Читать книгу Das schmale Fenster - Friedrich Haugg - Страница 4
Eins
ОглавлениеHalb neun. Um diese Uhrzeit bestand Martin lediglich aus einer körperlichen Hülle, die so aussah wie Martin. Sein mentaler Zustand ließ nur den aufrechten Gang zu und den freundlich unverbindlichen Gesichtsausdruck, passend zu seinem Gesamtbild: Grauer Anzug, hellblaues Hemd und feine Streifenkrawatte in Missonifarben. Das bühnenreife Erscheinungsbild sorgte dafür, dass vieles verborgen blieb, was aus Gründen der friedlichen Koexistenz auch besser verborgen bleiben sollte.
Den Kristallpalast betrat er wie immer durch die automatische Drehtür. Die Seitentüren waren um diese Zeit zwar offen, aber es war ihm eine liebe Gewohnheit, den kleinen Geist in der Türautomatik aufzuwecken, der sich ewig folgsam bemühen musste, die schwere Tür ächzend in Drehung zu versetzen. An der Rezeption strahlte ihn das Douglas-Lächeln von Sonja an, oder hieß sie Sandra oder Sofia oder gar Sarah. Nur mit dem S am Anfang war er sich sicher. Das Lächeln fühlte sich so an, als ob es ihm persönlich galt. Er wusste es besser. Es war für jeden da und vollendet standardisiert. Es musste eine strenge Richtlinie dafür existieren, wahrscheinlich von Heidi Klum. Er erwiderte das Lächeln im Rahmen seiner augenblicklichen Möglichkeiten und ging vorbei an den Drehkreuzen, die auch offen waren, um die Heerscharen der grau gekleideten Damen und Herren staufrei durchzulassen. Sie waren tatsächlich alle mehr oder weniger grau, eine Art Schuluniform. Bei Siemens war die Firmenfarbe so ein leichtes, fades Taubenblau, bei IBM strenges, dunkles Preußischblau.
Angesichts der Menschenmenge stellte er zum wiederholten Male fest, dass er keine Ahnung hatte, was diese vielen Leute eigentlich machten. Der zehnstöckige Palast war ausgefüllt mit Büroräumen, während seine Labors im kleineren Nebengebäude untergebracht waren. Ein nicht unerheblicher Teil der Büros war von Menschen bevölkert, die sich durch besonders ausgesuchtes Grau hervorhoben. Die Kostüme und Anzüge waren wie die feinen Schuhe edle Markenware, die Gesamterscheinung einschließlich der Frisur äußerst gepflegt und immer auf dem Stand der aktuellen Outfit-Trends. Ein Hauch von Coolwater schwebte über ihnen. Unvermeidlich, das Wischtelefon in der linken Hand. Das war die Abteilung Finanzen und Controlling. Diese Leute zeichneten sich dadurch aus, dass sie den anderen immer ihre neuesten Apps vorführten. Nicht nur die Wortschöpfung hasste Martin. Apple warb mit mehr als 700.000 'Apps' und es wurden täglich mehr. Das bedeutete acht volle Jahre Arbeitszeit, nur um alle zu sichten. Brillant allerdings die Idee von Apple, die Eitelkeit der Menschen auszunutzen und sie die Entwicklungen machen zu lassen, ohne die ihre Geräte völlig wertlos wären. In den Apps steckten, so schätzte er, mehr als vier Milliarden Euro Aufwand, nicht nur kostenlos für Apple und Co., sondern sie verdienten damit bei jedem Download auch noch Geld. Diese Interpretation der 'swarm intelligence' fand Martin sehr belustigend. Wie dumm müssen die Menschen eigentlich sein, dieses System nicht zu durchschauen? Am besten noch fand Martin die Anwendung, bei der das Smartphone zum Bierglas umfunktioniert wurde und man es durch Kippen geräuschvoll virtuell austrinken konnte. Das war für ihn wahrer Humor, weil hier die Versprechungen der virtuellen Realität auf simpelste Weise demaskiert wurden.
Sean hatte ihm auf einer reichlich alkoholisierten After-Work-Party, in der Schweiz hieß dieses tägliche Pflichtvergnügen Apero, hinter vorgehaltener Hand kichernd mitgeteilt, dass der größte Teil der Gewinne durch Finanzgeschäfte erzielt werde. Dass seine Leute so eine Art Bank in der Firma seien. Die ganzen Chemiker, Physiker und Ingenieure würden sie sich nur als teures Hobby leisten. Es gäbe auch einen richtigen Trading-Room mit allem, was die Computertechnik zu bieten habe. Martin erinnerte sich, dass er unangenehm berührt war. Es verletzte seinen Ehrgeiz, dass Gewinne mit schnödem Spekulieren auf beliebigen Finanzmärkten erzielt wurden und nicht mit dem, wofür die Firma stand. Aber das würde sich ja von nun an ändern.
Der gläserne Außenaufzug, der ihn wie eine Bergbahngondel auf den Gipfel des Palasts schweben ließ, bereitete ihm ein erstes, kleines gutes Gefühl an diesem Tag. Der Ausblick war atemberaubend. Ein blitzblanker Himmel, vom Morgenlicht magisch illuminiert der Gipfel des Pilatus und zu seinen Füßen die Luzerner Bucht mit dem ruhigen, dunklen Wasser des Vierwaldstätter Sees, auf den ein paar kleine Boote lange Striche malten, wie Kondensstreifen am Abendhimmel. Davor die Spielzeughäuser das alten Luzerns.
Oben angekommen schritt er durch den gläsernen Übergang zum Laborgebäude. Mit einem kleinen Nervenkitzel, weil der Architekt sich den Spaß geleistet hatte, den Boden auch aus durchsichtigem Material zu gestalten. Auf Höhe des zehnten Stockwerks schrumpften die bereits emsigen Menschen und Lieferautos unter seinen Füßen zur Modellanlage. Er kannte einige Kollegen, die es vermieden, allzu oft Termine im Hauptgebäude wahrzunehmen.
