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Zwei
ОглавлениеWeihnachten in Luzern. Ein Traum in Licht, Zuckerguss, Zimt, Weihrauch, Bratwürstchen und freundlichen, geschäftigen Menschen. Und leise rieselte der Schnee, tagelang und unaufhörlich. Was zur Folge hatte, dass der Verkehr zusammenbrach und Martin mehr als eine Stunde bis zum farbenfroh illuminierten Kristallpalast benötigte, nur um auf Menschen zu treffen, die entspannt bis überschwänglich lustig waren und die Arbeit Arbeit sein ließen. Das bunte Völkergemisch der Firma führte zu unterschiedlichen Auffassungen über den Sinn des Weihnachtsfests. Und wäre nicht allgemeiner Weihnachtsfriede hätte es wohl auch Spannungen gegeben. Wenigstens führte der stockende Verkehr dazu, dass es mittlerweile halb elf war und Martins wahrer Geist unter die äußere Hülle geschlüpft war. Miriam war im angeregten Gespräch mit einigen bedeutenden Hierarchen, die er nur vom Sehen oder von einigen wenigen Besprechungen wiedererkannte. Er war froh, dass es unhöflich gewesen wäre zu stören und verkroch sich in eine Ecke in der Hoffnung, dem unvermeidlichen Weihnachtspunsch zu entgehen. Eine Nikolausmütze mit hübschem Allerweltsgesicht, das er schon einmal gesehen hatte oder auch nicht, drückte ihm ein Glas in die Hand. Mechanisch prostete er ihr zu und konnte bereits nach dem ersten Schluck den Aufenthaltsort seiner Magenschleimhäute präzise orten. Gut, dass er sich rechtzeitig mit Tabletten gegen Sodbrennen eingedeckt hatte.
Das unvermeidbare Wiederkehren dieser sogenannten, stillen Zeit hatte er oft genug erlebt, um es noch zu genießen. Vor allem waren seine Erinnerungen daran überwiegend negativ. Nicht nur, dass Susanne sich, einem Naturgesetz folgend, genau in dieser Zeit mit ihm endgültig verkracht hatte. Er wollte nämlich gerade die sich eröffnende Zeit nutzen, um eine Idee auszuarbeiten, die die Welt retten würde und sie kam an seinen Schreibtisch und meinte, dass doch jetzt eine gute Gelegenheit wäre, die Mülleimer gründlich sauber zu machen. Viel prägender für ihn war, dass in früheren Zeiten die weihnachtliche Ruhe und Besinnung immer mit vollständiger seelischer und körperlicher Erschöpfung begann. Alle Firmen freuten sich so sehr auf Weihnachten, dass sie auch alles dafür taten, dass keine Sorgen und liegengebliebenen Arbeiten den Genuss der feierlichen Zeit schmälerten. Was mit steter Regelmäßigkeit zu einer jedes vernünftige Maß überschreitenden Hektik und in den kollektiven Burn Out führte. Es muss als ein gesellschaftlich evolutionärer Fortschritt bewertet werden, dass die meisten Firmen dazu übergegangen waren, das Geschäftsjahr nicht mit dem Kalenderjahr zusammenfallen zu lassen. Für Martin war diese Erleichterung jedoch kein essentieller Vorteil. Die fehlende Hektik wurde jetzt durch ausgiebige Weihnachtsfeiern auf jeder organisatorischen Ebene und für jede Projektgruppierung substituiert. Da der Smalltalk auf seiner Negativliste sehr weit oben stand, ergab sich für ihn keine Verbesserung.
Mittlerweile waren alle sehr lustig, auch die dem traditionell besinnlichen Volksstamm Angehörenden, so dass er völlig unbemerkt das Weite suchen konnte. Er ging durch die verschneiten Wege hinauf zur Museggmauer und vorbei an den berühmten Türmen. Von nächtlicher Illumination verstanden die Schweizer etwas und zusammen mit den tief verschneit herabhängenden Ästen, die um jeden Baum kleine Zwergen- und Feenhäuschen gebaut hatten, ergab sich ein Bild von solcher Schönheit, dass es ihm schon fast peinlich war, wie sehr es ihn berührte. Ich kann eigentlich ganz zufrieden sein, dachte er und bemerkte gar nicht, wie die äußere Schönheit und Stille Einfluss auf sein Denken nahmen. Ich habe einen wunderbaren Job, NeuroX' Gewinne steigen stetig, steil und anscheinend unaufhaltsam, meine Wohnung ist für mich ideal und ich habe keine materiellen Sorgen. Und dass Agathe ihn jetzt regelmäßig besuchte, ja beinahe bei ihm wohnte, war eine wunderbare Sache. Sie konnte kommen und gehen, wann sie wollte und tat das auch. Genau das war für ihn die richtige Beziehung. Wenn sie da war, trug sie erheblich zur Gemütlichkeit bei und wenn sie weg war, freute er sich auf ihr baldiges Kommen.
In der Delikatessenabteilung von Globus kaufte er verschiedene Sorten von feinem Fisch, schon fertig zubereitet. Durch die Anwesenheit von Agathe konnte er es sich, was das Essen betraf, nicht mehr so leicht machen. Sie war deutlich anspruchsvoller als er. Als er endlich nach Hause kam, wurde er bereits erwartet. Sie saß auf dem Sofa und sah ihn mit ihren klaren Bernsteinaugen erwartungsvoll an. Als er gerade für sie beide zwei Teller mit den Köstlichkeiten dekoriert hatte, läutete es. „Hallo Agathe, hallo Martin“, sagte Miriam und setzte sich dazu. Agathe war es gleich. Eifersucht war ihr fremd, wenn das Essen stimmte.
