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Alles paletti

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Frank Berger war wie jeden Morgen sehr zeitig auf dem Großen Markt in Wesel unterwegs. Er machte seine tägliche Runde von Haus zu Haus und sorgte dafür, dass die Bewohner des Dom-Viertels schon beim Frühstück einen Blick in ihre Tageszeitung werfen konnten.

An manchen Tagen war der Kollege vom Konkurrenzblatt schneller. Das ärgerte Berger, weil er dann den insgeheim für sich ausgerufenen Wettbewerb ‚Schnellster Weseler Zeitungsbote’ an diesem Tag verloren hatte. Das ließ sein Ehrgeiz nicht zu.

Berger lief gerade um den mannshohen und mit Planen verhängten Bauzaun herum, der die kunstvolle Arbeit der Steinmetze an der Historischen Rathausfassade vor neugierigen Blicken schützte. Die Handwerker waren um diese Zeit natürlich noch nicht da. Der Bauzaun schon. Deshalb musste Berger jeden Morgen im Karree mitten über den Großen Markt laufen, um vom Haus Nummer 11 zur Nummer 7 zu gelangen. Dabei warf er meistens einen kurzen Blick durch das Tor des Bauzauns, das nicht ganz zugehängt war und so den Blick auf die schon gesetzten Steinreihen freigab. Ab und zu schaute Berger auch hoch zum Ausleger des Baukrans, an dem manchmal eine Schubkarre oder andere Geräte hingen. Berger hatte solche Anhängsel auch schon auf anderen Baustellen gesehen und sich gefragt, wozu diese - bevorzugt an Wochenenden - dort aufgehängt wurden. Um ihren Diebstahl zu verhindern? Eine plausiblere Antwort war ihm bisher nicht eingefallen.

In der Regel war es noch stockdunkel, wenn Berger zwischen vier und fünf Uhr dreißig auf seiner morgendlichen Tour unterwegs war. Heute schien der Mond, der sich allerdings zeitweise hinter Wolken versteckte. Der Kranausleger hoch oben war trotzdem gut zu sehen. An dem Haken baumelte diesmal etwas Rechteckiges. Mehr war von unten nicht zu erkennen.

Berger hatte in der Zeitung gelesen, dass die aus einem Steinbruch in der Eifel stammenden Sandsteine bei einem Fachunternehmen in Weimar bearbeitet wurden, das langjährige Erfahrungen in Denkmalsanierung und -restaurierung hatte. ‚Steinmetz’, so lautete die Berufsbezeichnung der Mitarbeiter. Berger überlegte, wie wohl der korrekte Ausdruck für deren Tätigkeit hieß: ‚steinmetzeln’? Wenn das stimmte, dann würden die armen Steine gemetzelt und luftdicht verschnürt nach Wesel entführt, um hier Stück für Stück in dem Gesamtkunstwerk „Historische Rathausfassade“ zu verschwinden.

Berger musste grinsen. Die Fantasie war mal wieder mit ihm durchgegangen. Das passierte ihm öfter.

Im nächsten Augenblick schien der Mond ungehindert durch ein Wolkenloch, und die dunklen Konturen der Palette waren von unten deutlich erkennbar. Berger ging weiter. „Komisch“, murmelte er. Ihm war so, als hätte er für einen kurzen Moment an einer der Außenkanten der Palette etwas gesehen, was da nicht hingehörte; so etwas wie eine Hand, die ihm zuwinkte.

„Quatsch“, versuchte er sich selbst zu beruhigen. „Frank, du siehst Gespenster.“ Berger ertappte sich manchmal dabei, dass er auf seinem einsamen Weg mit sich selbst sprach und sich dabei mit seinem Vornamen anredete. Aber außer ihm und seinen Kollegen war um diese Zeit ja auch niemand unterwegs, mit dem er sich hätte unterhalten können. Er blickte noch einmal nach oben. Der Mond war wieder verschwunden und die Palette nur noch als viereckiges dunkles Etwas erkennbar.

„Alles paletti!“, sagte er und erschrak vor seiner eigenen, etwas rauen Stimme auf dem ansonsten totenstillen Platz. Dann wurde ihm sein unbeabsichtigtes Wortspiel bewusst: Palette und paletti! Er lachte laut und blieb einen Moment stehen, um die nächsten Zeitungen aus seinem kleinen Handkarren zu nehmen. In diesem Augenblick zog der Zeitungsbote von der Konkurrenz mit einem freundlichen „Moin, moin, Kollege! Heute so gut aufgelegt?“ an ihm vorbei.

Kling Glöckchen

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