Am Ende war der Zugang ganz und gar nicht mehr offen. Die neue Anlage zur Erkennung der Gesichtszüge, offiziell hieß es biometrisches Zugangskontrollsystem, schien ihm wie immer ziemlich lächerlich und außerdem recht behindernd, weil es doch fast eine Minute dauerte, bis der Computer sich entschied ihn zu kennen. Oder auch manchmal nicht. Dann mussten richtige Menschen kommen, um ihm den Zutritt zu seinem eigenen Reich zu gewähren. Denn als das betrachtete er sein Labor. Er war zwar nur angestellt, aber er identifizierte sich so sehr mit seiner Aufgabe, dass er diese Nebensächlichkeit meist vernachlässigte.
Die Arbeit war unerfreulich. Ein Meeting reihte sich ans andere, alle waren sie gefüllt mit Menschen, die keinen blassen Schimmer hatten, aber mitreden durften. Er sehnte sich zurück in die Zeit als entwickelt wurde und Gespräche mit anderen Menschen sich auf den Austausch wirklicher Informationen beschränkten. Sie waren kurz vor der Zulassung von NeuroX auf dem weltweiten Markt. Es würde ein OTC-Produkt werden und damit rezeptfrei erhältlich sein. Das 'Over the Counter'-Geschäft versprach Milliardengewinne, mehr als die Finanzspekulanten je erzielen konnten. Und es würden ehrliche Gewinne sein. Man spürte es schon bei den Aktienkursen, die seit einigen Wochen stetig anzogen. Keiner wusste warum, weil alles doch streng geheim war. Die Marketingleute arbeiteten schon monatelang an der Roll out-Strategie und schufen ausgeklügelte Pläne, Filmclips, Jingles und Bilder und redigierten und veränderten die Fachartikel bis zur Unkenntlichkeit, damit die 'message' auch beim gemeinen Volk unmissverständlich und überzeugend ankam. Da wurden, weil die klassische Werbung nicht mehr so wirkungsvoll war, in großem Stil virale Kampagnen geplant. Das nannte sich früher Mundpropaganda, aber nur schlichte Gemüter glaubten, dass die Menschen die Empfehlung an Freunde und Bekannte aus freien Stücken weitergeben würden. Sie wurden vielmehr durch die Marketingmaschinerie konditioniert. Das war so ähnlich wie früher mit dem VW Sharan, der Kampagne, in dessen Folge jede ordentliche Jungfamilie neben zwei Kindern auch noch einen blonden Labrador Retriever besaß.
Am schwierigsten war wie immer die Zulassung durch die amerikanische FDA, die Federal Drug Administration. Für die mussten nicht nur die klinischen Studien und die Feldversuche dokumentiert werden, sondern der gesamte Entwicklungs- und Produktionsprozess. Viele in der Firma befürchteten, dass damit das Know How veröffentlicht werde und die Konkurrenz über dunkle Kanäle schnell lernen würde, das Produkt selbst herzustellen. Deswegen bemühte sich eine ganze Abteilung darum, den Spagat zwischen Wahrheit und Verschleierung in die Dokumente einzuarbeiten. Heute sollte Martin die aktuellen Ergebnisse der Doppelblindstudie vortragen. Die PowerPoint-Folien dazu hatte er vorher noch nicht gesehen. Aber er konnte sich auf Miriam verlassen. Sie war äußerst zuverlässig und sie wusste, worauf es ihm und überhaupt ankam. Sie hatte in Berlin Biochemie studiert und war bereits zehn Jahre bei Bionik Health. Sie kannte wesentlich mehr wichtige Leute als Martin, was dieser schamlos nutzte. Dass sie außerdem noch gut aussah, sportlich schlank, braun gebrannt, schwarz glänzende, glatte Haare und normannisch wasserblaue Augen, wurde von Martin zwar registriert, aber er zog keine weiteren Folgerungen daraus. In der Firma hatte für ihn das Sexuelle nichts zu suchen. Wichtig war ihm die schon drei Jahre währende vertrauliche und vertraute Zusammenarbeit mit Miriram. Diese moralische Leistung war allerdings nicht so großartig, wie es den Anschein hatte, da sein persönlicher Testosteronspiegel offensichtlich nicht für eine totale Gehirnkontrolle ausreichte. Das erklärte auch seinen mangelnden Ehrgeiz, weiter nach oben zu steigen. Das überließ er den Alphamännchen, die er belustigt beim Drängeln und Hecheln beobachtete und die dann später wegen ihrer Affären wieder abstürzten.
Der Vortrag lief wie erwartet gut, er war sich seiner Sache ohnehin sicher. Da mittlerweile auch sein Geist Einzug gehalten hatte, bat er noch, Fragen zu stellen. Ein kleiner, untersetzter und blässlicher Mann mit zerknittertem, farblosem Anzug und einem aufgequollenen Vollmondgesicht, das seine Augen zu schmalen Schlitzen deformierte, holte hörbar Luft und setzte eine wichtigtuerische Miene auf. Seine Stimme war dünn, scharf und leise.
„Wenn ich das richtig verstanden habe, Herr Dr. Hohenstein – und sie müssen entschuldigen, ich war bisher noch nicht eingebunden - handelt es sich bei dem Wirkstoff um eine Art Antidepressivum, wie wir es schon von Doxepin, Imipramin, Clomipramin oder Amitriptylin kennen, also selektive Serotonin - oder Noradrenalin - Wiederaufnahmehemmer. Was ist denn also so neu an Ihrem Produkt?“ Aha, dachte Martin, der weiß mehr als alle anderen. Aber Fragen dieser Art galten als unschicklich. Aus dem Augenwinkel sah er Miriam, die sich ein satanisches Grinsen gerade noch verkniff. Wenn ich nur wüsste, wohin dieser Typ gehörte, dachte er. Aber egal, ein langes Zögern würde nicht positiv wirken.
„Sie haben einesteils Recht, aber auch wieder nicht. Neu ist, dass unser Wirkstoff so gut wie nebenwirkungsfrei ist und keinerlei Suchtgefahr besteht. Außerdem ist seine psychische Wirkung anders. Er dämpft nicht und er regt nicht an, hat keinen Einfluss auf die Wachheit und Reaktionsfähigkeit, sondern sorgt lediglich für ein ausgeglichenes und von unangemessenen Ängsten befreites Befinden.“
„Aber wie wollen Sie dieses Wunder bewerkstelligt haben?“ Diese Frage gehörte nun eindeutig zu den Tabus. Martin blieb höflich vorsichtig.