Miriam besuchte ihn sehr selten, also gab es einen Grund. Er teilte seinen Teller mit ihr und holte eine Flasche Fendant hervor. Zur Feier des Tages. Agathe war fertig, setzte sich neben sie und lauschte.
„Ich muss dir noch etwas sagen.“ Aha.
„?“
„Am Freitag, als du in Basel warst, ist uns ein USB-Stick abhanden gekommen. Wir haben zwei Stunden gesucht, aber nichts gefunden.“
„Was war drauf und wer hat gesucht?“
„Was drauf war, weiß ich nicht so genau, aber es war der Stick mit dem du auch Sicherheitskopien gemacht hast.“
Martin vertraute nämlich nie den zweifellos umfangreichen Sicherungs - und Back up - Aktivitäten der IT-Abteilung. Am liebsten hätte er alles auf Papier ausgedruckt. Ohne seine private Sicherung wenigstens auf dem Stick, fühlte er sich nicht wohl. Es wurde nicht gerne gesehen, weil ein Stick einfach alle Sicherheitssysteme unterläuft und die Weitergabe von Daten so gut wie nicht kontrollierbar macht. Aber fast jeder machte es so. Private Bilder, you tube - Filme, wichtige Firmendaten, alles wurde auf so einem Stick gespeichert. Vor allem, weil mittlerweile riesige Datenmengen auf das kleine Ding passten. Aus Sicherheitsaspekten war das eine einzige Katastrophe.
„Mist. Wer weiß davon?“
„Nur ich und die beiden im Labor. August war richtig blass. Frank war cooler, wohl weil er sich als Neuling nicht ganz so betroffen fühlte.“
„Habt ihr auch gründlich gesucht?“
Miriam verdrehte die Augen zur Decke. „Zwei Stunden und alles abgesucht. Er ist weg.“
„Nochmal Mist. Da waren auch die letzten Testergebnisse drauf.“
„Da kann doch keiner etwas damit anfangen. Das war doch nichts Fertiges.“
„Stimmt schon. Aber ärgerlich ist es allemal.“ Für Martin sah es so aus, als ob Miriam in ihrem kleinen Schwarzen und in ihrer schwarzen Strumpfhose geschrumpft wäre. Sie tat ihm leid.
„Jetzt sind erst einmal Feiertage. Da können wir sowieso nichts machen. Also entspannen wir uns. Was machst du eigentlich die nächsten Tage?“ Er wusste, dass Miriam genauso wie er ein Single - Dasein führte.
„Gar nichts. Zu meinen Leuten mag ich nicht fahren. Berlin ist mir zu weit. Und überhaupt, der ganze Weihnachtsstress geht mir auf den Geist.“
„Hast du Lust, mit mir zum Skifahren zu gehen? Ich habe ein Appartement in Sörenberg gemietet. Ich weiß, Sörenberg ist für dich Skiass viel zu langweilig, aber vielleicht kannst du dich herablassen.“
„Sörenberg wäre prima.“ Beide mussten lachen. „Aber was machst du mit Agathe? Sie hat sich daran gewöhnt, dass du für sie alles fein machst.“
„Ach, ich frag' meine Nachbarin aus dem ersten Stock. Da hat sie's auch gut und es ist ja nur für ein paar Tage. Unangenehme Dinge muss man gleich erledigen. Ich frag' sie mal.“
Er klingelte und hörte schlurfende Schritte. Frau Egli machte mit unwilligem Gesicht auf. Es erhellte sich sofort, als sie Martin sah.
„Ah, der Herr Nachbar. Wie geht’s denn so? Was verschafft mir die Ehre? Fehlt Ihnen was? Ich habe gut eingekauft.“
„Nein, nein, alles bestens. Ich wollte sie nur fragen, ob sie Agathe für ein paar Tage verköstigen könnten, weil ich nicht da bin und sie vielleicht nicht weiß, wohin.
„Ah, ja, das ist kein Problem. Das mach' ich gerne. Ist ja meine Katze. Also Agathe heißt sie bei Ihnen, ich nenne sie Gretchen.“
Dass Katzen sich manchmal ein anderes zu Hause suchen, wusste Martin. Aber dass sie so unverfroren sein können und beides mitnehmen, das war stark. Er fand Miriam eng vereint mit Agathe, die unverschämt schnurrte und sich gerade gnädig verwöhnen ließ. Martin schüttelte nur den Kopf und beteiligte sich beim Streicheln.
„Also?“
„Also was?“
„Skifahren?“
Miriam konnte dieses Angebot nicht so recht einordnen. So privat und direkt war Martin noch nie gewesen. Bisher ging sie davon aus, dass er keine Schwächen hatte. Und keine Gefühle für irgend jemand. Sie war ein wenig hin - und hergerissen.
„Warum nicht? Wollte ich sowieso schon machen. Wann wolltest du denn fahren?“
„Morgen früh.“
„Also so gegen Mittag?“
„Na ja, wir haben ja keine Hektik.“
„Okay. Dann fahre ich jetzt und komme morgen bepackt wieder.“
„Du kannst jetzt nicht mehr fahren. Zu viel Schnee und zu viel Alkohol. Der Glühwein war schrecklich.“ Miriam hatte einen kleinen Schock, ließ es sich aber nicht anmerken. Sie schaute ihn nur fragend und wortlos an, konnte aber nichts entdecken.
