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VORWORT DES HERAUSGEBERS

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»wenn möglich bis zum Pol.«

Fridtjof Nansens Abenteuer in der Arktis

»Dr. Livingstone, I presume.« Als der aus England stammende Sensationsreporter Henry Morton Stanley am 10. November 1871 nicht weit vom Tanganjikasee entfernt mit unnachahmlich-britischem Understatement auf David Livingstone zutrat, erfüllte sich seine Mission. Hatte er doch zwei Jahre zuvor vom Chef des New York Herald, James Gordon Bennett jun., die Weisung erhalten, den im Busch verschollenen Afrika-Pionier aufzuspüren.

Die Berichte über das Ereignis, die Stanley zunächst nach New York kabelte und 1872 in seinem Buch Wie ich Livingstone fand zusammenfasste, machten den Herald zum auflagenstärksten Blatt der USA, weshalb sich Bennett vornahm, solchen Coup dereinst zu wiederholen.

Die Gelegenheit bot sich 1879, als der Schwede Adolf Erik Nordenskiöld bei seiner Erschließung eines Seewegs, der von Europa ostwärts durch arktische Gewässer nach China sowie Japan führen sollte, mittlerweile dreißig Monate auf der »Vega« ausgeblieben war, ohne dass jemand eine Nachricht von ihm erhalten hatte. Da schickte Bennett die »Jeannette« unter Kapitän George Washington De Long von San Francisco zur Beringstraße hinauf, um Nordenskiöld zu suchen. Nachdem De Long jedoch ermitteln konnte, dass die »Vega« die Meerenge vor Kurzem erst wohlbehalten hinter sich gelassen hatte und längst auf der Heimreise war, behielt er seinen Kurs bei, um nunmehr den Pol anzusteuern. Auf diesem Unternehmen freilich wurde das Schiff am 12. Juni 1881 nördlich der Neusibirischen Inseln vom anpressenden Eis zersplittert, sodass es versank. Und obwohl sich drei Viertel der Besatzung mit Schlitten und Ruderbooten zum Lena-Delta durchschlagen konnten, glückte es nur wenigen aus dieser Schar, auf versprengte Nomaden zu stoßen und gerettet zu werden. Die meisten – zuletzt auch De Long und der Korrespondent des New York Herald Collins – kamen um im kimmungslosen Nowhere Land und entschwanden zu den anderen vergessenen Statisten der Erkundung unserer Erde.

Das Publikum zog es vor, sich an die Sieger zu halten, die lebenden Helden zumal.

Deshalb hatten das Jubeln und Zylinderschwenken bei der Ankunft des Bezwingers der Nordostpassage Nordenskiöld in Stockholm – eine der farbigsten Schilderungen des Einlaufens der »Vega« verfasste hernach der Asienforscher Sven Hedin – die Erinnerung an den Untergang der »Jeannette« überlagert und nahezu ausgelöscht … bis 1884 zur Verblüffung der Laien und der Wissenschaft einige Wrackteile des Dampfers am Südwestufer Grönlands angespült wurden und das alte Thema »Jeannette« aufs Neue die Gemüter bewegte: Auf welche Weise hatten die Trümmer die Arktis durchwandert? Und auf welcher Route? Waren sie etwa vom Packeis über den Scheitel des Erdballs befördert worden? Und hatten sie demnach jenen Punkt gekreuzt, der eines der großen Sehnsuchtsziele der Menschheit darstellte?

Während alle Welt über diesen Fragen grübelte, gab ein Mann in Norwegen kurz und knapp die Antwort und wandelte sie sogleich in eine Absichtserklärung um, in ein Vorhaben – in den Masterplan zur Eroberung des Nordpols.


