Читать книгу Handbuch der Philosophie des Geistes - Friedhelm Decher - Страница 6
Einleitung
ОглавлениеZur „Geistesgeschichte“ der Menschheit gehört ein immer erneutes Nachdenken über den Begriff „Geist“ und das Phänomen des „Geistigen“. Dieses Nachdenken über den Geist hat eine enorme Fülle an Aspekten und Problemstellungen zutage gefördert. Eine unsystematische Zusammenstellung mag das in einem ersten Vorgriff verdeutlichen. Handelt es sich beim Geist um ein – philosophisches und/oder theologisches – Denkprinzip, ein Instrument der Welterkenntnis, eine allgemein menschliche Eigenschaft? Wie verhält sich das „Geistige“ zur „Natur“ beziehungsweise „Materie“? Sind Geist und Materie im wesentlichen von unterschiedlicher Art und existieren beide unabhängig voneinander, oder handelt es sich bei ihnen um zwei Erscheinungsformen des einen und selben? Wie verhalten sich Geist und „Seele“ zueinander? Wie entsteht Geist? Ist er unabhängig von der menschlichen Hirntätigkeit existent? Wie verhalten sich, anders gesagt, Geist und Gehirn zueinander?
Vor allem im Zuge der modernen Hirnforschung und Neurobiologie ist die Auseinandersetzung mit dem Begriff Geist in Wissenschaften und Philosophie wieder in den Fokus des Interesses gerückt. Aber nicht nur dort scheiden sich ‚die Geister‘, sondern auch umgangssprachlich offenbart sich eine enorme Verwendungsvielfalt von „Geist“ und von Zusammensetzungen mit „Geist“. Die folgende willkürliche Aufzählung, die sicherlich um viele weitere Glieder erweitert werden kann, dürfte das hinreichend belegen:
Unternehmensgeist | geistig |
Geistesgegenwart | durchgeistigt |
im Geiste der Verbundenheit | geistlos |
im Geiste mitmarschieren | geistreich |
der Geist des Widerspruchs | geistsprühend |
der Geist der Gruppe | geisttötend |
im Geiste der Väter | geistvoll |
Geistesverwandtschaft | geistesabwesend |
das geistige Auge | geistesverwandt |
der Geist von Bern | geisteskrank |
Zeitgeist | entgeistert |
Ungeist | begeistert |
Weingeist | geisterhaft |
Eine ähnliche Vielfalt der Verwendungsweisen von „Geist“ dokumentiert etwa auch der Sprach-Brockhaus. Dort finden sich folgende Bedeutungen von „Geist“ unterschieden:1
– das Bewusstsein und sein Träger; traditioneller Gegensatz: Körper, Materie
– erkennender Verstand; Gegensatz: Seele als Sitz der Emotionen
– Sinn, Bedeutung, Gehalt; zum Beispiel: der Geist unserer Sprache; der Geist der Goethe-Zeit; ich glaube in seinem Geist zu handeln; jetzt weiß ich, wes Geistes Kind er ist (= nun kenne ich seine Gesinnung)
– Scharfsinn (im Sinne des französischen „esprit“)
– Geist im Sinne von Spuk, wiedererscheinender Verstorbener
– übermenschliches Wesen der Sage und des Märchens, Unhold, Dämon (zum Beispiel der böse Geist; der dienstbare Geist (letzteres auch in der Bedeutung „Dienstmädchen“)
– der Heilige Geist (dritte Person der Dreieinigkeit)
– Unruhe, Feuer: ein unruhiger Geist, ein feuriger Geist
– schweizerisch gleichbedeutend mit „Dunst“
– Essenz, Sprit: Weingeist, geistige Getränke
Weitere Bedeutungen und Verwendungsweisen von „Geist“ ließen sich problemlos ergänzen – so füllt etwa Grimms Wörterbuch über 100 Spalten zum Stichwort „Geist“.2 Werfen wir zur Abrundung dieses ersten Zugriffs auf den Begriff Geist einen Blick auf die Etymologie, die Herkunft des deutschen Worts „Geist“.3 Im Althochdeutschen bedeutet „Geist“ im Gegensatz zum Körper „überirdisches Wesen“. Nächstverwandt sind das angelsächsische „gaestan“ (aus „gaistjan“) mit der Bedeutung „in Schrecken versetzen“, ferner das englische „aghast“ = entgeistert, entsetzt, aufgeregt, zornig sowie „ghastly“ = grässlich, entsetzlich. Alle diese Wörter gehen zurück auf das indogermanische „gheizd“, was aufgebracht, aufgeregt (sein) bedeutet. Von dieser Wurzel leitet sich auch das gotische „usgeisnan“ ab: außer Fassung geraten. Im Altnordischen gibt es zudem „geiski“ = Schreck und „geiskafullr“ = entsetzt. In Anbetracht dieser Etymologie nimmt man an, „Geist“ sei benannt nach der (eventuell kultischen) Aufgeregtheit.