„Du kannst dann ja morgen deine Sachen holen oder besser: Wir fahren einfach bei dir vorbei und sammeln alles ein.“ Er sah ihr Erstaunen und ihr ungläubiges Gesicht.
„Nein, nein, keine Angst. Ich habe sogar eine neue Zweitzahnbürste und das Bett im Gästezimmer ist schnell gemacht. Nur Nachthemd habe ich keines. Ein Frühstück bekommst du auch, gratis.“
„Dann mach' noch einen Fendant auf oder sonst irgendetwas.“ Sie hatte sich entschieden.“ Agathe war gegangen und diesmal wusste er wohin.
Er schlief diese Nacht ruhig und traumlos. Am Morgen war das Frühstück schon fertig, weil morgens für beide ein unterschiedlicher Begriff war. Sie gaben ein interessantes Paar ab, er in Jeans und Pullover, sie im kleinen und eleganten Schwarzen.
Er bepackte sein Auto und sie fuhren hintereinander nach Luzern zu Miriams Wohnung. Miriam war erstaunlich schnell fertig, der Subaru Justy war bis unter das Dach voll und sie starteten gut gelaunt und nun passend gekleidet Richtung Entlebuch und dann durchs Flühlital nach Sörenberg. Kein Mensch außerhalb kannte Sörenberg, geschweige denn wusste er, dass man da Skifahren konnte. Dabei war es bei den Luzernern sehr beliebt. Es bestand eigentlich nur aus Ferienhäusern und ein paar mehr oder weniger gemütlichen Restaurants. Die Spezialität in diesem Tal war Käse. Käse in jeder Form und Zubereitungsart, die einen immer wieder überraschte. Anscheinend war dies das Tal der Vegetarier, denn irgendein Gericht mit Fleisch suchte man auf den Speisekarten vergeblich. Oder es war nicht möglich, im Winter Fleisch dahin zu schaffen. In der kleinen Ortschaft Flühli, fünf Kilometer vor Sörenberg gab es den einzigen Metzger weit und breit. Martin kaufte mit Miriams fachlicher Unterstützung so viel ein, dass sie die Tage überleben würden. Bei den Eiern achtete er darauf, nicht die günstigeren, ausländischen Eier zu nehmen. Sie waren als solche extra gekennzeichnet, klein und runzelig und schmeckten nach Fischmehl. Ganz offensichtlich kam hier eine grundsätzliche, politische Absicht ans Tageslicht. Was mussten die Schweizer eigentlich von uns Deutschen halten, dachte Martin. Glauben die wirklich, dass wir so etwas essen würden? Und woher, zum Teufel, bezogen sie solche grässlichen Eier? Es musste da eine eigene, geheime Produktionsstätte geben.
Das Appartement, das Martin gemietet hatte, war eines der home sharing – Wohnungen von Happymag, dem einzigen größeren Gebäude in Sörenberg. Die Eigentümer eines der Zwei-Wochen-pro-Jahr-Anteile konnten ihren Anspruch auch untervermieten. Er hatte allen, auch Miriam, verschwiegen, dass er in einem kleinen Seitental, nur einen guten Kilometer hinter der Jugendherberge von Salwidili, eine nicht mehr bewirtschaftete Almhütte ohne Zufahrtsstraße langjährig gepachtet und diesen völlig einsamen Platz für sich hergerichtet hatte. Es gab fließendes Wasser, weil ein Bächlein neben der Hütte vorbeifloss und eine Badewanne, die das Wasser nach einem Sturz über einen größeren Stein selbst hergestellt hatte. Ein wenig Strom wurde erzeugt von einem Solarpanel und gespeichert in ein paar Akkus, die ihm Licht und Satelliten-Fernsehen ermöglichten. Die Heizung war zentral für den einzigen Raum in Form eines alten, holzbefeuerten, Herds mit Warmwasserkessel wie in einem alpenländischen Bauernhofmuseum. Holz gab es rundum genug. Er war schon lange nicht mehr dagewesen, schätzte aber die potentielle Möglichkeit, sich vollständig zurückzuziehen. Da das Tal am Anfang eines großen Naturparks lag, streifte nicht einmal ein Jäger an der Hütte vorbei. Möglicherweise wusste auch niemand mehr, dass da überhaupt eine Hütte war. Da die Schweiz genügend schöne Täler hatte, konnte sie es sich leisten, dieses Tal einfach zu vergessen.
