Читать книгу Versteckspiel - Friederike Schmöe - Страница 9
ОглавлениеKAPITEL 4
„Boa, und ich dachte, der Typ wäre tot!“
Lars stöpselte seinen MP3-Player aus den Ohren und zog Gila fester an sich. Gila grinste blöd.
Es war halb acht. Der Morgen war trüb und kalt.
Sie standen an der Bushaltestelle gegenüber vom Supermarkt. Mit gemischten Gefühlen sah Maj zu den Altglastonnen. Da flatterten noch ein paar zerfetzte rot-weiße Bänder von der Polizeiabsperrung.
„Ich kriege eine Anzeige“, stöhnte sie. Ihre Mutter war ihr ständig damit auf den Geist gegangen, hatte noch zwei Mal versucht, sie in ein Gespräch zu verwickeln und ihr ins Gewissen zu reden, aber Maj war in ihrem Zimmer abgetaucht. Im Grunde war sie ganz froh, dass sie an diesem Donnerstag wieder zur Schule musste.
„Halb so schlimm“, unkte Lars. „Musst halt beim nächsten Mal ’n bisschen cleverer sein.“
Als wenn sie sich dumm angestellt hätte! Sollte Lars doch selbst den Whisky klauen, wenn er es so gut konnte.
„Es war einfach ein blöder Zufall“, half Gila aus.
Pfff, machte Maj im Stillen. Zufall vielleicht, aber Gila und Lars waren fein raus. Auf sie wartete keine Anzeige, sie hatten kein Hausverbot im Supermarkt. Am schlimmsten war, dass Maj keine Ahnung hatte, wie alles weitergehen, welche Strafe sie bekommen würde. Dann waren da die Albträume. Heute früh hatte sie überlegt, ob sie Gila einweihen sollte. Irgendwoher kannte sie diesen Mann, der dort drüben bei den Tonnen gestanden und sich zu ihr umgedreht hatte. Ein Schauer jagte über Majs Rücken.
Lars küsste Gila. Ziemlich lange. Maj verdrehte die Augen. Zum Glück kam der Bus, und als sie einstiegen, musste Lars sich von Gilas Lippen lösen.
In der Pause tauchte Frau Stefany, Majs Deutschlehrerin, neben Maj auf. Wenn sie Hilfe bräuchte, könnte Maj sich gerne an sie wenden. Du liebe Zeit, dachte Maj nur. Frau Stefany war wirklich die Letzte, der sie irgendetwas Persönliches erzählen würde.
Auch Lars nervte gewaltig. Er prahlte überall mit Majs Erlebnissen herum und schmückte sie in den buntesten Farben aus. Als seien sie ihm zugestoßen und nicht Maj. Dass er und Gila bloß an der Bushaltestelle gewartet hatten, während der Mann niedergestochen wurde, schien Lars auszureichen, um sich als Held aufzuspielen. „Wenn du alles so genau beobachtet hast, warum seid ihr dann abgehauen, ohne der Polizei was zu sagen?“, fragte Maj spitz, als sie mittags im Bus saßen.
„Komm schon, Maj!“ Wie üblich nahm Gila Lars in Schutz. „Wir haben doch gar nichts mitgekriegt. Es war alles total dunkel.“
„Aber eure große Klappe aufreißen, das könnt ihr!“ Maj wusste selbst nicht, warum sie mit einem Mal so aggressiv war.
„He, bist du stinkig, weil wir uns abgeseilt haben, als die Bullen kamen?“ Lars lachte.
„Das haben wir geschickt gemacht, was? Eng umschlungen ganz gemächlich weitergegangen. Total relaxt. So fällt man nicht auf.“
Maj hätte am liebsten ihren Kopf gegen die Fensterscheibe gerammt. Mann, war der bescheuert. Sie hörte Gila kichern, und dann waren die beiden wieder mit Knutschen beschäftigt.
Als sie ausstiegen, schlug Lars vor, im Supermarkt Chips und Nachos zu besorgen, um Majs Geburtstag am Abend nachzufeiern.
„Super, Mister Oberschlau!“, sagte Maj wütend. „Mir geben sie in dem Laden nichts mehr, schon vergessen?“
„Wir könnten das ja für dich übernehmen.
Oder, Gila?“
Die beiden zogen turtelnd davon. Maj sah ihnen nach, wie sie über den Parkplatz schlenderten und alle paar Meter stehen blieben, um sich ausgiebig zu küssen. Das konnte noch Stunden dauern. Plötzlich wurde ihr schwindelig.
Wollte Lars das Knabberzeug mitgehen lassen? Oder hatte er vor, die Sachen zu bezahlen?
Maj verspürte nicht mehr die geringste Lust auf eine Fete mit den beiden.