Versuchen wir uns nun der Frage zu nähern, was in der philosophischen Tradition des Abendlands unter „Geist“ verstanden worden ist. Die Ausrichtung auf diesen Untersuchungsgegenstand deutet bereits an, dass sich das Begriffsverständnis von „Geist“ (fast) ganz auf die philosophische Verständnisebene beschränkt und Beziehungen zu theologischen Geist-Konzepten weitgehend unberücksichtigt lässt. Freilich werden sich Verbindungen zu religiös konnotierten Konzepten nicht völlig ausschließen lassen, sind doch insbesondere spätantike und mittelalterliche Geistkonzepte im Horizont religiöser Vorstellungen entwickelt worden. Vielleicht mag in diesem Zusammenhang ein sprachanalytischer Hinweis hilfreich sein. Was im Folgenden unter „Geist“ verstanden wird, deckt sich weitgehend mit dem englischen „mind“. Im Deutschen, so dürften die oben aufgelisteten Wortverbindungen eindrucksvoll vor Augen geführt haben, ist „Geist“ im alltäglichen Sprachgebrauch eher ein undifferenzierter Sammelbegriff, wohingegen sich das englische „mind“ deutlich von Begriffen wie „spirit“ oder „ghost“ absetzt, bei denen, anders als bei „mind“, Bedeutungssphären des Überirdisch-Transzendenten mit im Spiel sind.
Aber auch eine Beschränkung auf philosophische Verwendungsweisen von „Geist“ offenbart eine breite Palette an Deutungsmöglichkeiten. So lässt sich auch aus philosophischer Perspektive betrachtet etwa fragen: Ist „Geist“ eine naturwissenschaftliche Grundkategorie? Liegt den Ordnungsstrukturen in Natur und Kosmos etwas Geistiges zugrunde? Sind sie Produkt eines weltüberlegenen Geistes? (Nebenbei gesagt: Das fragen gelegentlich auch heute noch Naturwissenschaftler.) Da es in höher entwickelten Lebensformen – wie beispielsweise beim Menschen – offensichtlich „Geistiges“ gibt, lässt sich fragen: Woher kommt es? Fiel der Geist, metaphorisch gesprochen, vom Himmel? Oder ist er im Laufe der Evolution als neues, emergentes Phänomen irgendwann entstanden? Ist der Geist in uns vielleicht identisch mit der Natur außer uns, wie es die romantische Naturphilosophie, als deren Repräsentant etwa Schelling gelten kann, annahm? Lässt sich der Geist aus dem Zusammenspiel von Neuronen im Gehirn erklären? Wie ist das Verhältnis von Gehirn und Geist angemessen zu bestimmen?
Im Brennpunkt des philosophischen Nachdenkens über den Geist stand zudem die Frage nach seinem Verhältnis zum Bewusstsein. „Bewusstsein“ wird hier als Sammelbezeichnung für die verschiedenen Formen von Erlebnis, Aufmerksamkeit oder Auffassung verwendet, also für das, was man als „Bewusstseinszustände“ bezeichnet, zum Beispiel Sinnesempfindungen (Lust und Schmerz, Empfindungen von hell und dunkel), Vorstellungen wie etwa Erinnerungs-, Erwartungs- und Phantasievorstellungen, ferner Gefühle (Liebe, Hass, Furcht beispielsweise), zudem Stimmungen (als Beispiele seien Wehmut und Angst genannt) sowie das bewusste Denken. Tatsächlich verhält es sich so, dass die meisten geistigen Prozesse mit Bewusstseinszuständen wie den angeführten in Zusammenhang stehen.
