Читать книгу In Nacht und Eis - Fridtjof Nansen - Страница 11

DER ZWEITE HERBST IM EIS

Оглавление

Der Sommer war also vorüber. Unser zweiter Herbst begann. Wir hatten uns jetzt mehr an die Geduldsproben gewöhnt, die uns das Leben im öden Treibeis abverlangte. Die Zeit verging uns rascher. Außerdem war ich auch mit neuen Plänen und Vorbereitungen beschäftigt.

Ich habe schon erwähnt, dass wir im Lauf des Sommers alles für den Fall bereit machten, dass wir über das Eis heimkehren müssten. Wir hatten sechs Doppelkajaks gebaut, die Schlitten waren in Ordnung und es war sorgfältig berechnet worden, wie viel Nahrungsmittel, Kleidung, Brennstoff usw. wir mitführen mussten. Aber ich hatte in der Stille auch meine eigene Expedition nach Norden vorbereitet. Außer wenigen Worten zu Sverdrup hatte ich noch zu niemandem von meinem Plan gesprochen, da ich ja nicht wusste, wie weit nördlich die Drift uns bringen würde, und da sich vor dem Frühjahr noch vielerlei ereignen konnte.

Inzwischen ging das Leben an Bord seinen gewohnten Gang.

Donnerstag, 6. September. 81°13,7’ n.Br. Bin ich heute fünf Jahre verheiratet? Voriges Jahr, als die Eisfesseln bei der Taimyr-Halbinsel zerbarsten, war es ein Tag des Sieges. Jetzt ist kein Gedanke an Sieg. Und doch erscheint mir die Zukunft nicht bang und düster. Ist es möglich, dass am nächsten 6. September jede Fessel gesprengt ist und wir beisammensitzen und von unseren Fahrten im fernen Norden und von all unserem Verlangen plaudern wie von etwas, das einmal gewesen ist und nie wieder sein wird? Und was spricht dagegen, dass das im nächsten Jahre geschieht? Weshalb soll dieser Winter die »Fram« nicht nach Westen an einem Punkt im Norden von Franz-Joseph-Land bringen? …

Dann ist meine Zeit gekommen und ich mache mich mit Hunden und Schlitten auf nach Norden. Mir klopft das Herz vor Freude bei dem Gedanken daran. Der Winter wird mit den Vorbereitungen für eine solche Expedition schnell genug hingehen.

Ich habe mich in letzter Zeit schon immer mit diesen Vorbereitungen beschäftigt. Ich denke darüber nach, was alles mitgenommen werden muss und wie es einzurichten ist, und je mehr ich die Sache von den verschiedensten Seiten betrachte, desto fester bin ich davon überzeugt, dass der Versuch erfolgreich sein wird, wenn wir nicht zu spät im Frühjahr nach Norden treiben.

Wenn die »Fram« nur 84° oder 85° erreichte, würde ich mich Ende Februar oder in den ersten Märztagen aufmachen, sobald nach der langen Winternacht das Tageslicht kommt, und das Ganze würde wie im Tanze gehen. Nur noch vier oder fünf Monate, dann ist die Zeit zum Handeln gekommen. Welche Freude!

Wenn ich jetzt über das Eis hinausblicke, ist es mir, als ob meine Muskeln zittern vor sehnsüchtigem Verlangen, endlich einmal im Ernst über das Eis zu laufen – Ermüdung und Entbehrungen würden dann ein Vergnügen sein. Es mag töricht erscheinen, dass ich mich entschlossen habe, diese Expedition zu unternehmen, während ich mir vielleicht in aller Ruhe wichtigere Arbeit hier an Bord vornehmen könnte, aber die täglichen Beobachtungen werden auch ohne mich genau wie sonst angestellt.

Sonntag, 9. September. 81°4’ n.Br. Seit einigen Tagen ist die Mitternachtssonne verschwunden und die Sonne geht schon im Nordwesten unter; sie war gegen 10 Uhr abends fort und es liegt wieder eine Röte über dem ewigen Weiß. Der Winter naht rasch.

Sonntag, 31. Oktober. 82°0,2’ n.Br. 114°9’ ö.L.

Um den 82. Breitengrad zu feiern, hatten wir heute ein »großartiges Bankett«. Zu dieser Gelegenheit wurden Honigkuchen gebacken, Honigkuchen bester Sorte, wie man mir aufs Wort glauben möge, und dann kam nach einem erfrischenden Schneeschuhlauf das Festbankett.