Er hatte kurz überlegt, ob er Miriam zur Hütte mitnehmen sollte, aber diesen Gedanken gleich wieder fallen gelassen. Das wäre entschieden zu intim gewesen. Die Happymag - Wohnung hatte zwei Schlafzimmer, weil die Standardfamilie zwei Kinder hatte. Das war praktisch, weil dann nicht durch die Diskussion über den Schlafplatz zweideutige, kritische Situationen heraufbeschworen wurden. Er bot Miriam das größere Zimmer an und richtete sich selbst ein. Es war schon später Nachmittag und so begnügten sie sich mit einem Spaziergang in der verschneiten Welt, die die eigentliche Hässlichkeit des Ortes gnädig verbarg. Einmal das schmale Tal hinauf bis zur Rothornbahn und dann wieder hinunter. Einen richtigen Rundweg gab es nicht. Am Ortsanfang, an der für Jugendliche aufwändig präparierten Piste mit Half Pipe und Schanzen, sozusagen dem modernen Teil von Sörenberg, fanden sie ein alpin eingerichtetes Lokal mit Disko-Anmutung, aber ganz netten Plätzchen zum Essen und Verweilen. Sie aßen Käse-Fondue in Ermangelung einer wirklichen Alternative und gingen dann schwer gesättigt, aber zufrieden in ihre Wohnung. Es war eine sternenklare Nacht geworden und sie setzten sich dick in Decken eingehüllt auf den Balkon und tranken schon wieder – für Martin völlig ungewohnt – Alkohol, diesmal aus dem dreizehn-prozentigen Anteil in einem herb-fruchtigen Rotwein. Dazu rauchten sie kubanische Zigarren, deren Rauchschwaden einen betörenden Duft von luxuriöser Gemütlichkeit verbreiteten. Die Sterne funkelten und die Milchstraße breitete in der klaren, trockenen Luft ein durchsichtiges Seidenchiffonband über den Himmel. Am Horizont stieg gerade riesengroß der fast volle Mond in prächtigem Orange auf. Martin konnte es nicht lassen.
„Weißt du eigentlich, warum der Mond am Horizont viel größer aussieht, als wenn er oben am Himmel steht?“
Miriam schreckte aus ganz anderen Gedanken auf.
„Nein“, antwortete sie höflich. Ihr vollkommenes Desinteresse nicht bemerkend, sah sich Martin ermuntert, eine Erklärung abzugeben. Er berichtete, dass das Problem lange ungelöst war und auch heute noch Gelehrte entzweien würde. Aber, dass es mittlerweile für ihn klar sei, dass es sich um eine reine Täuschung des Gehirns handelte, das entgegen der Wirklichkeit davon ausging, dass die Wölbung des Himmels stark abgeflacht sei und es Gegenstände am Horizont viel weiter weg vermutete und in Einklang zu bringen versuchte, mit Gegenständen bekannter Größe wie Bäume oder Häuser. Da alles das im Zenit fehlte, würde dort der Mond zur wahren optischen Größe schrumpfen. Sie könne das am besten feststellen, wenn sie ein Foto des aufgehenden Mondes machen würde oder den Mond durch die zu einem kleinen Loch gewinkelten Finger betrachten würde. Höflich machte Miriam diese Geste nach.
„Tatsächlich. Das ist ja großartig.“ Diese Antwort ließ ihn endlich an ihrem augenblicklichen wissenschaftlichen Interesse zweifeln. Er unterließ es, die Täuschbarkeit des Gehirns mit weiteren Beispielen zu belegen, um dann bei seinem Lieblingsthema, der evolutionären Erkenntnistheorie zu landen. Er musste anders weitermachen oder schweigen. Er wollte gar nicht als interessanter Gesprächspartner dastehen oder sie gar als Mann beeindrucken. Er wollte, dass sie sich wohlfühlte, spürte geradezu eine Verantwortung, ihr den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Er fand Miriam ungemein sympathisch und genoss ihre bloße Anwesenheit. Ihre Attraktivität nahm er mit seinem Sinn fürs Schöne wahr wie ein gutes Gemälde oder das gelungene Design eines Möbelstücks.
„Schau dir mal die Sterne an. Was mich am meisten dabei in Staunen versetzt, ist die Tatsache, dass wir nicht nur in den Raum schauen, sondern genauso in die Zeit. Das Licht oder besser die Signale eines Sterns sind die vor einer Stunde oder die vor Tausenden von Jahren. Wenn wir genauer sehen könnten, würde wir jetzt gerade das Treiben auf einem Planeten vor vielen Jahrhunderten oder Millionen Jahren beobachten. Wir wissen nicht einmal, ob er jetzt noch existiert.“ Er spürte, ihr Interesse war geweckt.
„Heißt das, dass die, wenn sie uns sehen könnten, auch nur das sehen, was bei uns vor – sagen wir mal - zweitausend Jahren geschah?“
„Genau. Wegen der absoluten Grenze der Lichtgeschwindigkeit gibt es somit auch nicht die geringste Möglichkeit mit denen zu kommunizieren. Wenn wir eine Nachricht empfangen würden, könnte die schon zum Beispiel hundert Jahre alt sein. Dann antworten wir und das dauert dann wieder hundert Jahre. Ich weiß nicht, ob sie damit etwas anfangen könnten. Ein richtiges Gespräch würde sich dann ordentlich hinziehen.“
„Wie mache ich es aber, dass ich das Weltall so erkennen kann, wie es jetzt gerade ist?“
„No way. Einstein hat diese Frage so beantwortet, indem er schlicht feststellte, dass Gleichzeitigkeit kein sinnvoller Begriff ist und man ihn einfach weglassen sollte.“
„Das versteh' ich nicht.“
„Wenn du gesagt hättest, du verstehst das, hättest du entweder gelogen oder du wärst ein Angeber oder kein Mensch. Aber Gott sei Dank trifft das alles nicht zu. Unser Gehirn kann das nicht 'verstehen' oder begreifen. Umso erstaunlicher ist es, dass es in der Lage ist herauszufinden, dass die Welt anders ist.“
„Wow. So habe ich das noch gar nicht gesehen. Mein Gehirn hat da aber nichts herausgefunden.“
„Weil du dich mit anderen Dingen beschäftigst, zum Beispiel wie Salzsäure mit aromatischen Kohlenwasserstoffringen umgeht. Das ist auch nicht von Pappe.“
„Woher weißt du das alles? Du bist doch auch nur Chemiker.“
„Wir beeinflussen Gehirne, also interessiert mich dasselbe.“
„Meins auch?“
„Na ja, so wissenschaftlich eigentlich nicht. Mehr das Gesamtkunstwerk.“
„Ist das jetzt gut oder schlecht?“
„Also heute Abend ist das hundertprozentig gut und darauf sollten wir noch eine Flasche aufmachen.“
„Ich muss dir etwas gestehen“, Miriam klang eher verträumt, so dass er nicht befürchtete, sie würde den USB-Stick zur Sprache bringen. „Ich bin ein komischer Mensch. Wenn ich alleine bin, könnte ich Gesellschaft brauchen, aber in Gesellschaft fühle ich mich eigentlich noch mehr alleine und vermittle das ohne böse Absicht auch anderen. Ich sage dann zum Beispiel: 'Ich bin gerne mit mir alleine' und stoße damit manchmal Leute vor den Kopf, obwohl ich niemanden verletzen will. Wenn ich wirklich alleine bin, käme mir dieser Satz gar nicht in den Sinn. Verstehst du das?“
„Nur zu gut. Ich bin froh, dass du den Satz heute nicht gesagt hast.“
„Bei dir ist es anders. Du bist einfach da und störst mich in keinster Weise.“
Sie schliefen lange und frühstückten ausführlich und wechselten dabei kaum ein Wort. Aber es war wunderschön und nichts war peinlich.