Die empirischen Wissenschaften fragen nach kausalen Bedingungen für das Auftreten bestimmter Bewusstseinszustände und geistiger Phänomene. Und sie stellen die Frage: Sind Bewusstseinszustände identisch mit bestimmten Zuständen des Zentralnervensystems? Kann man Bewusstsein auf neuronale Aktivitäten reduzieren? Verkompliziert wird die Sachlage durch das Phänomen des Selbstbewusstseins. Unser Geist verfügt nämlich über die Fähigkeit, sich selbst zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen. Ich kann mir meiner selbst bewusst werden, und der Gedanke, dass ich es bin, der Vorstellungen hat, kann, wie Kant es ausgedrückt hat, alle meine Vorstellungen begleiten.
Wie steht es nun um dieses Ich, um sein Verhältnis zum Geist und zum Gehirn? Wie gelingt es uns, Einsicht in das Ich zu gewinnen? Gibt es überhaupt ein solches Ich? Oder handelt es sich bei ihm möglicherweise, wie bereits der schottische Philosoph David Hume im achtzehnten Jahrhundert fragte, um nichts anderes als eine bloße Illusion, um eine vom Geist beziehungsweise vom Gehirn erzeugte Fiktion? Wo bleibt dieses Ich, wenn ich schlafe oder bewusstlos bin?4 Ist das Ich, so der Frageansatz der modernen Neurobiologie, eine Funktion neuronaler Aktivitäten?
Außerdem kennt nicht nur der philosophische, sondern auch der alltägliche Sprachgebrauch die Unterscheidung zwischen „Geist“ als einer Eigenschaft und als einer Fähigkeit des Menschen.5 Sprechen wir vom Geist als einer menschlichen Eigenschaft, dann bezieht sich das Wort „Geist“ offenbar auf einen Bereich, der jedem von uns vertraut ist. Wenn wir von jemandem sagen, er sei intelligent, klug, vorausschauend, überlegt oder er wisse enorm viel über Fußball, dann sprechen wir über geistige, über mentale Eigenschaften dieser Person. Etwas ganz anderes ist es, wenn wir von jemandem sagen, er wiege 80 Kilogramm. In diesem Fall sprechen wir über die Eigenschaften seines Körpers.
Vom Geist als einer Eigenschaft des Menschen grenzen wir für gewöhnlich „Geist“ als eine menschliche Fähigkeit ab. Die wohl wichtigsten geistigen oder mentalen Fähigkeiten beziehungsweise Aktivitäten sind: Erkennen, Wissen, Denken, Sprechen, Sicherinnern, Wahrnehmen, Empfinden, Fühlen, Wollen, Wählen, Entscheiden, Handeln. Wie enorm wichtig das sich hierin aussprechende Verständnis unserer selbst als geistiges Wesen ist, kann man sich mit einem einfachen Gedankenexperiment klarmachen. Wenn man nämlich einmal überlegt, auf welche der genannten Fähigkeiten man im eigenen Fall eventuell verzichten könnte, dann wird sofort ersichtlich, dass für unser Selbstverständnis als denkende und handelnde Person hier schlechterdings nichts als verzichtbar erscheint.
Ein weiteres zentrales Problem, mit dem sich das Nachdenken über den Geist von alters her bis heute herumplagt, ist das seines Verhältnisses zur Seele. Im Laufe der Geschichte dieses Nachdenkens haben sich drei Grundpositionen herauskristallisiert. Erstens: Die Begriffe Geist und Seele werden weitgehend synonym verwendet, das heißt, zwischen Geist und Seele wird nicht scharf unterschieden. Das ist zum Beispiel in der Hochkultur des alten Ägypten der Fall. Zweitens: Der Geist wird entweder als Teil der Seele begriffen – eine solche Psychologie vertritt in der griechischen Antike etwa Platon – oder als höchste Funktion der Seele, wie es dessen Schüler Aristoteles lehrte. Drittens: Geist und Seele können als Gegensätze aufgefasst werden. Besonders pointiert ist das von Ludwig Klages in seiner Schrift Der Geist als Widersacher der Seele herausgestellt worden.6 Dort nimmt er folgende Zuordnungen vor:
Geist: | Seele: |
Begriffe | Leben |
rational, logisch | Empfinden |
objektiv | subjektiv |
Notwendigkeit, Gesetzmäßigkeit | Freiheit |
Die „Seele“ stellt dabei für Klages die ältere, ursprüngliche Schicht dar. Seine Kernthese besagt, der „Geist“ isoliere den Menschen vom Puls des kosmischen Lebens, er entfremde den Menschen von der Natur und von seinem eigenen Wesen. Daher sei der Geist der „Widersacher“ der Seele.
