinaufreichen. Es versucht in der Tat sein Äußerstes, um die »Fram« zu Staub zu zermalmen. Wir sitzen aber ganz ruhig und gehen nicht einmal hinauf auf Deck, uns den Wirrwarr anzusehen, sondern plaudern und lachen, wie wenn nichts wäre. Man fühlt, dass das Schiff es aushalten kann, und solange dies der Fall ist, kann nichts Schaden leiden als das Eis selbst.

Am Morgen ließ der Druck nach, aber gegen Abend fing die Pressung wieder im Ernst an. Offenbar steht die Eispressung hier mit Ebbe und Flut in Verbindung oder wird vielleicht davon verursacht. Sie tritt mit größter Regelmäßigkeit ein; zweimal in 24 Stunden lockert sich das Eis und zweimal schiebt es sich in dieser Zeit zusammen. Die Pressung erfolgt ungefähr um 4, 5 und 6 Uhr morgens und fast genau um dieselbe Stunde nachmittags, in der Pause liegen wir stets eine Zeit lang auf offenem Wasser.

Die sehr starke Pressung in diesem Augenblick ist wahrscheinlich die Folge der Springflut; am 9., dem ersten Tag der Eispressungen, hatten wir Neumond.

Die Ansicht, dass die Eispressungen durch die Gezeiten hervorgebracht werden, haben arktische Forscher schon wiederholt ausgesprochen. Wir hatten während der Drift der »Fram« bessere Gelegenheit als die meisten von ihnen, diese Erscheinung zu studieren, und unsere Erfahrungen bestätigen, dass die Flut in einem weiten Gebiet die Bewegung und den Druck des Eises veranlasst. Das ist namentlich zur Zeit der Springfluten der Fall und bei Neumond mehr als bei Vollmond.

In den Zwischenzeiten war in der Regel wenig oder gar nichts von Eispressungen zu bemerken. Allein diese durch die Flut verursachten Pressungen ereigneten sich nicht während der ganzen Zeit unserer Drift, sondern hauptsächlich im Herbst, als wir uns in der Nachbarschaft des offenen Meeres nördlich von Sibirien befanden, und im letzten Jahr der Expedition, als die »Fram« sich dem Atlantischen Ozean näherte. Weniger bemerkbar waren sie im Polarbecken selbst. Hier traten Pressungen unregelmäßig ein und wurden hauptsächlich durch den Wind verursacht.

Wenn man sich vorstellt, dass die in einer gewissen Richtung treibenden, ungeheuren Massen plötzlich auf Hindernisse stoßen, zum Beispiel auf Eis, das aus anderen Gegenden kommt und in entgegengesetzter Richtung treibt, so wird man leicht den Druck begreifen, der entstehen muss.

Der Kampf zwischen den Eismassen ist unleugbar ein großartiges Schauspiel. Man fühlt, dass man sich in Gegenwart titanischer Gewalten befindet, und es ist leicht zu verstehen, dass sich ängstliche Gemüter fürchten. Denn wenn das Zusammenschieben ernstlich beginnt, bleibt kein Fleck der Oberfläche unerschüttert.

Zuerst vernimmt man in der großen Wüste ein Geräusch wie das Donnergebrüll eines entfernten Erdbebens, dann hört man es, näher und näher kommend, an mehreren Stellen. Die Eiswelt widerhallt vom Donner, die Riesen der Natur erwachen zur Schlacht. Das Eis birst ringsumher und türmt sich auf, und ganz plötzlich steckt man mitten im Kampf.