Ein paar Schritte vom Haus mit den geschulterten Skiern und sie standen vor der Gondelbahn auf die Rossweid. Martins Ausrüstung war genauso modern wie Miriams. Mit dem Unterschied, dass sie mit den taillierten Carving Skiern etwas anzufangen wusste und er nicht. Das Skifahren war für ihn hier recht vergnüglich, weil die Hänge in Sörenberg sehr gepflegt, nicht zu steil und nicht zu lang waren und durch wunderschönen Winterwald führten. Eigentlich besteht Skifahren nur aus zwei Elementen, dachte er: Linkskurven und Rechtskurven. Was ist denn daran so besonders, dass es einen Großteil der Menschen so begeistert? Der Anblick von Miriam gab ihm den Grund. Wie sie in totaler Beherrschung der dynamischen Kräfte, gleitend und fließend den natürlichsten Weg fand, wie sie der Schwerkraft ein Schnippchen schlug und sie für sich nutzte, machte ihm Gänsehaut. Er konnte ja immer alles sehen, weil er es nie schaffte, vor sie zu kommen. Im Stillen bedankte er sich für ihre Geduld, auf ihn zu warten. Es machte ihr aber wohl nichts aus. Gefordert war sie ohnehin nicht und so genoss sie einfach den Tag. Einmal dachte er, ich fahre ihr einfach nach. Vielleicht komme ich dann hinter das Geheimnis. Und siehe da, gleich schwebte er wie sie, alles war leicht und schön und ihn überkam eine große Euphorie bis zu dem Augenblick, in dem sein Flug mutierte zu einem wirbelnden schneeaufspritzenden Durcheinander der einzelnen Körper- und Ausrüstungsteile. Er sortierte alles von oben nach unten und war nach der positiven Bestandsaufnahme immerhin sehr erfrischt.
Der zweite Abend war weniger wissenschaftlich und ebenfalls überaus angenehm. Einspielen musste sich nichts. Wie bei alten Freunden. Das waren sie ja wohl auch.
Beim Frühstück klingelte Martins Handy wie ein Feueralarm im Paradies. Es war Frank.
„Hallo Martin, wo bist du?“
„In Sörenberg beim Skifahren, warum?“
„Ich habe das mit dem USB-Stick dem Werkschutz gemeldet und jetzt ist plötzlich die Kripo da. Ich musste in die Firma fahren, weil sonst keiner verfügbar war.“
Der Schock war besonders heftig, weil er im paradiesischen Bewusstseinszustand nicht auf Abwehr vorbereitet war.
„Du hast was?“
„Es ging nicht anders. So steht es in meinem Vertrag.“
„Dass du fehlende USB-Sticks melden musst?“
„Nein, natürlich nicht.“ Er hörte sich etwas ungehalten an. „Es geht einfach generell um Vorkommnisse, die die Geheimhaltung betreffen. Und das ist wohl hier der Fall!“
Mein Gott, wen hat er sich da eingestellt. Seine gesamte, adrenalingeschwängerte Energie richtete sich jetzt als Zorn auf Frank.
„Aber da war doch gar nichts Wichtiges drauf. Weißt du eigentlich, was du da angerichtet hast?“
„Ich habe nur das gemacht, wozu ich mich verpflichtet habe.“ Er klang standhaft und unbeeindruckt. Was Martin noch mehr reizte, zumal er gar nichts Objektives entgegenzuhalten hatte. Im mentalen Deadlock sagte er erst einmal gar nichts.
„Bist du noch dran? Ich empfand es als meine Pflicht, dich sofort zu informieren und zu fragen, was ich jetzt tun soll.“
Ogottogottogott. Seine Pflicht!
„Jaja, ich bin noch dran.“ Er wartete, bis sein Gehirn einen Denkvorgang erzeugen konnte.