„Nun, das ist ja gerade unser unique selling point, unser usp. Sie werden verstehen, dass wir Ihnen dies nicht im Detail darstellen können. Nur so viel: Wir haben den Wirkmechanismus des Johanniskrauts und anderer psychoaktiven Pflanzen entschlüsselt und mit bekannten Psychopharmaka, wie Ritalin oder Diazepam, also Valium, abgeglichen. Danach wurde der Wirkstoff in verschiedenen Molekülkombinationen synthetisiert. Nach dem Test der verschiedenen Varianten haben wir eine spezielle Molekülstruktur ausgewählt und voilà: Fertig war NeuroX.“ Er wusste natürlich, dass das keine befriedigende Antwort war. Dass sie während der Entwicklung mehr oder weniger herumprobiert hatten und eher zufällig auf die richtige Zusammensetzung gestoßen waren, war den Fachleuten ohnehin klar. Das Glück des Tüchtigen eben. Es gibt keine Möglichkeit, einen guten Wirkstoff zu planen oder zu designen – noch nicht und er hoffte auch nie. Wie auch immer, sie hatten die Formel für das ideale Medikament gefunden. Es wird Millionen von Menschen von Problemen befreien, die sie mit ihren negativen oder neurotischen Gefühlen haben und das ganz ohne schädliche Nebenwirkungen. Trotz der Überflutung mit audio-visuellen Eindrücken und der Dauerbelastung im Alltag werden Burn Outs, Nervenzusammenbrüche oder Depressionen bald der Vergangenheit angehören. Schließlich musste man den modernen Problemen mit modernen Mitteln begegnen.
Der Untersetzte insistierte nicht weiter, wohl, weil er wusste, dass an dieser Stelle nicht mehr herauszuholen war. Nach einigen langweiligen Fragen zu formalen Abläufen, die John beantwortete, der für die Genehmigungsprozedur verantwortlich war, wurde die Sitzung beendet. Sean, John und Paulus, der Produktionsmanager, verabredeten sich mit ihm zum Essen und dann ging man mit Schweizer Unverbindlichkeit auseinander.
Martin nahm Miriam mit und man suchte ein ruhiges Plätzchen in der hypermondänen Kantine der Bionik Health - Zentrale aus.
Man merkte Sean an, dass ihm etwas auf der Seele brannte. „Zwei Dinge möchte ich unbedingt geklärt haben“, sagte er in die Runde. „Erstens, wie können wir so schnell die Produktion hochfahren, dass unsere Ankündigungen nicht ins Leere laufen und alle drauf scharf, aber keine Pillen da sind? Das Marketing läuft unaufhaltsam und kostet mehr Geld als deine ganze Entwicklung, Martin.“
„Ich sorge schon dafür, dass das einwandfrei funktioniert. Ich fliege morgen schon nach China und dann zu den anderen Firmen in Brasilien und Südkorea, um alle restlichen Probleme aus der Welt zu schaffen. In zwei Wochen bin ich wieder da und werde allen Vollzug melden.“ Paulus gab den souveränen Profi. Ein wenig selbstgefällig, dachte Martin. Aber Paulus war wirklich gut und würde schon wissen, was er tut und sagt. Sean musste sich damit wohl oder übel zufrieden geben. Er schwieg und stocherte in seiner Pasta herum ohne aufzusehen.
„Du hattest zwei Fragen, Sean.“ Martin ahnte schon, worum es ging. Miriam sah ihn erwartungsvoll an. Ein wenig Spannung war in ihrem Ausdruck zu spüren. Für den, der sie kannte.
„Was ist mit deinen Rattentests?“
„Was soll mit denen sein? Sie sind in etwa drei Wochen abgeschlossen und das war's dann.“ Er bemühte sich, locker zu wirken.
„Ich bin zwar nur ein verachtenswerter Geldzähler, aber deswegen nicht komplett schwachsinnig. Wie so ein Projekt abläuft, weiß ich gerade noch. Rattentests sind jedenfalls in dieser Phase nicht vorgesehen. Also, bitte!“
Miriam senkte die Augen angelegentlich auf ihren Teller. Martin sandte ihr für eine Millisekunde einen vorwurfsvollen Blick zu, kaum zu bemerken für die anderen. Er war nicht interessiert, dass seine Tests Öffentlichkeit errangen, auch nicht innerhalb der Firma. Das konnte nur unnütze Zweifel und Irritationen hervorrufen. Dass Sean davon wusste, störte ihn sehr, war aber unvermeidbar gewesen. Alles was Geld kostete – und seine Tests kosteten Geld, weil sie teure Geräte benötigten – lief über Sean's Schreibtisch und Sean war penibel. Wie ein Geier schwebte er über allem, was nach Geld ausgeben roch. Und wie ein Geier fand er alles, jedes auch noch so kleine Bröckchen. Sean gehörte zu der modernen Kaste der Finanzmanager, für die Entwicklung und Produktion lediglich Kosten waren, die den shareholder value schmälerten und die man möglichst klein halten müsse. Angeblich arbeiteten erfolgreiche Firmen heute so. Martin war das zuwider, es war gegen seine Natur. Andererseits räumte er ein, dass eine Firma ohne Menschen wie Sean pleite sein könnte, bevor sie irgendetwas Nützliches zustande gebracht hätte.
„Also, die Rattentests.“ Alle einigermaßen intelligenten Anwesenden – und das waren sie alle – merkten, dass Martin Zeit brauchte, um seine Antwort zu geben. Und das allein war schon verdächtig. Er musste jetzt gut sein. Miriam sah das wohl auch so. Denn sie blickte ihn mit einer gewissen Spannung an. Wie einen Fallschirmspringer, der vorhatte, aus sehr niedriger Höhe abzuspringen. Martin fühlte sich auch so.