Auf allen Seiten hört man Heulen und Donnern, man spürt das Eis erzittern und hört es unter den Füßen brüllen; nirgends ist Friede. In dem Halbdunkel sieht man, wie es sich zu hohen Ketten wirft und heranrückt. Schollen von 3, 4 und 5 Metern Dicke bersten und werden übereinandergeschoben, als ob sie federleicht wären. Sie sind jetzt ganz nahe und man eilt fort, um das Leben zu retten; aber plötzlich spaltet sich das Eis vor uns, ein schwarzer Abgrund öffnet sich, aus dem das Wasser emporströmt. Man flieht nach einer anderen Richtung, aber dort ist es ebenso. Überall Donner und Brüllen wie von einem ungeheuren Wasserfall, mit Explosionen wie Geschützsalven. Die Scholle, auf der man steht, wird kleiner und kleiner, Wasser strömt darüber hinweg. Man entkommt nicht anders, als dass man über die rollenden Eisblöcke klettert und die andere Seite des Packeises gewinnt. Dann legt sich der Aufruhr, das Getöse verhallt und verliert sich in der Ferne. Dies ereignet sich hier weit oben im Norden Monat für Monat, Jahr für Jahr.

In den Berichten über arktische Expeditionen liest man oft Beschreibungen von Ketten und Hügeln, die durch Eisdruck entstanden waren und bis zu 15 Meter hoch sein sollten. Das sind Märchen. Die Verfasser derartiger fantastischer Schilderungen können sich nicht die Mühe gegeben haben, ihre Ketten und Hügel zu messen. Während unserer Drift und unserer Märsche über die Eisfelder habe ich nur einmal einen Eishügel gesehen, der über 7 Meter hoch war, beinahe 9 Meter. Die höchsten Blöcke, die ich gemessen habe, hatten eine Höhe von 5½ bis 7 Metern, und ich kann nach meinen vielen Beobachtungen behaupten, dass sich Meereis nur äußerst selten bis zu einer Höhe von mehr als 8 Metern zusammenschiebt.

Sonnabend, 14. Oktober. Heute haben wir das Ruder wieder angebracht; die Maschine ist ziemlich in Ordnung und wir sind bereit nach Norden aufzubrechen, wenn sich das Eis morgen früh öffnet. Es lockert und presst sich noch immer regelmäßig zweimal am Tage.

Heute Abend war der Eisdruck heftig. Die Schollen türmten sich an der Backbordseite gegen die »Fram« auf und waren ein- oder zweimal nahe daran, über die Reling zu stürzen. Dann brach aber unten das Eis, sie fielen zurück und mussten schließlich doch unter uns durchgehen.

Das Eis ist nicht dick und kann nicht viel Schaden anrichten, jedoch ist seine Gewalt manchmal enorm. Unaufhörlich, ohne Unterbrechung kommen die Massen heran; sie sehen aus, als sei kein Widerstand gegen sie möglich, aber langsam und sicher werden sie an den Seiten der »Fram« zermalmt.

Sonntag, 24. Dezember. Weihnachtsabend. 37°C Kälte. Glitzernder Mondschein und die unendliche Stille der arktischen Nacht. Ich machte einen Spaziergang auf dem Eis. Der erste Weihnachtsabend, wie weit von der Heimat!

Von diesem Tag sind im Tagebuch keine Einzelheiten mitgeteilt; aber wenn ich an ihn zurückdenke, wie klar tritt alles wieder vor mich hin! Es herrschte eine eigentümlich gehobene Stimmung an Bord, wie sonst bei uns durchaus nicht üblich. Jeder beschäftigte sich in seinen geheimsten Gedanken mit der Heimat, allein die Kameraden sollten das nicht merken und infolgedessen wurde mehr gescherzt und gelacht als sonst. Alle Lampen und Lichter, die wir an Bord hatten, brannten, und jede Ecke im Salon und in den Kabinen wurde glänzend erleuchtet.

Die Verpflegung an diesem Fest übertraf natürlich die aller früheren Tage; denn Essen war das Einzige, womit wir Feste feiern konnten. Nach dem Abendessen kamen ganze Berge von Weihnachtskuchen, die Juell während mehrerer Wochen fleißig gebacken hatte, auf den Tisch.