Das Essen war prachtvoll: Ochsenschwanzsuppe, Fischpudding mit geschmolzener Butter und Kartoffeln, Schildkröte mit Zucker- und anderen Erbsen, Reis mit Moltebeeren und Krem, Kronen-Malzextrakt.

Nach dem Abendessen, das ebenfalls vorzüglich war, wurde Musik verlangt. Sie wurde den ganzen Abend in reichem Maße von verschiedenen, geübten Spielern geliefert. Pettersen und ich tanzten einen Walzer und eine Polka. Wir haben in dem beschränkten Raum einige sehr geschmackvolle Pas de deux ausgeführt. Auch Amundsen wurde von der Tanzlust fortgerissen. Die Übrigen spielten Karten; kurz, die Zeit verging und wir waren lustig. Weshalb sollten wir nicht? Wir schreiten ja fröhlich unserem Ziel entgegen, sind bereits auf dem halben Wege zwischen den Neusibirischen Inseln und Franz-Joseph-Land und keine Seele an Bord bezweifelt, dass wir das Ziel erreichen, um dessentwillen wir ausgezogen sind; es lebe daher die Fröhlichkeit!

Oben aber hat die unendliche Stille der Polarnacht die Herrschaft. Der Mond, halb voll, scheint auf das Eis herab, die Sterne erglänzen hell über uns und der südliche Wind streicht mit leichter Klage durch die Takelung.

Freitag, 26. Oktober. Gestern Abend waren wir auf 81°3’ n.Br.

Heute ist die »Fram« zwei Jahre alt. Allgemeiner Feiertag. Allgemeine Magenüberladung. Ich sagte beim Mittagsmahl: »Vor einem Jahr sind wir einstimmig der Ansicht gewesen, dass die ›Fram‹ ein gutes Schiff ist. Heute haben wir noch viel bessere Gründe für diese Überzeugung; denn sie bringt uns, wenn auch nicht gerade mit übermäßiger Schnelligkeit, so doch wohlbehalten und sicher weiter!« Wir tranken auf das Wohl der »Fram«.

Ich sagte nicht zu viel. Hätte ich alles gesagt, was ich auf dem Herzen hatte, so würden meine Worte nicht so gemessen gewesen sein; denn, um die Wahrheit zu sagen: Wir alle lieben das Schiff so sehr, wie man unpersönliche Dinge nur zu lieben vermag. Und weshalb sollten wir sie nicht lieben? Keine Mutter kann ihren Jungen unter ihren Flügeln mehr Wärme und Sicherheit geben, als sie uns bietet; wir alle sind froh, wenn wir von draußen zu ihr zurückkehren, und wie oft hat mein Herz ihr nicht warm entgegengeschlagen, wenn ich weit fort war und ihre Masten über die ewige Schneedecke emporsteigen sah!

Ich sitze allein in meiner Kabine und meine Gedanken gleiten über die verflossenen beiden Jahre zurück.

Welcher Dämon ist es, der die Fäden unseres Lebens zusammenwebt, der uns täuscht und uns stets auf Wege hinausschickt, die wir nicht selbst gewählt haben, die wir nicht zu gehen wünschen? War es nur das Pflichtgefühl, das mich drängte? Oh nein! Ich war einfach ein Kind, das Abenteuer in unbekannten Gebieten suchte, das so lange davon träumte, bis es schließlich glaubte, es habe das Abenteuer wirklich gefunden.

Und es ist mir in der Tat beschieden, dieses große Abenteuer des Eises: tief und rein wie das unendliche All, die schweigsame, sternblinkende Polarnacht, die Natur selbst in ihrer ganzen Tiefe, das Geheimnis des Lebens, der unaufhörliche Kreislauf des Weltalls, das Fest des Todes, ohne Leiden, ohne Not, ewig in sich selbst. Hier in der großen Nacht stehst du in deiner nackten Einfalt, von Angesicht zu Angesicht vor der Natur; du sitzt andächtig zu Füßen der Ewigkeit und lauschst und lernst Gott kennen, den Mittelpunkt des Alls. Alle Rätsel des Lebens scheinen dir klar zu werden und du verlachst dich selbst, dass du dich mit Grübeln verzehrt hast; es ist alles so klein, so unaussprechlich klein …