„Sag denen nichts. Du hast den Vorteil, dass du ganz neu bist. Mach' mit ihnen einen Termin aus für mich, zum Beispiel am nächsten Dienstag. Und dann informierst du bitte Sean, der ist wohl der einzige vom Vorstand, der erreichbar ist. Du findest ihn ganz sicher im Trading-Room.“
„O.K.“ Frank hatte aufgelegt. Ungläubig schaute Martin sein Telefon an.
„Was war das denn?“,fragte Miriam.
„Dieser Wahnsinnige hat das mit dem fehlenden Stick an die große Glocke gehängt. Der Werkschutz hatte nichts Besseres zu tun, als die Polizei anzurufen. Und jetzt ist die Kacke am Dampfen.“ Eine ungewöhnliche Ausdrucksweise für Martin.
„Er hat was?“
„Kaum zu glauben, aber er fühlt sich auch noch im Recht...“ Es klingelte.
„Geht klar. Am Dienstag um 10 Uhr im Kommissariat. Der Kommissar lässt dir einen schönen Gruß ausrichten. Sean suche ich noch und werde ihn finden, versprochen. Also noch einen schönen Urlaub. Und Grüße an Miriam.“ Wieder aufgelegt.
Woher wusste er denn das? „Woher weiß er, dass du mit mir gefahren bist?“ Es irritierte ihn fast noch mehr als Frank's voreilige Handlung.
„Ich habe keine Ahnung. Ich habe niemandem davon erzählt. Der hat nur auf den Busch geklopft. Ich fand ihn von Anfang an komisch. Typisch reiches Söhnchen, beste Schule und für sein Alter unangemessen arrogant.“
„Den vom Werkschutz knöpfe ich mir aber vor.“
„Hat keinen Sinn, er hat nur nach Vorschrift gehandelt. Wenn der Verdacht auf Werksspionage besteht, muss er die Polizei informieren. Er konnte gar nicht anders.“
„Du stehst wohl auf der Seite dieser Idioten.“ Das war ziemlich blöd. „Entschuldige, gleich kann ich wieder denken.“ Miriam reagierte gar nicht darauf.
„Das Dumme ist,“ fuhr Martin fort, „dass der Verdacht nur auf dich, Frank und August fällt. Ihr wart die einzigen im Labor.“
„Und der große Unbekannte.“ Miriams Bemerkung rief nicht einmal ein müdes Lächeln hervor.
Sie gingen wieder Skifahren, Aber diesmal war es nicht das Gleiche. Auch das gegenseitige Versprechen, sich den Tag nicht verderben zu lassen, wirkte nur äußerlich.
Am Dienstag stand er pünktlich um Zehn vor der Kantonspolizei und fragte nach Kommissar Dylan Berner. Er wartete schon im Verhörzimmer, das auch als Besprechungsraum genutzt wurde.
„Hallo Dylan, habt Ihr nichts zu tun? Keine Drogen - und Gewalttaten?
„Hallo Martin. Tut mir leid, dein Weihnachten gestört zu haben. Aber wenn dein Palast ruft, hat das Volk zu gehorchen.“ Berner war ein echter Linker. So weit das in der Schweiz überhaupt möglich war.
„Wer hat denn gerufen?“
„Na, der Meier Andy vom Werkschutz. Der ist eigentlich okay, aber er konnte wohl nicht anders. Wir sind natürlich schon auch alle im Kanton interessiert, dass deiner Firma kein Schaden zugefügt wird – von Amis oder Japsen oder anderen Schlitzaugen.“ Der letzte Teil des Satzes war nicht links, sondern schweizerisch patriotisch.
„Was für ein Schaden denn? Es war doch nur ein USB-Stick.“
„Na na. Du weißt doch wohl selbst, wie viel da drauf passt.“
„Auf den Inhalt kommt es an.“
„Eben. Und darüber wissen wir nichts. Kannst du uns sagen, was da drauf sein könnte?“
„Ehrlich gesagt nein, nicht wirklich. Privater Kram vielleicht, lustige Filmchen oder im schlimmsten Fall ein paar zwischengespeicherte Dokumente. Du weißt ja, wie so etwas läuft.“
„Das Problem haben wir immer öfter. Da gibt es millionenteure Sicherheitsvorkehrungen und dann kopiert jeder Esel – Verzeihung, dich meine ich natürlich nicht – wichtige Sachen auf so einen Stick. Und das wissen die Verbrecher, die Profis für die Wirtschaftsspionage natürlich auch. Eine richtige Schwachstelle. War es eigentlich dein Stick?“
„Nicht einmal das kann ich dir sagen.“ Martin musste ihm Recht geben, das Ausmaß dieser Kleinigkeit könnte unvorhersehbar groß und unangenehm werden.
Leutnant Andri Paul kam dazu, missmutig und autoritär wie immer.
„Sie müssen in ihrem Laden doch wissen, was läuft. Sie sind doch der Chef.“ Welch überflüssiger Einwurf, dachte Martin, versuchte aber eine Eskalation des Gesprächs zu vermeiden.
„Da haben sie schon Recht. Aber ich muss gestehen,“ er sagte 'gestehen', und fand das recht leichtsinnig,“ dass es so viele, auch selbst gekaufte Sticks gibt, da verliert man einfach die Kontrolle.“
„Bei einer so international agierenden Firma ist das ein wenig unprofessionell, oder?“
Aber in allen Firmen ist das so, wollte Martin sagen, fand das aber nicht besonders hilfreich.