Fridtjof Nansen kam am 10. Oktober 1861 auf dem Gut Store Frøen in Vestre Aker bei Kristiania zur Welt, dem heutigen Oslo. Sein Vater, der dort eine Anwaltskanzlei unterhielt, war fad und paragrafentrocken; Zeitgenossen erinnerten sich an ihn als das »kleine magere Männchen«. Ganz anders die Mutter, eine geborene Baronesse: Von mächtiger Statur, verströmte sie Lebenskraft, war zupackend und gebot mit Witz und Temperament über ihren Hausstand.

Jeder, der den Werdegang Fridtjof Nansens durchleuchtet, kommt angesichts dieses ungleichen Paares zu dem Schluss, dass der Antagonismus im Wesen der Eltern den Sohn geprägt haben muss. Nüchternheit und Schwärmerei, Lebensfreude und Daseinsangst, Misanthropie und Altruismus, Freiluftstreben und Stubenhockerei – alles das findet sich in seiner Vita.

Der Knabe wuchs in einem Kreis von sechs Geschwistern auf und suchte doch die Einsamkeit. Manchmal blieb er seinen vier Wänden eine ganze Woche lang fern. »Irgendwelches Rüstzeug nahm ich auf meine Ausflüge nicht mit. Ich begnügte mich mit etwas Brot und briet mir Fische in der Glut. Ich liebte es, wie Robinson Crusoe dort oben in der Wildmark zu hausen.« Es war wie ein Survivaltraining. Doch wofür?

Er machte sein Abitur und glänzte in den naturkundlichen Fächern so sehr, dass er sich 1881 entschloss, Zoologie zu studieren – ein Fach, das ihm zudem die Möglichkeit bot, die Waldgänge, das Herumstrolchen und -streunen und das Sein-eigener-Herr-Sein mit einer Fortbildungsmaßnahme zu begründen.

Und warum dann nicht geradeso die christliche Seefahrt?

Professor Robert Collett von der Universität Kristiania, ein Freund der Eltern, hatte kürzlich kolportiert, dass unter seinen Kollegen erwogen worden sei angehende Studiosi rerum naturalium auf Seehundfängern anheuern zu lassen, damit sie die Fauna des Eismeers beobachten könnten – worauf Fridtjof Nansen die Chance witterte, eine Vagabondage als Volontariat zu verbrämen. Unverzüglich trat er darum in Kontakt mit einem Skipper, der reisefertig war … und verließ am 11. März 1882 auf der »Viking« unter dem Kommando von Axel Krefting den Hafen von Arendal. Ihre Peilung »Westnordwest«: zur Ostkante Grönlands. »Das war der erste verhängnisvolle Schritt, der mich auf Abwege führte, fort jedenfalls von dem sicheren Pfad der Wissenschaft. Denn eher begeisterte ich mich jetzt fürs Jagen und den Wintersport, eher für polare Probleme als etwa für ein ordentliches zoologisches Studium.«

Nur: War es keinen Spurwechsel wert, nach dreihundert Jahren in der Kiellinie des bislang berühmtesten Mitglieds der Familie zu fahren? Fridtjof Nansen konnte die seinem ›Praktikum‹ tief innewohnende Bewandtnis nicht erkennen.

Dabei knüpfte sie an die Tatsache an, dass Hans Nansen, der Ururururgroßvater des Jünglings, 1614 zur Packeisgrenze gesegelt und dort prompt eingeschlossen worden war. Später, 1619, hatte er von Kopenhagen aus einen Turn in die Barents-See unternommen und am Ende, 1633, seine eigenen Eindrücke mitsamt den Lesefrüchten aus Logbüchern von anderen Voyageuren zu einem Compendium Cosmographicum vereinigt.