Mittwoch, 14. November. Wunderbar sind die Schneeschuhfahrten durch die schweigsame Natur. Die vom Mondlicht übergossenen Eisfelder dehnen sich nach allen Richtungen aus. Hier und dort dunkle, kalte Schlagschatten der Eishügel. In der äußersten Ferne bezeichnet eine dunkle Linie den von dem zusammengeschobenen Eis gebildeten Horizont, über dem ein silbrig schimmernder Dunst lagert. Über allem wölbt sich der unbegrenzte, tiefblaue, sternenbesäte Himmel, an dem der Vollmond durch den Äther segelt.

Aber im Süden liegt tief unten das Tageslicht, ein Widerschein der Sonne, dunkel, rot glühend, und höher hinauf ein klarer, gelber und blassgrüner Bogen, der sich in das Blau darüber verliert. Das Ganze verschmilzt zu einer Harmonie, einzigartig und unbeschreiblich.

Ich wünsche mir die Gabe, diese Natur in Musik zu übertragen; mächtige und doch schlichte Akkorde müssten es sein, die ihr Wesen wiedergeben könnten!

Freitag, 16. November. Vormittags war ich mit Sverdrup auf Schneeschuhen im Mondlicht draußen. Wir unterhielten uns ernstlich über die Aussichten unserer Drift und der für das Frühjahr geplanten Expedition über Eis nach Norden.

Ich habe viel über den Kurs nachgedacht, den wir einschlagen müssten für den Fall, dass uns die Drift bis zum März nicht so weit nördlich bringt, wie ich erwarte. Je mehr ich darüber nachsinne, desto fester rede ich mir ein, dass sich die Sache machen lässt.

Denn wenn es richtig ist, von 85° aus aufzubrechen, so kann es nicht weniger richtig sein, von 82° oder 83° aus loszugehen. In beiden Fällen würden wir nördlicher kommen als sonst möglich. Wenn wir den Pol selbst nicht erreichen, müssen wir eben umkehren. Um es zu wiederholen: Es kommt nicht darauf an, genau den Punkt zu gewinnen, sondern die unbekannten Gebiete des Polarmeeres zu erforschen, mögen sie dem Pol näher oder ferner liegen. Ich habe das schon vor unserer Abfahrt gesagt und muss es beständig im Gedächtnis behalten.

Sicher sind während der weiteren Drift des Schiffes an Bord viele wichtige Beobachtungen zu machen. Diese Arbeiten liegen in so guten Händen, dass zwei von unserer Schar das Schiff ohne Schaden für die Güte und Vollständigkeit der Registrierungen verlassen können. Zweifellos werden die Beobachtungen, die wir weiter nördlich vornehmen werden, nicht weniger wertvoll sein als diese Bordnotierungen. Bis jetzt ist es also durchaus wünschenswert, dass wir aufbrechen.

Welches ist die beste Zeit zum Aufbruch? Die beste und die einzige Jahreszeit für ein solches Wagnis ist das Frühjahr, spätestens der März.

Und wie sind die Aussichten für unser Durchkommen?

Die Entfernung von dem gedachten Abgangspunkt nach Kap Fligely auf dem nächsten bekannten Land schätze ich auf 750 Kilometer, also nicht viel mehr als die Strecke, die wir in Grönland zurückgelegt haben; sie würde auf diesem Eis leichte Arbeit fordern. Hat man erst einmal die Küste erreicht, dann wird es einem vernünftigen Menschen sicherlich gelingen, durch die Jagd auf großes oder kleines Wild, Bären oder Sandhüpfer, sein Leben zu fristen.

Wir können uns also stets nach Kap Fligely oder dem nördlich davon liegenden Petermann-Land wenden, falls unsere Lage unhaltbar wird. Selbstverständlich wird die Entfernung sich vergrößern, je weiter wir nach Norden vordringen; an keinem Punkt zwischen hier und dem Pol ist sie aber größer, als wir sie mithilfe der Hunde bewältigen können und werden.