Den Höhepunkt erreichte die Feier, als zwei Kisten mit Weihnachtsgeschenken herbeigebracht wurden, die eine von Scott-Hansens Mutter, die andere von seiner Braut. Rührend die Freude, mit der jeder seine Gabe empfing, mochte es nun eine Pfeife, ein Messer oder sonst eine Kleinigkeit sein; man fühlte, dass es gleichsam eine Botschaft aus der Heimat war.

Montag, 25. Dezember. Zu Hause werden sie jetzt viel an uns denken und uns wegen der Entbehrungen, die wir in dieser kalten, trostlosen Eisregion zu ertragen haben, viele mitleidige Seufzer weihen. Ich fürchte aber, ihr Mitgefühl würde sich abkühlen, wenn sie uns sehen, unsere Fröhlichkeit hören und Zeuge unserer Behaglichkeit und unseres guten Mutes sein könnten. Ihnen kann es zu Hause kaum besser gehen. Was mich selbst betrifft, so habe ich noch niemals ein so sybaritisches Leben geführt und niemals so viel Grund gehabt, die Folgen zu fürchten, die es mit sich bringt. Man höre nur die Speisenfolge unseres heutigen Mittagessens:

1. Ochsenschwanzsuppe

2. Fischpudding mit Kartoffeln und geschmolzener Butter

3. Rentierbraten mit Erbsen, französischen Bohnen, Kartoffeln und eingemachten Kronsbeeren

4. Moltebeeren mit Sahne

5. Kuchen und Marzipan.

Und zu alledem Ringnass-Bockbier! Ist das nun die richtige Art von Essen für Leute, die sich gegen die Schrecken der Polarnacht abhärten sollen? Wir hatten alle so viel gegessen, dass das Abendessen ausfallen musste.

Zählt man zu den guten Dingen noch unser fest gebautes, sicheres Wohnhaus hinzu, unseren behaglichen Salon, den eine große und mehrere kleinere Petroleumlampen erleuchten, wenn wir gerade kein elektrisches Licht haben, ferner die beständige Fröhlichkeit, das Kartenspiel und die große Menge von Büchern mit und ohne Bilder, die unterhaltende Lektüre boten, und endlich einen tüchtigen, gesunden Schlaf – was konnte man sich Besseres wünschen?

Und doch, und doch! Polarnacht, du bist wie ein Weib, ein wunderbar liebliches Weib! Du besitzest die edlen, reinen Züge antiker Schönheit, aber auch ihre Marmorkälte. Auf deiner hohen, glatten Stirn, rein wie der klare Äther, ist keine Spur von Mitgefühl für die kleinen Leiden des verachteten Menschengeschlechts; auf deiner blassen Wange ist keine Spur von Gefühl. Wie müde bin ich deiner kalten Schönheit! Ich will zum Leben zurückkehren. Lass mich als Sieger oder als Bettler heimkehren, mir gilt es gleich! Aber lass mich heimkehren, um das Leben neu zu beginnen! Hier vergehen die Jahre; was bringen sie? Nichts als Staub, trockenen Staub, den der erste Windstoß verweht; an seine Stelle tritt neuer Staub, den der nächste Wind wieder fortfegt. Wahrheit? Weshalb macht man immer so viel aus der Wahrheit? Das Leben ist mehr als kalte Wahrheit und wir leben nur einmal!

Donnerstag, 28. Dezember. Dicht vor der »Fram« hat sich eine neue Rinne gebildet, so breit, dass das Schiff quer darin liegen könnte. Sie hat sich letzte Nacht mit Eis bedeckt, in dem sich heute leichter Druck zeigt. Merkwürdig, wie gleichgültig wir gegen solche Eispressungen sind, die manchem anderen Polarforscher so große Sorge gemacht haben!

Wir haben nichts, aber auch nichts für einen Unfall vorbereitet, keine Kleider in Bereitschaft. Das mag wie Leichtsinn aussehen, in Wirklichkeit ist aber kaum zu erwarten, dass der Eisdruck uns schadet: Wir wissen jetzt, was die »Fram« verträgt.