„Du weißt, mein Lieber, dass ich ein zutiefst misstrauischer Mensch bin, am meisten mir selbst gegenüber. Alle objektiven Resultate, Analysen, Studien und Tests sind völlig ohne Makel und ich kann meine Hand dafür ins Feuer legen. Ich war nur neugierig. Das haben die Naturwissenschaftler so an sich. Du kannst Dir das nicht vorstellen, weil du anders tickst. Vergleiche es am besten mit deinem Drang, vor allen anderen Menschen die Börsenkurse zu wissen. Aber das ist ein schlechtes Bild und ich schweife ab.“ Er nannte sich einen Narren, weil die Antwort ausgemachtes Gefasel war. Alle sahen ihn lediglich an, mitleidlos, wie er zu spüren glaubte.
„In der Tat“, bemerkte Sean trocken.
„Ich habe mir die Freiheit herausgenommen, noch etwas von deinem wertvollen Geld auszugeben, um meine persönliche Neugier zu befriedigen.“ Das war schon besser, weil es aufrichtig klang und vom Eigentlichen ablenkte. Ein alter Politikertrick: Man gibt eine kleine Schwäche zu und verschleiert damit den wunden Punkt. Es wirkte auch schon, weil Sean jetzt sein Gönnergesicht aufgesetzt hatte mit dem Unterton des mitleidigen Verständnisses für den weltfremden, aber nützlichen Spinner, für den er Martin bei aller Sympathie in Wahrheit hielt.
„Es hat mich interessiert, wo bestimmte neuronale Reize auf wiederkehrende Eindrücke im Gehirn zu finden sind und ob es eine eindeutige Beziehung zwischen Art des Eindrucks und Ort der neuronalen Aktivität gibt. Dazu habe ich das MRT benutzt. Auf den Menschen übertragen, wäre das die Frage, ob, wenn er an ein Steak denkt, es immer an der gleichen Stelle im Gehirn quasi aufleuchtet oder mit noch anderen Worten: Wo ist das Wort 'Steak' mit allen Assoziationen wie Geschmack, 'armes Rindvieh' usw. gespeichert. Du verstehst?“
„Das ist ja nicht so schwer. Aber was hat das mit unserem Produkt zu tun?“
„Erst einmal gar nichts. Diese Frage ist eine der grundsätzlichen Fragen der Gehirnforschung und gehörte zugegebenermaßen besser an eine Universität, wo nicht wirtschaftlich gearbeitet werden sollte. Ich wollte aber wissen, ob unser Mittel diese Zuordnung beeinflusst.“ Er sah das unterschiedlich starke Erschrecken seiner Gesprächspartner, je nachdem wie weit sie die Konsequenz begriffen hatten. Also Vorsicht jetzt.
„Das Ergebnis ist ganz erstaunlich und erfreulich und auch beabsichtigt. Alle beunruhigenden oder gar Angst erzeugenden Außenreize führen zu einer abgeschwächten Aktivität in den entsprechenden Arealen. Das heißt, sie haben weniger Angst und Stress, die Ratten. Meine Ratten sind sozusagen die glücklichsten Ratten der Welt. Ich weiß, dass sich das nicht ohne weiteres auf den Menschen übertragen lässt. Aber da das Ergebnis so positiv ist, finde ich das sehr beruhigend. Fast, als ob ich das Mittel selbst geschluckt hätte.“
„Na hoffentlich ist das nicht der Fall und trübt deine Urteilsfähigkeit.“ Sean war jetzt entspannter. Das lag auch daran, dass er keine Lust auf ungute Gefühle hatte und sich entschied, das alles als kleine und harmlose Spinnerei einzuordnen, die bei den zu erwartenden Gewinnen auch kostenmäßig nicht ins Gewicht fiel. Sean ließ sich ungern vom Wesentlichen ablenken.
Wieder im Labor, holte Martin für Miriam und sich einen Kaffee und sie setzten sich in die kleine und gemütliche Besprechungsecke, mit den alten Holzstühlen und dem großen Fenster nach Süden. Schweigend erforschte jeder für sich die Details des Pilatusgipfels in der Mittagssonne.
„Das war alles?“ Miriam unterbrach die Stille.
„Natürlich nicht.“
„Also?“
„Sagen wir es einmal so: Ich habe schon ein gutes Gefühl. Aber irgendetwas sagt mir, dass ich noch nicht alles gemacht habe, was möglich ist. Es hat damit zu tun, dass ich wissen wollte, wie nachhaltig die Veränderungen im Gehirn sind, wenn man das Mittel längere Zeit genommen hat. Es sieht so aus, als ob die Erscheinungen schnell wieder verschwinden. Dazu wollte ich aber mit unseren lieben kleinen Tierchen noch ein wenig herumprobieren. Aber sie haben mir keinen weiteren Test genehmigt. Sie waren sogar etwas ungehalten und meinten, es müsse einmal auch gut sein. Es gäbe keinen Fehler in den vorgeschriebenen Prozeduren, die Ergebnisse seien blendend und jetzt wird produziert, basta. Ich hätte genug anderes zu tun und solle mich auf das neue Projekt konzentrieren. In ein paar Jahren würden wir dringend einen neuen Knüller benötigen. Und, was soll ich sagen: Sie haben wahrscheinlich Recht. Ich hänge schon viel zu lange an diesem Projekt. Also werde ich jetzt sofort loslassen, ein gutes Gewissen haben und mich auf das Neue freuen.“
„Solltest du dich tatsächlich ein wenig geändert haben? Das wäre erfreulich, weil du sonst komplett in deinem eigenen Hamsterrad eingesperrt bleibst und unerträglich penetrant wirst.“ Es klang schon ein bisschen wie mütterliche Fürsorge, was Miriam da von sich gab. Er musste sich eingestehen, dass Miriams Ermahnung ihm gut tat und erheblich zu seiner Entspannung beitrug. Er fühlte sich zum ersten Mal seit Langem wohl, ja für ein paar Sekunden sogar glücklich. Er hatte Großes geleistet und das war jetzt abgeschlossen.