Daher ist eine »Rückzugslinie« gesichert, obwohl manche Leute behauptet haben, dass eine öde Küste, an der man die Lebensmittel erst zusammensuchen muss, ehe man sie verzehren kann, ein schlechter Zufluchtsort für Hungernde ist. In Wirklichkeit ist das nur ein Vorteil; denn ein Zufluchtsort soll nicht allzu verlockend sein. Für Männer, die vorwärtsdringen wollen, ist eine »Rückzugslinie« wahrlich eine erbärmliche Erfindung, ein ewiger Anreiz zurückzublicken, während sie immer nur vorwärtsschauen sollten.

Nun zur Expedition selbst. Sie wird aus 28 Hunden, 2 Männern und 1050 Kilo Proviant und Ausrüstungsgegenständen bestehen. Die Entfernung vom 83. Grad bis zum Pol beträgt 420 Seemeilen, 780 Kilometer. Ist es zu viel, wenn ich rechne, dass wir diese Strecke in 50 Tagen zurücklegen?

Ich weiß natürlich nicht, ob die Hunde ausdauern werden; aber dass sie, wenn zwei Männer helfen, mit 37½ Kilo in den ersten Tagen täglich 8½ Seemeilen, also 15 Kilometer, zurücklegen, klingt ganz vernünftig, selbst wenn es keine sehr guten Tiere sind.

Es ist also kaum eine leichtsinnige Rechnung, immer vorausgesetzt, dass das Eis so ist wie hier, und es ist kein Grund vorhanden, weshalb es nicht so sein sollte. Es bessert sich in der Tat beständig, je weiter wir nach Norden gelangen, und es bessert sich mit jedem Tag, den wir dem Frühling näher kommen.

In 50 Tagen müssten wir also den Pol erreichen. In Grönland haben wir auf dem Inlandeis in einer Höhe von mehr als 2500 Metern, ohne Hunde und mit mangelhaftem Proviant, 300 Seemeilen, 550 Kilometer, in 65 Tagen gemacht und hätten sicherlich noch beträchtlich weiter gehen können.

In 50 Tagen werden wir, täglich ein halbes Kilo Pemmikan für jeden Hund4 gerechnet, insgesamt 700 Kilo verbraucht haben. Ferner macht 1 Kilo Proviant für jeden Mann 100 Kilo aus.

Da während dieser Zeit auch Brennstoff verbraucht wird, verringert sich die Fracht auf dem Schlitten auf weniger als 250 Kilo; eine solche Last ist nichts für 26 Hunde, die damit am Ende wie ein Sturmwind dahinsausen und also die Fahrt in weniger als 50 Tagen machen müssten.

Aber angenommen, man braucht diese Zeit. Wenn alles gut gegangen ist, werden wir unseren Kurs nunmehr nach den Sieben Inseln im Norden von Spitzbergen richten; das sind 9° oder 540 Seemeilen, 1000 Kilometer. Bei ungünstigen Verhältnissen wird es sicherer sein, wenn wir zum Kap Fligely oder dem nördlich davon liegenden Lande gehen.

Nehmen wir an, wir würden uns für diesen Weg entscheiden!

Wir brechen am 1. März, wenn die Verhältnisse günstig sind, noch früher, von der »Fram« auf und kommen am 30. April am Pol an. Wir werden dann noch 100 Kilo von unserem Proviant, genug für weitere 50 Tage, übrig haben, für die Hunde aber nichts mehr. Wir müssen sie also nach und nach töten, teils zum Futter für die Übrigen, teils für uns selbst, sofern wir ihnen von unseren Vorräten abgeben. Auch wenn meine Ziffern zu niedrig gegriffen sind, kann ich doch annehmen, dass wir dann, wenn 23 Hunde getötet sind, 41 Tage unterwegs sind und noch 5 Hunde übrig haben.

Wie weit südlich werden wir dann gekommen sein?

Das Gewicht des Gepäcks beträgt im Anfang weniger als 250 Kilo, also nicht ganz 9 Kilo, die jeder Hund zu ziehen hat. Nach 41 Tagen wird sich dieses Gewicht auf 140 Kilo verringert haben, und zwar durch den Verbrauch von Proviant und Brennstoff und durch Zurücklassen gewisser Ausrüstungsgegenstände wie Schlafsäcke, Zelt usw., die überflüssig geworden sind.

Es bleiben dann noch 28 Kilo für jeden der 5 Hunde, wenn wir selbst nichts ziehen. Mit einer Last von 9 bis 18 Kilo für jeden Hund würden die Tiere täglich 12 Seemeilen, 22 Kilometer, machen, selbst wenn die Schneefläche beschwerlich wäre.