Stolz auf unser starkes Schiff stehen wir auf dem Deck und beobachten, wie das Eis gegen seine Seiten stößt, hier zermalmt und zerbrochen wird und unter ihm durchgehen muss.

Ich lese gerade die Geschichte von der Expedition Kanes (1853–55). Der Unglückliche! Seine Vorbereitungen waren jämmerlich unzureichend. Fast alle Hunde starben an schlechter Nahrung; alle Leute hatten aus demselben Grund Skorbut, dazu gesellten sich Schneeblindheit, Frostbeulen und allerhand anderes Elend. Kane bekam eine heilige Scheu vor der arktischen Nacht. Er schreibt in seinem Werk: »Ich fühle, dass wir den Kampf ums Dasein unter ungünstigen Umständen führen und dass ein arktischer Tag und eine arktische Nacht den Menschen schneller und ernstlicher altern lassen als ein Jahr irgendwo sonst auf dieser mühseligen Welt.«

An einer anderen Stelle schreibt er, es sei für zivilisierte Menschen unmöglich, unter solchen Lebensbedingungen nicht zu leiden.

Das waren traurige, aber keineswegs vereinzelte Erfahrungen. Ein englischer Polarforscher, mit dem ich mich unterhalten habe, äußerte sich ebenfalls sehr entmutigend über das Leben in den Polargebieten, er war der Meinung, dass Skorbut unvermeidlich und noch keine Expedition ihm entgangen sei. Glücklicherweise bin ich in der Lage zu behaupten, dass diese Ansicht nicht gerechtfertigt ist.

Was mich selbst betrifft, so kann ich sagen, dass die arktische Nacht keinen alternden oder schwächenden Einfluss auf mich ausgeübt hat: Im Gegenteil, ich scheine jünger zu werden. Diese ruhige, regelmäßige Lebensweise bekommt mir außerordentlich gut und ich kann mich keiner Zeit erinnern, in der ich gesünder war, als ich jetzt bin. Ich weiche so sehr von jenen Autoritäten ab, dass ich die Arktis als ein ausgezeichnetes Sanatorium für Fälle von Nervosität und allgemeiner Schwäche empfehlen möchte. Fast schäme ich mich des Lebens, das wir führen, ohne alle jene so düster geschilderten Leiden der langen Winternacht, die von einer arktischen Expedition unzertrennlich sein sollten. Wir werden darüber nichts zu schreiben haben, wenn wir wieder nach Hause kommen.

Dasselbe, was ich von mir gesagt habe, kann ich auch von meinen Gefährten behaupten: Sie sehen sämtlich gesund und wohlgenährt aus und sind es auch. Da ist keins jener blassen, hohlwangigen Gesichter, da ist keine Niedergeschlagenheit. Und wer es bezweifelt, müsste nur das Gelächter im Salon hören und uns beim Kartenspiel zusehen.

Woher sollte auch wohl Krankheit kommen? Bei der allerbesten Nahrung, die so abwechslungsreich ist, dass selbst der Wählerischste ihrer nicht überdrüssig wird; bei guter Wohnung, guter Kleidung, Bewegung in der freien Luft nach Belieben, bei Arbeit, die eher Vergnügen als Anstrengung ist, bei lehrreichen und fesselnden Büchern, Erholung bei Karten-, Schach-, Domino- und Halma-Spiel, bei Musik und Geschichtenerzählen – wie könnte da wohl jemand krank werden? Hin und wieder höre ich eine Bemerkung, dass man vollauf mit dem Leben zufrieden ist. Das ganze Geheimnis liegt in der vernünftigen Anordnung der Dinge.

Was meiner Ansicht nach eine besonders gute Wirkung auf uns ausübt, ist, dass wir alle zusammen in einem Salon leben und alles allen gemeinsam ist. Soviel ich weiß, ist dies das erste Mal, dass ein solcher Versuch gemacht worden ist, er ist sehr zu empfehlen.