Er entschied sich sogar, den Rest des Tages freizunehmen. Das hatte er in den letzten Jahren niemals gemacht. Es war erst Mittag und der Tag war damit noch ausreichend, um etwas richtig Schönes zu tun. Er hatte doch ein einmaliges Hobby und die Möglichkeit dazu: Fliegen. Beim Fliegen und beim einsamen Wandern konnte er am besten klar denken. In Buochs stand seine Pilatus PC6, jedenfalls stand sie da vor einem Jahr. Fliegen wollte er schon immer, schon als Kind hatte er sich aus Stühlen Flugzeuge gebaut und konnte stundenlang die Welt umrunden. Seine Eltern hatten schon Sorge, dass er merkwürdig oder gar autistisch wäre. Er hatte vor etlichen Jahren seine Privatpilotenlizenz erworben und sie in den letzten Jahren durch sehr knappes Erreichen der jährlichen Mindestflugstunden nicht verloren. Spontan hatte er sich damals das gebrauchte Flugzeug gekauft. So wie es blendend weiß mit roten Streifen dastand, erkannte er klar und deutlich: Das will zu mir. Außerdem war er stolz, ein Flugzeug zu erwerben, das vorher einer der berühmten Schweizer Rettungspiloten geflogen hatte. Sogar die Skis für das Fahrwerk und Schwimmer waren mit dabei gewesen. Er hatte damals keine Ahnung, ob er es sich leisten konnte. Aber die Luzerner Kantonalbank hatte den Betrag ohne Nachfrage an Pilatus Aircraft überwiesen und auch nicht gezuckt, als er den teuren Wartungsvertrag abgeschlossen und den Hangarstellplatz gemietet hatte. Also war da wohl genug Geld. Martin hatte nicht das geringste Interesse an Geld und freute sich nur, dass so etwas durch seine Tätigkeit bei Bionik Health ermöglicht wurde. Er zahlte auch alle anderen Ausgaben so gut wie nie mit Bargeld, sondern nur mit Karte. Sie war für ihn der Goldesel, der ihm immer und klaglos das ermöglichte, was er gerade wollte. Nicht, dass er einen aufwändigen Lebensstil führte. Er lebte ziemlich zurückgezogen in seinem sonnigen Appartement in Stansstad am Bürgenstock, aß wenig, trank so gut wie nicht und veranstaltete keine Partys. Smalltalk war ihm ohnehin zuwider und strengte ihn außerdem mehr an als seine Arbeit. Mit seinem Auto pflegte er das berühmte Baseler Understatement, bei dem sogar der Vorstandsvorsitzende mit einem Subaru Justy in die Firma fuhr. Genau dieses Auto war perfekt für ihn und diese Gegend. Wichtig war nur der Allradantrieb und die Zuverlässigkeit.
Es waren bei normalem Verkehr fünfzehn Minuten Fahrt zu seinem Appartement. Auch ein Porsche hätte ihn nicht schneller ans Ziel gebracht. Post war noch keine da, was er sehr angenehm empfand, da er auch Störungen durch Briefe jeder Art hasste. Die einzige Kommunikation, die er akzeptieren konnte, waren Emails. Hier bestimmte er den Zeitpunkt, überwand sich einmal am Tag und schaute sie alle an, beantwortete sie sofort und schaltete dann wieder zurück in seinen eigenen, freien Gehirnmodus. Bisher hatte er sich auch konsequent geweigert, ein Wischtelefon zu benutzen. Er bedauerte die Sklaven der modernen Kommunikation zutiefst. Durch das Marketing konditioniert, fühlten sie sich wertlos und unwichtig, wenn sie nicht dauernd auf das smarte Gerät glotzten und scheinbar immer aktuell mit der Welt verbunden waren. Auch dachte er bei den ersten Begegnungen mit solchen Menschen, dass die Zahl der paranoiden Selbstgespräche drastisch zugenommen habe. Bis er merkte, dass diese Erscheinung das war, was man früher telefonieren nannte. Der klobige Hörer ließ vormals diese Tätigkeit klar erkennen. Der Knopf im Ohr war weitgehend unsichtbar, was die Begegnung mit solchen Menschen sehr merkwürdig machte. Zeit zum Denken konnten die ohnehin nicht haben. Und sie merkten gar nicht, dass all die Geräte, die angeblich Zeit sparen und die Effizienz erhöhen sollten, ihnen alle Zeit bis auf die letzte private Sekunde raubten, sie rund um die Uhr zu Sklaven ihrer Arbeitgeber oder Kunden machten, die wiederum fälschlicherweise dachten, sie könnten aus den Menschen mehr herausholen und dabei nicht berücksichtigten, dass gedankenfreie Menschen nichts brachten, egal wie lange man sie zur Verfügung hatte. Er selbst hatte schon auch ein Handy und sah den Nutzen darin, keine verdreckte Telefonzelle suchen zu müssen, nicht auf den Anruf verzichten zu müssen, wenn er kein Kleingeld oder keine Telefonkarte zur Verfügung hatte, sich im Ernstfall von überall bemerkbar machen zu können oder, wenn er einen Anruf erwartete, nicht an den vom Anrufer erwarteten Aufenthaltsort gebunden zu sein.
Er zog sich um. Es war wie das Ablegen seiner Firmenpersönlichkeit und das Wiederaufnehmen seines eigentlichen Ichs. Jeans und Polohemd passten besser zu ihm als Anzug, feines Hemd und Krawatte. Seine Art zu denken änderte das nicht, aber die vielen Verhaltensweisen und Verstellungen, die er Industrieschauspielerei nannte, und ohne die eine Zusammenarbeit unterschiedlicher Menschen wahrscheinlich nicht möglich wäre, konnte er jetzt beiseite legen. Er durfte selbst entscheiden, ob und mit wem er über was reden wollte. Er brauchte nicht alle politischen und sozialen Zusammenhänge zu berücksichtigen, wenn er etwas sagte, weil er in seiner freien Zeit möglichst nur mit Leuten redete, von denen er nicht abhängig war. Und wenn er Lust hatte, ein Gespräch zu beenden, so tat er das.