Das heißt, wir werden am 1. Juni 492 Seemeilen, 913 Kilometer, über Kap Fligely hinaus sein und noch 5 Hunde und für 9 Tage Proviant haben.

Wahrscheinlich aber werden wir schon lange vorher Land erreicht haben. Die Mitglieder der österreichischen Expedition hatten schon in der ersten Hälfte des April bei Kap Fligely offene Teiche und viele Vögel gefunden. Wir würden also im Mai und Juni keinen Mangel an Nahrung haben und wundern müsste es mich, wenn wir nicht vorher schon einen Bären, einen Seehund oder einige verirrte Vögel träfen.

Wir haben nunmehr unsere Sicherheiten und wir können wählen, welchen Weg wir einschlagen wollen: entweder an der Nordwestküste von Franz-Joseph-Land entlang, an Gillis-Land vorbei nach dem Nordostland und Spitzbergen oder südwärts durch den Austria-Sund nach der Südküste von Franz-Joseph-Land und von dort nach Nowaja Semlja oder Spitzbergen. Es ist möglich, dass wir auf Franz-Joseph-Land Engländer treffen.

Das ist also meine Berechnung. Ist sie leichtfertig? Ich glaube nicht.

Das einzige Schlimme würde sein, wenn wir auf der letzten Marschstrecke im Mai die Eisoberfläche so finden, wie wir sie im vorigen Frühjahr Ende Mai hier gehabt haben. Das würde uns beträchtlich aufhalten.

Wenn sich zeigt, dass unsere Berechnungen Fehler enthalten, können wir immer noch jeden Augenblick umkehren.

Welche unvorhergesehenen Hindernisse können sich uns nun entgegenstellen?

1. Wir können auf Eis treffen, das unwegsamer ist, als wir angenommen haben.

2. Wir können Land finden.

3. Die Hunde können uns im Stich lassen, können krank werden oder erfrieren.

4. Wir selbst können am Skorbut erkranken.

1. und 2. Dass das Eis weiter nach Norden schwerer passierbar sein kann, ist gewiss möglich, aber kaum wahrscheinlich. Ich sehe gar keinen Grund dafür, es sei denn, dass wir unbekanntes Land im Norden haben. Ist das der Fall, auch gut, dann müssen wir nehmen, was sich uns bietet.

3. Dass uns die Hunde im Stich lassen, ist möglich. Allein ich werde ihnen keine übermäßige Arbeit aufbürden. Alle können nicht unbrauchbar werden und ein Ausfall in Grenzen schadet nichts. Bei dem Futter, das sie bis jetzt gehabt haben, sind sie durch den Winter und die Kälte gekommen und auf dem Marsch werden sie noch besseres Futter erhalten. Außerdem habe ich in den Berechnungen gar nicht berücksichtigt, was wir selbst ziehen. Und wenn uns alle Hunde im Stich ließen, würde es uns doch gelingen, auch allein vorwärtszukommen.

4. Der schlimmste Fall wäre, dass wir selbst am Skorbut erkrankten. Ich glaube aber kaum, dass wir Skorbutkeime von der »Fram« mitnehmen. Ferner habe ich dafür gesorgt, dass unser Schlittenproviant aus guten, nahrhaften Lebensmitteln besteht.

Selbstverständlich muss man einiges Risiko laufen, aber wenn ich nun einmal alle nur möglichen Vorsichtsmaßregeln getroffen habe, so habe ich auch die Pflicht vorwärtszudringen.

Es gibt noch eine andere Frage, die erörtert werden muss: Habe ich das Recht, das Schiff und die Kameraden der Hilfsmittel zu berauben, die die Expedition erheischt? Die Tatsache, dass zwei Mann weniger an Bord sein werden, fällt nicht ins Gewicht, weil die »Fram« ebenso gut mit elf Mann manövrieren kann. Schwerer wiegt, dass wir alle Hunde, mit Ausnahme der sieben Jungen, mit uns nehmen. Nun, man ist an Bord mit Schlittenproviant und allerbesten Schlittenausrüstungen reichlich versehen und ich kann mir nicht denken, dass die Mannschaft Franz-Joseph-Land oder Spitzbergen nicht erreicht, wenn der »Fram« etwas zustößt. Es ist unwahrscheinlich, dass sie dann das Schiff nördlicher als auf 85° verlassen müsste.