Da sich ein Exemplar dieser Arbeit in der häuslichen Bibliothek auf Store Frøen befand, hatte Fridtjof Nansen darin die Auskunft einholen können: »Grönland ist ein sehr großes Land, gehört zum Königreich Norwegen, ist in früheren Zeiten von norwegischen Schiffen besucht und von Norwegern bebaut worden.« Genaueres als diese Überlieferung hatte Hans Nansen nicht weiterzugeben, denn: »In den letzten Jahrzehnten ist die Küste von Grönland nicht mehr angelaufen worden, sodass es uns völlig unbekannt geblieben ist.«

Dass diese Worte seines Ahnen noch 1882 Gültigkeit besaßen, wurde Fridtjof Nansen an Bord der »Viking« auf bedeutungsvolle Weise vor Augen geführt: In Sichtweite Grönlands fror der Robbenfänger – wie damals Hans Nansens Nussschale – fest, und während er drei Wochen lang ohnmächtig gen Süden trieb, stellte die Insel ihre Reize herausfordernd zur Schau.

Da Krefting allerdings damit rechnete, dass die Eiskruste aufbrechen würde, außerdem die Jagdsaison zu Ende ging und die Crew jetzt heimkehren wollte, war ein Verlassen der »Viking« unmöglich. »Hiermit«, seufzte Nansen, »wurden alle meine Pläne umgestürzt; meine schönen Träume, jene so oft von den Entdeckern vergeblich nachgesuchte Küste zu betreten, gingen also für dieses Mal in Rauch auf, und mit Wehmut sah ich das stolze Alpenland allmählich dem Horizonte näher versinken. Ich musste mich mit dem Anblicke begnügen und warf meine sehnsuchtsvollen Blicke hinüber, wenn die Gipfel in der Abendsonne glühten und meiner träumenden Fantasie Bilder grüner, idyllischer Täler und Herden von Rentieren und Moschusochsen vorzauberten.«


»Für dieses Mal« hatte Fridtjof Nansen auf die Ausführung seiner Pläne verzichtet. Und so konnte er zwar – insofern war der Rat von Robert Collett nicht fruchtlos geblieben – eine Stellung als Konservator im Museum zu Bergen antreten. Aber was half’s: Während er nach dem Grundsatz »learning by doing« am Labortisch – wovon ein Foto bewahrt ist – Würmer sezierte und mikroskopierte und präparierte und analysierte und klassifizierte und sich auf dem Sektor der Anatomie und Histologie von Kleinstlebewesen zum Experten heranbildete, irrlichterten doch im Hintergrund seines Bewusstseins die verführerischen Eindrücke aus dem ewigen Eis.

Noch einmal schloss er daher einen Kompromiss mit der Abenteuerlust und machte sich sowie den Seinen 1886 vor, dass die Kavalierstour nach Kiel, Berlin und Frankfurt am Main und weiter nach Como, Pavia, Mailand und ferner Florenz und Rom und Neapel ein Lehrausflug sei. In Wahrheit wollte er Abstand gewinnen zu seiner Befindlichkeit und prüfen, welcher Weg hinter und welcher vor ihm lag. Einer Freundin schrieb er am 21. Mai 1886 vom Fuße des Vesuvs: »Da ist ein Gewirr von Stimmungen [in mir], viel Sentimentales gepaart mit beinhartem Realismus, viel Leichtsinn gepaart mit der kältesten Berechnung; da ist dies Wursteln im Hier und im Heute gepaart mit einem krankhaften Verlangen, die Zukunft auszuspähen; da sind kümmerliche Ansätze von Idealismus gepaart mit dem krudesten Materialismus; da ist ein schwacher Durst nach Wissen gepaart mit Verachtung der Zivilisation sowie einem Hang nach Ursprünglichkeit und Natur; kurz gesagt: die köstlichste Mischung der heterogensten Bestandteile, ein Chaos der Disharmonien.«

Nansen ging nicht daran, dies Gemenge von Eigenschaften, Vorurteilen und Wünschen zu ordnen oder gleichzurichten. Nein, auch wenn er künftig stets darunter leiden sollte und vereinzelt gar Selbstmordgedanken wälzte – er akzeptierte es. Das hatte den Effekt, dass er seine Dissertation über The Structure and Combination of the Histological Elements of the Central Nervous System 1887 noch zu Ende brachte, eine andere Monografie im Jahr darauf aber mit den Worten abbrach: »Ich muss meine Leser um Nachsicht bitten, wenn ich diese Darstellung in einem unvollendeten Zustand hinausgehen lasse; der Grund dafür ist, dass ich im Begriff bin, eine arktische Expedition anzutreten.«