Sein Magen meldete Nahrungsmittelbedarf. Im Kühlschrank fand er ein Glas mit einem Krabbencocktail. Knäckebrot war auch da und Kaffee ließ sich gerade noch selbst machen. Er grinste ein wenig über die Zusammenstellung. Aber auch das empfand er als Freiheit. Essen, nur orientiert an der Randbedingung, was erreichbar war und was er davon gerade am liebsten wollte. Ehrlich war diese Freiheit nicht, denn er vergaß gerne, dass sie nur möglich war, weil eine fleißige und freundliche Haushälterin unauffällig alles in Ordnung hielt und die Dinge herbeischaffte, von denen sie nach Jahren zu wissen glaubte, dass er sie schätzte.
Von seinem Sofa aus sah er rechts das Ufer des Sees und das Strandbad mit vielen beweglichen bunten Punkten. Es war Hochsaison und Kaiserwetter und alles war gut. Als er aufwachte, war es schon halb vier. Erschrocken fuhr er hoch. Aber halt: Er hatte frei, niemand und nichts war ein echter Grund zu erschrecken. Er setzte sich wieder. Dann schätzte er ab, ob noch Zeit für einen Rundflug war, sein ursprüngliches Vorhaben. Zehn Minuten bis zum Flughafen, eine halbe Stunde, um alles klar zu machen, also kein Problem. Sonnenbrille und Jacke, mehr benötigte er nicht, dann fuhr er los.
Am Hangar sah er schon von weitem die riesige Gestalt von Urs. Alle Schweizer aus der zentralen Schweiz hießen Urs oder Beat. Und Urs war ein zentraler Schweizer. Da er für viele reiche Leute die Flugzeuge in Schuss hielt, hatte er sich angewöhnt, hochdeutsch oder englisch zu sprechen. Andernfalls hätte ihn selbst Martin nicht verstanden, obwohl er schon lange in der Schweiz lebte. Das Schweizerisch wurde in der Linie zwischen Zürich, Bern und Wallis von Kilometer zu Kilometer unverständlicher. Und bereits in der Zentralschweiz, also den Kantonen Schwyz, Uri oder wie hier Nidwalden war es schon eine echte Herausforderung zu kommunizieren.
Ein angenehm anheimelndes Gefühl überkam Martin. Nicht nur, dass er die herzliche Art von Urs sehr schätzte, sondern er verband mit ihm alles, was er an der Schweiz liebte. Mögen seine deutschen Landsleute schimpfen wie sie wollten. Eine so dichte Vielfalt von Naturschönheiten gibt es wohl nirgends auf der Welt. Und dass Deutsche das Steuerzahlen vermieden, war doch nicht der Fehler der Schweizer und überhaupt: Steuern zahlen in der Schweiz, ein Traum. Nicht wegen des günstigen Steuersatzes, der war ihm eigentlich egal, sondern weil er sich nicht darum zu kümmern brauchte. So unglaublich es für einen Deutschen klingen mag, die Wohngemeinde machte für ihn die Steuererklärung – völlig kostenlos. Gut, mit einem Steuerberater könnte man noch etwas mehr herausholen, aber bei den lächerlichen zehn Prozent, die er zahlen musste, lohnte die Mühe nicht. Das einzige, was ihn störte, war, dass er noch kein Schweizer sein durfte. Er hatte die sogenannte befristete B-Genehmigung, die es ihm gestattete, hier zu wohnen, solange er Arbeit hatte. Er musste erst begreifen, dass es gar keine Schweizer Staatsbürgerschaft im üblichen Sinne gab. Eine Gemeinde musste den Menschen als Bürger aufnehmen und sie war für alle seine sozialen Bedürfnisse verantwortlich. Diese Heimatgemeinde musste nicht die Gemeinde sein, in der er wohnte und arbeitete. Nicht leicht zu begreifen, aber unglaublich menschenfreundlich und praktisch. Dass die Aufnahme an Bedingungen gebunden war, die nicht in einem Gesetz standen, sondern im Regelfall eher etwas mit Geld oder Berühmtheit - am besten beides - zu tun hatten, ignorierte er. Das etwas schwer durchschaubare System erinnerte ihn an eine zurückliegende Merkwürdigkeit. Seine damalige Lebensgefährtin Susanne beschloss zu ihm zu ziehen. Eine Aufenthaltsgenehmigung war nicht zu bekommen. Aber sie konnte ja als Urlaubsgast bei ihm ohne weiteres wohnen. Er hatte noch sein Auto aus Deutschland mit deutschem Kennzeichen. Dann lernte er, dass es nicht erlaubt sei als Mensch mit Schweizer B-Genehmigung ein deutsches Auto zu besitzen. Also vermachte er das Auto Susanne. Jetzt war alles rechtens, weil sie als Gast ja mit ihrem Auto fahren durfte. Dann wollte er für sie ein zweites Auto haben und kaufte es. Was er nicht bedachte, war, dass er dieses Auto zwar besitzen, aber ohne Schweizer Führerschein nicht fahren durfte. Susanne durfte es aber, sie lieh sich das Auto ja von Martin. Er wiederum durfte sich sein altes Auto von Susanne leihen, weil es ihm nicht gehörte. Klingt ein wenig schräg und ist es wohl auch, hatte aber eine gewisse Logik und irgendwie sympathisch war es auch. Im Ausarbeiten ausgeklügelter Gesetzte und Verordnungen sind die Schweizer sogar noch den Deutschen haushoch überlegen. Seit zweieinhalb Jahren war Susanne wieder in Deutschland, sein altes Auto auch, er hatte mittlerweile den Schweizer Führerschein und konnte jetzt sein eigenes Auto fahren.
Urs begrüßte ihn herzlich wie immer – das letzte Mal vor einem Jahr.
„Wie is' es Martin, hast du eine gute Zeit gehabt?“
„Alles bestens, mein Lieber. Und bei dir?“
„Ist schon gut alles. Willst Deinen Vogel sehen, oder?“
„Ich hab' ja ein schlechtes Gewissen, hab' mich lange Zeit nicht drum gekümmert. Geht es ihm gut?“
„Aber natürlich. Hier verkommt nichts und was ist schon lang. Komm mit!“
Da stand die PC6 und wirkte auf Martin geradezu erwartungsvoll, als ob sie sagen wollte: Na endlich, kann's losgehen? Es war eine merkwürdige Eigenart von Martin, in allen Gegenständen, vor allem so schönen und komplexen, eine Seele zu vermuten. Er tätschelte die Haut seines Fliegers und sagte tatsächlich laut: „Ist schon gut, ich bin da und wir machen jetzt was“. Urs war davon keineswegs komisch berührt. Vielleicht kannte er zu viele spleenige Menschen, um sich noch zu wundern. Oder er sah es genauso wie Martin.