Nehmen wir vor dem Hintergrund dieser Abgrenzungen und Unterscheidungen nun einige Stationen der Geistesgeschichte des Abendlands – und nur diese ist im Folgenden Thema – in den Blick! Dabei haben wir davon auszugehen, dass geistige Leistungen von Anfang an zum Wesen des Menschseins gehörten, wie der Paläoanthropologe Ian Tattersall in seinem Buch Becoming Human betont.7 Dort legt er dar, die ‚Menschwerdung‘, das heißt die Entwicklung des modernen Menschen, sei vor etwa 200.000 Jahren vonstatten gegangen. Dazu gehöre ganz entscheidend, dass jener Mensch der Frühzeit einerseits tief in der Biologie verwurzelt, andererseits doch scharf durch seine kognitive Macht davon getrennt sei. Demnach sei der Mensch als sich neu herausbildende biologische Art von Anfang an ein Wesen, das über „Geist“ verfügte, gehe, anders gesagt, die Geburt des menschlichen Geistes mit der Entstehung des Menschen Hand in Hand.
Eindrucksvolle Zeugnisse der frühen, vorgeschichtlichen geistigen Tätigkeit des Menschen finden sich in seinem Umgang mit Bildern und Symbolen, wie er beispielsweise in der Kunst der Steinzeit dokumentiert ist. Sehen wir uns die Kunstwerke aus der etwa 35.000 Jahre alten Höhle Vogelherd auf der Schwäbischen Alb an oder die Malereien in der südfranzösischen Grotte Chauvet,8 die ebenfalls vor etwa 35.000 Jahren entstanden sind und derzeit als die ältesten bisher gefundenen Höhlenmalereien gelten, dann drängt sich zwangsläufig der Gedanke auf, dass derlei Kunstwerke nicht ohne „Geist“ haben hergestellt werden können. Hier wird bereits mit optischen Tricks gearbeitet, so dass beispielsweise ein perspektivischer Eindruck oder der von Dynamik und Bewegung – bei der Darstellung kämpfender Nashörner oder eines rennenden Wisents – entsteht. Oder nehmen wir das „Handnegativ“ aus jener Höhle oder die Schulter eines Bären, bei deren Darstellung das Relief der Felswand mit einbezogen worden ist, so dass ein 3-D-Effekt entsteht. All das, so legt sich der Schluss nahe, bezeugt einen im wahrsten Sinne des Worts „geistvollen“ Umgang mit Bildern, Symbolen und Strukturen des zu bearbeitenden Materials.
Müssen wir uns angesichts solcher Zeugnisse weitgehend mit Mutmaßungen, Spekulationen und Interpretationen zufrieden geben, so ändert sich die Sachlage, sobald schriftliche Dokumente auftauchen, die ausdrücklich die geistig-seelische Aktivität der Menschen zum Gegenstand haben. Das ist in den frühen uns bekannten Hochkulturen der Fall. Als Beispiel hierfür wird im Folgenden das alte Ägypten angeführt. Die eigentliche Entdeckungsgeschichte des Geistes, in deren Zuge dann auch der „Geist“ auf den Begriff gebracht wird, beginnt in der griechischen Antike. Deren entscheidende Stationen werden herausgearbeitet, so dass ersichtlich wird, wie in jener Zeit ein Fundament gelegt wurde, auf dem spätere Zeitalter ihre „Geist“-Gebäude errichten konnten. Die hier vorgelegte Auswahl weiterer Stationen einer Ideengeschichte beansprucht keineswegs Vollständigkeit. Sie bemisst sich daran, welche Vorstellungen von Geist, Seele und Bewusstsein charakteristisch, ja gar prägend für eine Epoche waren, welche eventuell einen Epochenwechsel mit eingeleitet haben. Auf diese Weise werden entscheidende Facetten des Panoramas des europäischen Geistes und seiner Geschichte herausgestellt – bis hin zu den aktuellen Debatten um den Geist, seine Funktionsweise und seinen Zusammenhang mit der neuronalen Architektur des Gehirns.