Er wollte sehen, was sich hinter dem gleißenden Saum von Grönland verbarg, hinter den irisierenden Visionen »grüner, idyllischer Täler mit Herden von Rentieren und Moschusochsen« – traf es zu, was seit Jahrhunderten geraunt und überdies schwarz auf weiß dargelegt worden war: dass im Inneren Grönlands ausgedehnte Wälder lagen, von Menschen nie betretene Haine, Gefilde einer heilen Welt?

Die Zeit oder besser: die Konkurrenz drängte – waren doch Adolf Erik Nordenskiöld, der Schwede, 1870 sechzig und 1883 achtzig Kilometer sowie der Amerikaner Robert Edwin Peary 1885 einhundertfünfzig Kilometer auf die Insel vorgedrungen, und zwar jeweils vom besiedelten Westen her. Nansen dagegen beabsichtigte, die Eiswüste von Osten aus zu durchqueren. Er schloss in aller Eile sein Promotionsverfahren ab und startete von Kristiania vier Tage danach, am 2. Mai 1888. Was ihm hinterdreinscholl, war nicht die Ermutigung durch seine Landsleute, kein »Hals- und Beinbruch!« oder »Mast- und Schotbruch!«, sondern der bare Hohn. Die Presse hielt die Operation eher für toll denn für kühn und kündigte an: »Im Juni dieses Jahres wird Herr Konservator Nansen eine Vorstellung im Schneeschuhlaufen mit ›Weitsprung‹ auf dem grönländischen Inlandseise geben. – Feste Sitzplätze in den Eisspalten. Rückfahrkarten sind überflüssig.« Fridtjof Nansen münzte solche Schmähung um in die Parole: »Der Tod oder Grönlands Westküste.«

Es war tatsächlich ein Hinter-sich-alle-Brücken-Abbrechen und damit jenes Handlungsmuster, das Fridtjof Nansen, als er es eines Tages repetierte, den größten Ruhm bescheren sollte. Vorerst nötigte es bloß dazu, aus der Situation, in die sich der Sechsundzwanzigjährige zusammen mit seinen fünf Begleitern begeben hatte, wieder heil herauszukommen.

Am 15. August waren sie – nach der Überwindung zahlreicher Missgeschicke bei der Anfahrt zum östlichen Gestade Grönlands – oberhalb des vierundsechzigsten Breitengrads aufgebrochen. Ihr Bestimmungsort war Kristianshaab auf der anderen Seite der Insel. Die Entfernung dorthin betrug in der Luftlinie sechshundert Kilometer.

Sie zu überwinden bedeutete, in den nächsten Wochen bei Temperaturen von minus vierzig Grad zwischen Eisklüften und Schneewällen enorme Strapazen zu erleiden. Dennoch nahm die Expedition nie eine bedrohliche Wendung; vielmehr verlief sie in einer Gleichförmigkeit, in die allein die Zubereitung von Mahlzeiten und das Sammeln von Messwerten Abwechslung brachten, bis auch dies zum eintönigen Trott gehörte.

Wohlbehalten erreichten die Männer auf diese Weise am 3. Oktober 1888 die Ansiedlung Godthaab. Da wegen des sich ankündigenden Winters freilich das letzte Schiff den Flecken jüngst verlassen hatte, mussten sie bis zum Frühjahr im Müßiggang des Eskimolebens verweilen: sechs Europäer an einem Ort in der Weite des Eises, die Rang und Namen nichtig macht.

Aber als Nansen dann am 30. Mai 1889 mit seinen Getreuen unter Böllergetöse und Menschengeschrei und Sirenengeheul nach Kristiania heimkam, war dieser Einzug der Triumphmarsch eines Helden, eines Nationalidols.