„Viel Spaß auch“, murmelte sie und ging nach Hause.
Normalerweise brauchte sie nur eine Viertelstunde von der Haltestelle in den Herzogsweg, wo sie mit ihrer Mutter in einem Reihenhaus wohnte. Aber heute zog sich der Fußweg hin. Als Maj endlich die Tür aufsperrte, schoss ihre Mutter auf sie zu.
„Wo warst du so lange?“
„Was denn!“ Maj schleuderte ihren Rucksack in eine Ecke. Das fing ja schon wieder gut an.
„So geht das nicht weiter, Maj. Ich habe mir Sorgen gemacht.“
„Ich war mit Gila und Lars zusammen. Die sind noch in den Supermarkt …“ Maj brach ab. Allein das Wort ‚Supermarkt‘ ließ sie frösteln. Als wenn diese schreckliche Geschichte sie einfach nicht losließ.
„Wir müssen reden, Maj!“ Die Mutter hatte rotgeränderte Augen. Auf ihrer Stirn zeichnete sich die altbekannte Falte ab. „Ich kann das nicht akzeptieren. Dass du klaust. Und noch dazu Alkohol! Das ist …“
„Kommt nicht wieder vor.“ Maj verschränkte die Arme vor der Brust.
„Wie oft hast du das schon gemacht, hm?“ Die Mutter schüttelte den Kopf. „Dass meine Tochter eine Diebin ist, das hätte ich mir nie träumen lassen. Ich habe mir das immer so schön vorgestellt: eine Tochter zu haben …“
Maj biss sich auf die Lippen. War ja nichts Neues, dass sie den Ansprüchen ihrer Mutter nicht genügte.
„Hast du Probleme? In der Schule?“
„Lass mich einfach.“
„Machst du dich wegen Gila und Lars verrückt? Die beiden sind sowieso kein Umgang für dich. Lars ist ein Großmaul, und Gila …“
„Was weißt du denn über meine Freunde!“, schrie Maj. „Du siehst doch nur, was du sowieso sehen willst. Damit du auf alle Fälle recht hast mit deiner Meinung!“
„Nicht in dem Ton!“
„Nur über meine Freunde herziehen, das kannst du.“ Alles in Maj wurde unerträglich heiß.
Ihr Herz hämmerte wie verrückt.
Die Mutter stöhnte, als müsste sie sich stark zusammenreißen, um die Geduld mit Maj nicht zu verlieren. „O.k. Manchmal reagiere ich einfach zu heftig.“ Sie atmete tief durch. „Lass uns heute Nachmittag in die Schrebergartenkolonie rausfahren. Wir müssen das Häuschen noch winterfest machen. Dann können wir dort in Ruhe über alles sprechen.“
Auch das noch! Maj hasste den Schrebergarten. Sie konnte sich nicht erinnern, die Sonntage ihrer Kindheit irgendwo anders verbracht zu haben als auf der handtuchgroßen Parzelle, wo ihre Mutter Karotten, Lauch und Zwiebeln zog und alberne Gartenzwerge zwischen den Blumen standen. Umgeben von anderen Minigärten, wo die Nachbarn genau dasselbe taten. Und einander währenddessen misstrauisch beäugten.
„In Ordnung“, sagte Maj. Wie sie das alles verabscheute. Mit einem Mal stand sie an einem Punkt, an dem sie endgültig die Nase voll hatte. In ihrem Kopf war plötzlich alles ganz klar, wie durchsichtig. Sie nahm den Rucksack und ging zu ihrem Zimmer. „Ich räume nur schnell meine Sachen auf.“
Danach war alles einfach. Maj kippte die Schulsachen aus dem Rucksack und packte stattdessen einen warmen Pullover, Wäsche, Socken, eine Taschenlampe und ihren Ausweis hinein. Man konnte nie wissen.
„Maj, in zehn Minuten gibt es Essen!“, hörte sie ihre Mutter aus der Küche rufen.
„O.k.!“, antwortete Maj. Im Schreibtisch verwahrte sie eine Schachtel mit Kleingeld.
Sie schüttelte die Münzen in ihren Geldbeutel. Dann schlich sie die Treppe hinunter. Hörte ihre Mutter mit dem Geschirr hantieren.
Der Duft von frisch gebratenen Frikadellen hing in der Luft. Aber Maj hatte keinen Appetit. Sie öffnete die Haustür und trat hinaus. Leise zog sie die Tür hinter sich zu und ging eilig zur Bushaltestelle. Sie nahm den nächsten Bus in die Innenstadt und stieg zweimal um.
Unterwegs schickte sie ihrer Mutter eine SMS, dass sie eine Weile allein sein wollte. Dann schaltete sie ihr Handy aus.