Sonntag, 31. Dezember. Letzter Tag des Jahres. Es ist ein langes Jahr gewesen und es hat Gutes und Schlimmes gebracht. Es fing mit Gutem an, es schenkte mir mit Klein Liv ein Glück so neu, so seltsam, dass ich anfangs gar nicht daran glauben mochte. Schwer war dann der Abschied: Seitdem ist mir die ganze Zeit ein einziges, sehnsüchtiges Verlangen gewesen.

Endlich bist du doch abgetan, altes Jahr! Du hast uns nicht so weit gebracht, wie du hättest sollen, und doch hättest du es noch schlimmer machen können, du bist trotz alledem nicht so ganz schlecht gewesen. Sind nicht unsere Hoffnungen und Berechnungen gerechtfertigt worden und treiben wir jetzt nicht gerade da, wo ich es gewünscht und gehofft hatte? Nur eins war verkehrt – ich habe nicht gedacht, dass die Drift in so vielen Zickzackzügen vor sich gehen würde.

Einen schöneren Silvesterabend hätte es nicht geben können. Das Nordlicht erstrahlt in wundervollen Farben und Lichtstreifen über dem ganzen Himmel, namentlich aber im Norden. Tausende von Sternen funkeln zwischen dem Nordlicht am blauen Firmament. Nach allen Seiten dehnt sich das Eis endlos und schweigend in die Nacht hinaus; die reifbedeckte Takelung der »Fram« hebt sich scharf und dunkel gegen den leuchtenden Himmel ab.

Montag, 1. Januar 1894. Es ist schönes, klares Wetter, 38°C unter null.

Ich liege in meiner Koje, schreibe, lese und träume. Es ist immer ein seltsames Gefühl, wenn man zum ersten Mal die Zahl des neuen Jahres schreibt. Dann erst erfasst man die Tatsache, dass das alte Jahr der Vergangenheit angehört, dass das neue Jahr da ist und man bereit sein muss, sich mit ihm herumzubalgen. Wer weiß, was es bringen wird? Gutes und Schlimmes ohne Zweifel, aber meist Gutes, und das kann doch nur sein, dass wir unserem Ziel und der Heimat entgegengehen. Ja, führe uns, wenn nicht an unser Ziel – das würde noch zu früh sein –, so doch wenigstens in seiner Richtung! Stärke unsere Hoffnung, aber vielleicht – nein, kein vielleicht!

Meine wackeren Jungen verdienen Erfolg. In ihren Gedanken herrscht kein Zweifel. Sie vertrauen mir und meinen Theorien. Ein jeder hat sein ganzes Herz darangesetzt nordwärts zu kommen; ich lese es in ihren Gesichtern, es glänzt aus jedem Auge. Wenn wir südwärts treiben, höre ich Seufzer der Enttäuschung, aber auch erleichtertes Aufatmen, wenn es wieder nach Norden geht.

Was aber, wenn ich mich getäuscht habe und sie in die Irre führe? Wir sind die Werkzeuge von Mächten über uns; wir sind unter glücklichen und unglücklichen Sternen geboren. Bis jetzt habe ich unter einem glücklichen Stern gelebt. Soll sein Licht verdunkelt werden? Ich bin nicht abergläubisch, aber ich glaube an meinen Stern.

1 Mit diesem seidenen Sacknetz, das von Booten oder Schiffen nachgeschleppt wird, fängt man die Tiere und Pflanzenorganismen in verschiedenen Tiefen. Wir gebrauchten es während unseres Treibens beständig, versenkten es in verschiedene Tiefen und brachten damit oft reiche Beute herauf.

2 Dieses Phosphoreszieren wird hauptsächlich von kleinen, leuchtenden Krustentieren (Copepoden) verursacht.

In Nacht und Eis

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