Martin enterte das Cockpit, sah mit Freude die vertrauten Instrumente und Hebel und erweckte sie zum Leben, ging die Checkliste durch und nickte Urs anerkennend zu. Urs streckte beide Arme aus und hielt den Kopf schief, als wollte er sagen: Was hast du denn erwartet?
Keuchend drehte der Anlasser die silberne Luftschraube ein paar Mal um und sofort sprang der Motor mit metallischem Knattern an. Nach wenigen Sekunden wurde der Lauf gleichmäßig, ohrenbetäubend im offenen Cockpit. Er spürte den Wind, wie er am Rumpf vorbei wirbelte und die Flügel erzittern ließ. Eine unglaubliches Gefühl der eigenen Stärke und Überlegenheit. Er schloss die Tür und gleich wurde es deutlich leiser. Dann fiel ihm ein, dass er keinen Flug angemeldet hatte. Er setzte sich den Kopfhörer auf und funkte den Tower an.
„Was gibt’s Martin?“ Hier war kein internationaler Großflughafen, sondern ein familiärer Betrieb. Es gab auch kein ILS, also kein Instrumenten-Lande-System, die Piloten mussten schon selber fliegen und landen können.
„Kann ich einen Rundflug machen? Ich würde gerne über Andermatt und um die Jungfrau und dann über den Sarner See wieder zurückkommen. Höchstens eine halbe bis Dreiviertelstunde.“
„Lass mal sehen...Geht klar, Martin, um die Zeit kommt keiner. Aber bleibe unter 3500 Meter. Wetter und Sicht sind perfekt. Du hast die Startfreigabe, aber flieg gleich los, sonst gibt’s Konkurrenz.“
Ja, dachte Martin, so geht’s auch. Schon dass er nicht formal und englisch mit dem Tower sprechen musste, empfand er als angenehm und anheimelnd. Er nullte den barometrischen Höhenmesser, obgleich er den gar nicht brauchte. Seit auch im Fliegen das GPS Einzug gehalten hat, war Navigation auch hier keine Kunst mehr, sondern nur eine Frage des Hinschauens und Vertrauens in die Computertechnik. Wie ein alter Hase prüfte er noch einmal die Querruder, Höhen- und Seitenruder und betätigte die Bremsen, um den Druck zu spüren, dann zeigte er Urs Daumenhoch, der ihm grinsend genauso antwortete, schob den Schubhebel ein wenig nach vorne und steuerte mit dem Seitenruder sein Flugzeug zur Startbahn. Wegen des leichten Ostwinds war der Start einfacher, weil er über den See verlief und keine Erhebungen in unmittelbarer Nähe waren. Den Schubhebel ganz vorne, setzte sich die PC6 rüttelnd in Bewegung. Fast ohne Seitenwind ging alles wie von selbst. Er ließ das Seitenruder frei und schon nach zweihundert Metern war die Abhebegeschwindigkeit erreicht und damit genug Strömung um den Flügel, um das ganze Flugzeug samt seiner Fracht zu tragen. Ein ganz geringer Zug am Steuerknüppel und augenblicklich war das lästige Rattern der Piste verschwunden. Das Flugzeug schwamm weich über den Boden hinweg und schon sah er vor sich den See. Kurz darauf kam der Augenblick, den er immer wieder beunruhigend fand. Die schnelle Bewegung der Erde unter ihm wurde aufreizend langsam, als ob das Flugzeug stehen bleiben wollte. Die Instrumente teilten ihm aber Beruhigendes mit. Außerdem wusste er, das das nur eine Täuschung des visuellen Eindrucks in seinem Gehirn war, ein Effekt der optischen Geometrie. Mit einem leichten Seitwärtsdruck auf den Knüppel und ein bisschen Anziehen betätigte er die Querruder und ein wenig das Höhenruder, was zur Folge hatte, dass sich seine Maschine nach rechts neigte und eine weite Kurve beschrieb. Jetzt war er in seinem Element.
Das Tal der Reuss glitt unter ihm hinweg und er sah bald den bekannten Grundriss von Andermatt, der gerade durch Baumaßnahmen eines orientalischen Scheichs stark verändert wurde. Jetzt musste er ein wenig konzentriert die Rechtskurve einleiten, um das Seitental zu finden, dass ihn zum Furkapass führen sollte. Er sah den Talort Galenstock und die Furkastrasse, die sich anmutig am Berghang knapp unter der Schneegrenze hinschlängelte. Den Sattel an der Furkapasshöhe überquerte er in niedriger Flughöhe und gleich danach fiel das Gelände steil ab. Dieser Augenblick war atemberaubend und erinnerte ihn an eine wunderschöne Szene aus Jenseits von Afrika, wo Robert Redford Meryl Streep damit verzauberte. Er beschloss nun, einfach geradeaus zu fliegen und musste dafür aber kräftig steigen. Er sah halb links den Totensee, dann den Oberaarsee mit seinen beiden Gletscherzungen und links das Finsteraarhorn, mit 4274 Metern der höchste und unheimlichste Berg der Berner Alpen. Er wollte es links liegen lassen und musste dafür auf fast 4000 Meter steigen, um den Sattel zu überwinden. Das war eine Höhe, die im nicht besonders gut bekommen würde. Die PC6 hatte keine Druckkabine. Er fühlte sich mulmig, aber mehr, weil er es schon erwartete und ließ sich gleich danach wieder einige Hundert Meter fallen. Unmittelbar befand er sich in einer anderen Welt mit scharfen, dunklen Felsspitzen, gleißendem Schnee und zerklüfteten Eisbrüchen, lebensfeindlich und großartig. Er näherte sich dem grauen Band des Aletschgletschers und folgte ihm nach oben. Ein starker Drang stieg in ihm auf, hier zu landen. Aber er hatte die Ski nicht angebracht und außerdem war er noch nie auf einem Gletscher gelandet. Seine Vernunft sagte ihm, dass er das auch lieber lassen sollte.