Ein Norweger hatte als Erster Grönland durchquert und damit bestätigt, was Fridtjof Nansen verkündet hatte: dass nämlich sein Volk »für die Polarforschung am ehesten geeignet ist«.

Und auch wenn er nun Anstalten machte, sich zu etablieren – er wurde Kustos am Zootomischen Institut der Universität Kristiania, er heiratete, baute ein Haus und schrieb darin Bücher und wurde Vater –, so war doch das »Chaos der Disharmonien« dermaßen virulent, dass er an ein dauerhaftes Sesshaftwerden nicht denken mochte. Zu sehr beschäftigten ihn schon seit Langem jene Überreste der »Jeannette«, die man in Grönland als Strandgut aufgelesen hatte.

Was wäre, wenn sie vom Eis gleich einer Last zum Nordpol oder dicht an ihm vorbei nach Westen gedriftet waren? Und was wäre, wenn man solches mutwillig wiederholte? Das heißt: mit einem Schiff, dessen Wandung so abgerundet ist, dass das Eis daran abgleiten muss und demzufolge, wenn die Pressung beginnt, den Rumpf aus dem Wasser empordrückt. Wie ein blinder Passagier würde das Fahrzeug auf dem Rücken des Eises die Reise nach Westen mittun und dabei im besten Fall den Nordpol berühren.

Das Land konnte seinem Helden den Bau dieser Arche nicht verwehren. Und so lief die »Fram«, der Nansen ihren Namen nach der Lektüre eines Romans von Jules Verne gegeben hatte, im Oktober 1892 vom Stapel. Acht Monate später stach Fridtjof Nansen in Begleitung von zwölf Gefährten erneut mit Kurs aufs Eismeer in See. »Möge es«, flehte Nansen in einer Fachzeitschrift, »das Banner Norwegens sein, das als erstes über unserem Pol weht!« Die Fahrt zu »unserem Pol« galt also nicht voraussetzungslos dem Wissen und der Wahrheit, sondern war eine Demonstration des norwegischen Patriotismus. Sie war ein Abenteuer, ein Hasardspiel um alles oder nichts, das am Ende lediglich seinen Einsatz abwarf: absonderlich mithin und spannend – Fridtjof Nansens Geschichte In Nacht und Eis.

Sie hebt gemächlich an mit dem Abschied von Frau und Kind und dem langsamen Herantasten an die Packeisgrenze westlich von Sewernaja Semlja, wo Nansens Theorie bestätigt wurde: Während das Wasser um die »Fram« herum allmählich zufror und die Klumpen und Kloben nun andrängten und -drückten, fanden sie keinen Halt und waren gezwungen, sich unter den Corpus des Schiffes zu schieben und ihn rumpelnd und ruckend auf die Schollen zu wuchten. Huckepack zum Nordpol!

Nachdem die dreizehn Männer anfangs noch geschäftig waren sich einzurichten, Messstationen und eine Windmaschine aufzubauen, stellte sich doch binnen Kurzem eine Monotonie des Existenzrhythmus ein, die jener ähnelte, der Nansen auf seinem Marsch durch Grönland ausgesetzt war. Und so meldete sich auch das »Chaos der Disharmonien« zurück. »Mein Geist ist verwirrt«, notierte er nächtens in seiner Kajüte, »alles ist in Unordnung geraten, ich bin mir selbst ein Rätsel. Ich bin abgenutzt und fühle doch keine besondere Ermüdung. Alles um mich herum ist Leere und mein Gehirn ist ein weißes Blatt.« So vergingen die Wochen und die Monate und zuletzt gar die Jahre … 1893 … 1894 …

Er hatte seit Langem berechnet, dass die »Fram« zwar wie erwartet nach Westen driftete, den Pol indes nicht streifen würde. Da entschloss er sich, in Begleitung von Hjalmar Johansen die leidlich sichere Behausung seines Schiffes zu verlassen und auf Brettern das Traumziel anzugehen. Als ob die Losung jetzt lauten würde: »Der Tod oder der Nordpol.«