Aber angenommen, die Mannschaft wäre gezwungen, das Schiff auf 85° zu verlassen, so würde das voraussichtlich im Norden von Franz-Joseph-Land sein, wo sie 180 Seemeilen, also 334 Kilometer von Kap Fligely entfernt wäre. Tritt der Fall weiter östlich ein, so sind es 240 Seemeilen, 445 Kilometer, nach den Sieben Inseln. Es ist schwer zu glauben, dass es den Leuten bei ihrer Ausrüstung nicht gelingen sollte, diese Entfernung zu bewältigen.

Ich bin jetzt ebenso fest wie früher der Meinung, dass die »Fram« quer durch das Polarbecken treibt und auf der anderen Seite wieder herauskommt, ohne aufgehalten oder zerstört zu werden. Und geschähe dennoch ein Unfall, so sehe ich nicht ein, weshalb die Mannschaft ihren Weg nicht sicher zurücklegen sollte, vorausgesetzt, dass sie die nötigen Vorsichtsmaßregeln beobachtet.

Ich glaube darum, dass ich es verantworten kann, dass eine Schlittenexpedition die »Fram« verlässt und dass sie, weil sie so gute Ergebnisse verspricht, unter allen Umständen versucht wird.

Donnerstag, 27. Dezember. Wieder ist Weihnachten vorübergegangen und noch immer sind wir so weit von der Heimat entfernt. Wie traurig ist das! Doch bin ich nicht melancholisch, eher möchte ich sagen, ich freue mich. Mir ist, als ob ich auf etwas Großartiges warte, das noch im Schoß der Zukunft verborgen liegt. Nach den langen Stunden der Ungewissheit schaue ich jetzt das Ende der dunklen Nacht und zweifle nicht daran, dass alles erfolgreich enden wird, dass die Reise nicht vergeblich ist und alle Hoffnungen sich verwirklichen. Das Los eines Forschers ist vielleicht schwer und sein Leben, wie allgemein behauptet wird, voller Enttäuschungen. Aber es hat auch seine schönen Augenblicke, wenn er den Triumph des menschlichen Willens und menschlicher Zuversicht und den Hafen des Glückes und des Friedens winken sieht.

Dies ist das zweite Weihnachtsfest, das wir in der Einsamkeit der Nacht, im Reich des Todes verbringen, nördlicher und tiefer drinnen als je zuvor. Es ist ein seltsames Gefühl zu denken, dass es unser letztes Weihnachten an Bord der »Fram« sein wird! Man wird fast traurig. Das Schiff ist uns zur zweiten Heimat, es ist uns teuer geworden; unsere Gefährten werden vielleicht noch ein drittes Weihnachtsfest, möglicherweise noch mehrere hier zubringen, aber ohne uns; denn wir werden sie verlassen und in die Einsamkeit hinausziehen.

Weihnachten war diesmal ziemlich ruhig, aber sehr angenehm und jeder schien sich wohlzufühlen. Nicht wenig trug zu unserer Freude das Weihnachtsgeschenk des Windes bei, der uns den 83. Grad bescherte.

Wir feierten den Weihnachtsabend natürlich mit einem großen Festessen. Die Tafel brach unter Weihnachtskuchen, armen Rittern, Hirschhörnern, Honigkuchen, Makronen, Napfkuchen. Außerdem hatten wir, Blessing und ich, im Schweiße unseres Angesichts einen »Polar-Champagner 83. Grad« hergestellt, der eine Sensation wurde. Wir waren stolz darauf. Der Champagner war ein Erzeugnis aus der edlen Traube des Polargebiets, der Moltebeere. Er schmeckte allen vortrefflich und mancher Becher wurde geleert. Haufen illustrierter Bücher, Musik, Vorträge und Gesang vervollständigten die Festtagsfreude.

Während wir mit rasselndem Winde zuerst aus Südost und dann aus Ostsüdost und Ost vorwärtstrieben, wurden wir von Tag zu Tag neugieriger, wie weit wir gekommen waren. Aber Schneesturm und bewölkter Himmel erlaubten uns keine Beobachtungen.