Am Konkordiaplatz und dem Ewigschneefeld tummelten sich viele kleine Punkte. Menschen, die mit der Jungfraubahn die Höhe erklommen hatten und die Touristenattraktion auslebten. Er fragte sich, ob die sich alle in der Höhe wirklich wohl fühlten. Aber wieder heil unten angekommen, würden sie einen Grund zum ausgelassenen Feiern haben. Er musste noch einmal nach oben. Es schien ihm, als ob er die Station am Jungfraujoch fast streifen würde, dann fiel der Berg wieder jäh ab. Noch einmal dieses unglaubliche Gefühl. Vor ihm und unter ihm die kleine Scheidegg, der Männlichen und dahinter schon der Thuner See. Rechts die Eigernordwand, die in ihm ein Gefühl des Grauens hervorrief.
Sein Vater, der selbst Flieger war, hatte ihm immer gesagt, es gäbe Flieger und Fußgänger. Er hatte nur ein paar Hebel zu betätigen, um all die Schönheit in ein paar Minuten ohne die geringste Anstrengung zu genießen. Die normalen Menschen mussten gehen, steigen, klettern, schwitzen, leiden, um nur einen Bruchteil davon in vielen anstrengenden Stunden wahrnehmen zu können. Er musste aber zugeben, dass das Gefühl „danach“ bei den Fußgängern sicher wesentlich euphorischer war als seines, wenn sie es ohne Schäden erleben konnten. Erst einmal schämte er sich nicht seines Privilegs und stürzte sich, immer schneller werdend auf Interlaken herunter. Er sank bewusst bis auf 600 Meter, um über den Brienzer See so niedrig wie möglich zu rasen. Von hier musste er links das Seitental erwischen, das zum Lungerer See und dann über den Sarner See nach Hause führte. Um sich einen Überblick zu verschaffen, stieg er wieder auf 1200 Meter. Er vermied es bewusst, auf die bunte Landkarte seines Garmin-GPS zu schauen, die ihm, ohne Blick nach außen, mitgeteilt hätte, wo er sich augenblicklich befand. Er wollte nach alter Art und Sicht navigieren. Der See vor ihm hätte schon der Lungerer See sein müssen. Er sah heute aber wesentlich kleiner aus. Auch das Tal hatte sich verändert. Also verflogen und das, obwohl er die Gegend gut kannte. Alle Berge sahen gleich aus. Er war nicht beunruhigt, er brauchte ja nur das GPS anzuschauen. Das verbot ihm aber sein Ehrgeiz. Er war wohl zu weit nach Osten geraten. Also ein Linksschwenk nach Norden und dann sehen, ob er etwas Bekanntes entdecken würde. Nach kurzer Zeit sah er die Umrisse des Sarner Sees links und des Alpnacher See rechts. Also alles bestens. Er war stolz und flog in einer leichten Rechtskurve ins Tal und steuerte direkt auf eine Flugzeugpiste zu. Er wusste genau, was es war und simulierte einen Anflug, gab aber dann wieder Gas und flog darüber hinweg. Er freute sich diebisch, dass er garantiert von den Wachhabenden des Militärflugplatzes Alpnach entdeckt wurde und vielleicht ein Zucken zum Knopf der Alarmanlage ausgelöst hatte. Alles blieb ruhig. Kein Alarmstart von Abfangjägern, nichts rührte sich. Aber er hätte es auch gar nicht mehr sehen können, denn er musste eine scharfe Rechts-Links-Kombination um einen Hügel fliegen, um die kurze Piste von Buochs gerade anzufliegen. Wie immer kam ihm die Piste viel zu klein vor und er sich viel zu hoch, um zu treffen. Aber es gelang auch heute und er rollte gelassen zu seinem Hangar zurück. Nicht viel los, zwei Cessna Citation Business Jets standen auf Parkposition und einige kleine einmotorige Privatflugzeuge. Kein Mensch war zu sehen. Er tauschte mit Urs den Platz, der sein Flugzeug sicher in den Hangar bugsierte.
„Das wird nicht mehr lange so gehen.“
„Was meinst du?“ Martin hatte keine Ahnung, was Urs sagen wollte. Hatte sich das Militär schon beschwert?
„So gemütlich wie jetzt bleibt's nicht mehr. Deine Firma will uns als Business-Drehscheibe nutzen. Deine Chefs haben keine Lust mehr, immer erst mit dem Auto nach Bern oder Zürich zu fahren. Sie haben sich schon zwei neue Business Jets bestellt und hier wird alles umgebaut, mit Startbahnverlängerung, ILS und allem was dazu gehört. Auch der Tower wird mit neuen Leuten besetzt. Professionelle Flugsicherer, weißt schon.“
„Woher weißt du das, so plötzlich?“
„Es kam gerade ein Rundschreiben. Ich denke mal, ich kann bleiben, aber für viele wird alles anders. Und nicht gerade besser.“
„Du meinst, dass mein Flug eben dann auch nicht mehr so geht?“ Martin ahnte nichts Gutes.
„Ganz bestimmt nicht so“, grinste Urs, „Da brauchst du schon erst eine Anmeldung ein paar Tage vorher mit genauer Bezeichnung der Route und des Grundes und alles wird auf Einhaltung der Regeln überwacht werden.“ Er grinste Martin dabei verschwörerisch an. Als ob er wusste, dass Martin so ziemlich alles gemacht hatte, was unerlaubt war.
„Das war's also dann mit der Freiheit über den Wolken. So ein Mist.“
„Genau so ist es. Alles wird perfekter, und alles wird enger. Das ist der Lauf der Zeit.“
Als Martin nach Hause fuhr, konnte er das glückliche Gefühl über sein Flugerlebnis nicht aufrecht halten. Sogar der Himmel schien sich einzutrüben. Aber es war nur, weil die Sonne hinter den Bergen verschwunden war.