„Es tut mir leid, wir versuchen das abzustellen. Früher hat man die PC's ohne CD-Laufwerk aufgestellt, aber ohne USB-Schnittstelle geht es nun mal nicht. Und allen Leuten die Hosentaschen zu kontrollieren, ist nicht der Stil des Hauses.
„Sollten Sie aber, dann würde so etwas nicht passieren.“
Berner entschärfte die Lage ein wenig, indem er das Gespräch wieder übernahm.
„Hmhm. Das ist jetzt aber ziemlich unagenehm. Ich weiß, so ein Datenzugriff wird nicht einmal dokumentiert. Wer hatte alles Zugang?
Martin wurde es mulmig. Er wollte nicht seine eigenen Leute in Verdacht bringen. Aber Berner würde es ja sowieso herauskriegen. Oder wusste es ohnehin schon.
„Frank Thomsen, August Maier und – hm – Miriam Kellein. Sonst eigentlich niemand.“
„Weißt du etwas über deren private Kontakte?“
„Nein, eigentlich nicht.“ Er wusste, dass er in einem Fall log.
„Wir müssen alle drei befragen. Du bist ja wohl außen vor, du warst ja zum fraglichen Zeitpunkt nicht in der Firma. Außer du hast einen Komplizen.“ Berner grinste.
„Guter Witz. Aber du wirst schnell entdecken, dass ich auch kein Motiv habe. Im Gegenteil: Ich lebe davon, dass nichts nach außen dringt.“
„Also Rache wäre da noch ein Motiv. Hast du Feinde oder Konkurrenten?“ Martin war sich nicht sicher, wie ernst Berner das meinte. Und erwischte sich dabei, darüber nachzudenken, ob nicht Frank infrage käme, der eingeschleust ihm schaden sollte. Er verwarf den Gedanken aber sofort und verwies ihn in den Bereich der durch häufigen Krimikonsum sensibilisierten Phantasie.
„In unserem Geschäft gibt es natürlich Konkurrenz und ich fand nicht alle sympathisch, denen ich früher beruflich begegnet bin. Aber Feinde? Nein. Und wirkliche Konkurrenz im Moment auch nicht. Was ich gerade mache, sollte eigentlich keiner so genau wissen.“
„Also, ehrlich gesagt: Wir wissen nicht, was gestohlen wurde, wir wissen nicht, wer dahinter stecken könnte und wir haben keine Ahnung, worum es gehen könnte. Ausschließen wollen wir im Moment nur, dass der Stick einfach nur abhanden gekommen ist. Und es kann eine Banalität sein oder eine Riesensache.“ Berner war ein nüchterner Mann. „Wir werden auf jeden Fall die Drei befragen und eure Verantwortlichen, ob in letzter Zeit häufiger Verdachtsmomente auf Werksspionage bestanden.“
So ein Mist, dachte Martin. Da hat jemand den Stick verschlampt und jetzt wird ein Riesenfass aufgemacht. Sein gutes Verhältnis zu Miriam sollte jedenfalls nicht leiden. Die hatte auch sicher nichts damit zu tun. August war ein ängstlicher Mensch, der kaum kriminelle Energie besaß, nur Frank würde er jetzt genauer beobachten. Er war neu, ziemlich brillant und darüber hinaus nicht besonders sympathisch.
Die Arbeit im Labor war weiterhin nicht sehr spannend. Aufräum - und Dokumentationskram, um den Kopf und den Schreibtisch frei zu bekommen für die neue Generation von Wirkstoffen, für die der Vorstand ehrgeizige Vorgaben gesetzt hatte. Vorgaben, die man ehrlicherweise gar nicht setzen konnte. Aber so war es bei modernen Unternehmen. Die Sparte war den Chefs egal. Bei Flugzeugen konnte man sagen, sie müssen um so viel weniger Sprit brauchen, so und so viele Personen transportieren und so viele Kilometer weit ohne Tanken fliegen können und dann war es nur noch eine Frage der Entwicklung von allen Fachgebieten, wie Materialien, Aerodynamik, Aeroelastik, Gewichte, Triebwerke und so fort. Anders in der Pharmaindustrie. Hier war Können und Intuition von einzelnen gefragt mit ungewissem Ausgang. Wie viele Millionen Schweizer Franken und Jahre für Neuentwicklungen schon in den Sand gesetzt wurden, war ihm sehr bewusst. Wenn Arzneimittel so teuer waren, lag das meist nicht an den exorbitanten Gewinnen, sondern daran, dass riesige Verluste für ergebnislose Entwicklungen wett gemacht werden mussten. Die meisten Unternehmen begaben sich mit anderen Produktlinien auf die sichere Seite, verpackten Aspirin ein wenig anders und glichen damit Verluste aus. Das war bei Bionik Health nicht gut möglich, weil die Marke als innovativ und futuristisch entwickelt worden war und das ließ Konventionelles nicht zu. Ihr Vorsprung konnte nur mit absolut Neuartigem erhalten werden. Daher brauchte man vielversprechende Leute wie Frank. Er war ein Vertreter der neuen Richtung, der meinte, auch bei pharmazeutischen Produkten ein „design to target“ durchführen zu können. Auch deswegen fand Martin ihn nicht sehr sympathisch. Er hielt dieses Denken für einen Ko Tau vor den mächtigen Finanzmanagern und extrem unseriös. Frank hatte ihm ausführlich die Verfahrenstechnik expliziert, an der er an der Uni mitgeforscht hatte, mit der er summa cum laude promoviert hatte und an die er glaubte. Diese Art zu arbeiten würde ein völliges Umdenken erfordern. Computersimulationen anstelle der Laborküche. Es klang verheißungsvoll. Ein Flugzeug wurde heute auch nicht mehr im Modell gebaut, sondern nur noch als Software entwickelt. Wenn es dann fertig gebaut war, wusste keiner, ob es auch wirklich fliegen kann. Abermillionen waren ausgegeben, ohne diese Sicherheit zu haben. Aber beim Flugzeugbau funktionierte das schon viele Jahre so. Bei Pharmaprodukten konnte er sich das einfach nicht vorstellen.