An Wahnwitz war das Vorhaben nicht zu übertreffen. Denn abgesehen von den Unwägbarkeiten, die den beiden bevorstehen mochten – wie wollten sie vom Rand der Packeiskappe in die Heimat übersetzen, wo die schiere Entfernung vom Nordpol – vorausgesetzt, sie würden ihn erreichen – nach Kristiania jener von hier nach Neapel entsprach? Eine Distanz, auf der man sich’s keinesfalls auf Fähren und in Wagon-Lits wohl sein lassen konnte, sondern die in Kajaks und auf Skiern Schritt für Schritt und Schlag für Schlag durchlitten werden musste. Und womit würde die Plackerei enden?

Wieder brach Fridtjof Nansen alle Brücken hinter sich ab, als er am 14. März 1895 mit Hjalmar Johansen davonzog … Die Hunde vor den drei Schlitten mit vielerlei Gepäck waren der ambulante Proviant. Und schien dem »Unternehmen Nordpol« auch zuerst ein guter Stern zu leuchten, so erwies sich doch alsbald, dass es nicht zu meistern war: Im zähen Ringen gegen die Widerstände der Natur büßten die Männer ihren Wegmesser ein; sie vergaßen ihre Uhren aufzuziehen und konnten (weil man hierzu wissen muss, wann es zwölf Uhr mittags ist) ihre Position nicht mehr bestimmen; ja: nach fünfundzwanzig Tagen saßen sie in einem Feld von verkanteten Eisblöcken fest.

Da befahl Fridtjof Nansen am 8. April 1895 den Rückzug.

Sie wähnten auf einer nördlichen Breite von 86°14’ zu sein, hatten tatsächlich nur 86°04’ erreicht – auch dies immerhin eine Höhe, auf der noch nie ein Mensch gewesen war – und kehrten jetzt um. Aufs Geratewohl Richtung Süden. In abstracto schnitten sie irgendwo die Linie, auf der die »Fram« derweil entlanggedriftet war, und verloren sich zeitlos und ortlos.


Das Zeugnis Fridtjof Nansens von der dritten Überwinterung in Nacht und Eis, vom neunmonatigen Dahinvegetieren in einem Erdstollen, von Eisbärattacken, von Stürzen ins Meer und der glücklichen Wiedervereinigung mit der Mannschaft der »Fram« – diese suspense story, der kein Vorwort je die Spannung rauben darf, besticht durch ihre Ehrlichkeit.

Man kann seither, nachdem er das verwegene Abenteurertum aufgegeben hatte und als Politiker im In- und Ausland hoch geschätzt und 1920 für seine Verdienste um die Opfer des Ersten Weltkriegs mit dem Friedensnobelpreis geehrt worden war, davon lesen, dass der Realpolitiker Nansen im Grunde ein Fantast war. Wohl bedacht schließt sein Buch mit dem Satz: »Aber welchen Wert hätte das Leben ohne seine Träume?«

Damals hatte er sich ausgemalt, den Nordpol zu erreichen. Später – und über Nansens Tod am 13. Mai 1930 hinaus – blieb jene Fiktion ein Ausdruck seines Idealismus. Denn konnte man nicht ebenso gut eine Welt erdenken, in der den Verhungernden Nahrung und den Verfolgten Zuflucht gegeben würde?

Deswegen war es für unzählige Menschen eine segensreiche Fügung, dass Fridtjof Nansen am 17. Juni 1896 bei 79°55’ nördlicher Breite und 49°50’ östlicher Länge auf einen Mann stieß, der Englisch sprach und mit ihm, als ob da jemand zum Tee vorbeigekommen wäre, über Gott und die Welt plauderte, bis er plötzlich mit unnachahmlich-britischem Understatement die Frage stellte: »Aren’t you Nansen?«

Detlef Brennecke

In Nacht und Eis

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