Plötzlich rief Hansen heute Nachmittag, es seien über uns Sterne zu sehen. Höchste Erwartung! Aber als er herunterkam, hatte er nur einen Stern beobachtet. Allerdings stand dieser Stern dem Meridian so nahe, dass Hansen daraus entnehmen konnte, dass wir jedenfalls nördlicher als 83°20’ n.Br. standen. Und dieses Ergebnis wurde mit Freudenrufen aufgenommen. Wenn wir noch nicht auf der höchsten nördlichen Breite waren, der je der Mensch nahe gekommen ist, so befanden wir uns immerhin nicht weit davon. Das war mehr, als wir erwartet hatten!

Dienstag, 29. Januar. Mit einem sonderbaren Gefühl gehe ich herum. Gewiss ist tief im Innersten jubelnde Siegesfreude darüber verborgen, dass sich alle meine Träume mit der höher kommenden Sonne verwirklichen. Aber während ich in der vertrauten Umgebung arbeite, überkommt mich manchmal eine tiefe Wehmut. Es ist wie beim Abschiednehmen von einem teuren Freund und einem Haus, das mir lange Schutz gegeben hat. Mit einem Schlag sollen wir dieses Haus und unsere lieben Gefährten auf immer verlassen, soll ich nie mehr das schneebedeckte Deck auf und ab schreiten, nie mehr unter das Zelt kriechen, das Lachen im traulichen Salon hören und im Kreis der Freunde sitzen.

Und dann denke ich daran, dass ich nicht dabei sein werde, wenn endlich die »Fram« die Eisfesseln bricht und den Bug nach Norwegen zurückwendet. Ein Lebewohl gibt jedem Ding im Leben seine eigene wehmütige Färbung wie das Abendrot, wenn der Tag, mag er gut oder schlecht gewesen sein, unter den Horizont sinkt.

Hundertmal wandert mein Blick über die Karte und jedes Mal beschleicht mich ein kalter Schauer. Der Weg, der vor uns liegt, ist so weit und auch voller Hindernisse. Dann aber kommt wieder das Gefühl, dass es gehen muss; es kann nicht anders sein, alles ist zu sorgfältig vorbereitet, es kann nicht fehlschlagen. Inzwischen pfeift der Südostwind über unseren Köpfen und wir treiben beständig nordwärts, dem Ziel entgegen. Wenn ich an Deck gehe und in das funkelnde Sternengewölbe hinausschaue, weichen alle diese Gedanken und es ist mir, als müsste ich ausruhen in diesem Heiligtum, dem dunklen, tiefen, schweigsamen Raum, dem unendlichen Tempel der Natur, in dem die Seele ihren Ursprung zu finden sucht. Strebsame Ameise, was bedeutet es, ob du mit deinem Korn dein Ziel erreichst oder nicht? Alles verschwindet im Meer der Ewigkeit. Unsere Namen werden mit der Zeit vergessen, unserer Taten gedenkt niemand, unser Leben fliegt vorbei wie eine Wolke und verschwindet wie der Nebel, der von der Sonne verjagt wird. Denn unsere Zeit ist ein Schatten, der vorüberfliegt und unser Ende besiegelt, und keiner kehrt zurück.

Zwei von uns werden bald noch weiter in diese ungeheure Wüste, in noch größere Einsamkeit und noch tiefere Stille hineinwandern.

Sonntag, 3. Februar. Wir sind auf 83°43’. Die Zeit der Abreise naht, die Vorbereitungen werden mit Eifer betrieben. Unsere neuen Schlitten aus Eschenholz sind jetzt beinahe fertig und wiegen ohne Kufen 15 Kilo. Alle Mann sind eifrig an der Arbeit. Sverdrup näht kleine Säcke und Polster, die als Unterlage oder Griffe für die Kajaks auf die Schlitten gelegt werden. Johansen und zwei andere stopfen die Säcke voll Pemmikan, der zuvor erwärmt, geklopft und geknetet wird, damit er eine gute Unterlage für unsere kostbaren Boote abgibt. Wenn diese viereckigen, glatten Säcke in die Kälte hinauskommen, frieren sie so hart wie Stein und behalten ihre Form.

4 Auf der Expedition mussten sich die Hunde dann aber mit einer weit geringeren Tagesmenge, durchschnittlich kaum mehr als 300 bis 350 Gramm begnügen.

In Nacht und Eis

Подняться наверх