Miriam war seit ihrem gemeinsamen Kurzurlaub bedrückt und ein wenig abwesend. Zu Martin war sie vertraut wie immer, so dass er den Gedanken gleich wieder verwarf, sie würde den kleinen Ausflug bereuen. Es hatte wohl nichts mit ihm zu tun. August war noch nervöser und Frank ging allen auf die Nerven. Seine Selbstsicherheit und sein arrogantes Auftreten störten das gewohnte harmonische Miteinander. Aber objektiv konnte man ihm nichts vorwerfen.
Die Ermittlungen von Berner und seinem Team kamen nicht voran. Leutnant Paul, der Berner zugeteilt war, ließ sich ein paar Mal in der Firma sehen. Er war wie immer eingebildet und ständig missmutig, vollkommen humorfrei und durchaus unhöflich, was für einen Schweizer sehr untypisch war. Erfolgreicher war er aber auch nicht. Man hatte das Vor - und Privatleben der drei gründlich durchleuchtet, Martins wohl auch, ohne dass er etwas davon bemerkte. Berner fand nichts, was einen Anfangsverdacht begründen würde. Dass Frank häufig mit seinen alten Studienkollegen zusammenkam und August seine Freizeit mit einer Ökogruppe gegen die Ausbeutung von irgendwas verbrachte, bewertete er als nicht besonders relevant und so beschloss er eines Tages, die Akte wegen Geringfügigkeit zu schließen. Auch gab es keine erkennbaren Auswirkungen, die der Firma hätten schaden könnten. Er sandte den Bericht auch an die Anwälte des Vorstands und wandte sich anderen Aufgaben zu.
An einem Montag Morgen wurde Martin vor den Vorstand zitiert. Er wunderte sich, weil er eigentlich die ganze Sache für sich schon abgehakt hatte. Sogar Jean Paul Maurus, der Vorstandsvorsitzende war neben Sean anwesend. Auch der Entwicklungsvorstand, der alte und gutmütige Prof. Peter Brocks und der Produktionsvorstand Schulte saßen da im illustren Kreis.
„Guten Morgen, Herr Dr. Hohenstein. Danke, dass sie sich die Zeit nehmen“, sagte Maurus. Als ob er eine Wahl gehabt hätte.
„NeuroX entwickelt sich ja prächtig. Und wir wissen, Ihren Beitrag einzuordnen.“ 'Einordnen' klang irgendwie ambivalent. Aber er war ja in der Schweiz. Worauf er wohl hinauswollte, dachte Martin.
„Wie sie vielleicht wissen, geht Prof. Brocks in den Ruhestand.“ Martin wusste es nicht und wunderte sich über die Wendung.
„Und da haben wir uns wegen der Nachfolge Gedanken gemacht. Der Verwaltungsrat wollte jemanden von außen anheuern.“ So what, dachte Martin, machte aber ein ernstes und interessiertes Gesicht. Er hatte mit Brocks kaum etwas zu tun, obwohl er sein Vorgesetzter war und mit einem Neuen wird das nicht anders sein.
„Wir haben uns aber entschlossen, jemand aus eigener Aufzucht zu nehmen. Unsere Wahl ist auf sie gefallen. Dr. Frank Thomsen wird dann ihre Stelle übernehmen Bitte überlegen sie es sich und teilen uns ihren Entschluss innert der nächsten Woche mit. Das wär's dann. Vielen Dank und einen erfolgreichen Tag. Wir wollen sie nicht länger von ihren Aufgaben abhalten.“
Peng-peng-fertig. Martin nickte höflich, Worte fielen ihm gerade nicht ein und er zog sich in leichter Trance zurück. Er, der Kleingeist hatte geglaubt, sie würden ihn wegen des USB-Sticks zitieren und seine Karriere für beendet erklären und dann das. Er fühlte erst einmal ausgeprägte Leere und nur langsam wurde ihm das Geschehene bewusst. Er war in den Vorstand befördert worden. Auf Schweizer Art: Schlicht und klar. Einfache Dinge wurden einfach vermittelt. Widerspruch zwecklos. Ablehnen war gleichbedeutend mit hinausgeworfen werden ohne Zukunft – zumindest in der Schweiz und wahrscheinlich auch weit darüber hinaus. Und Frank würde seine Stelle bekommen. Für Miriam war das eine berufliche Katastrophe. Seine Ablehnung würde Miriam aber auch nicht helfen.
Am Nachmittag kam Sean grinsend ins Labor. „Das hättest du nicht erwartet, oder?“ Martin verdrehte die Augen. „Du hast keine Chance, Kollege“, lachte Sean. „Jetzt heißt es Abschied nehmen vom besinnlichen Kuscheldasein.“
Er hatte recht. Darüber hatte er noch gar nicht nachgedacht. Er war ein Vollblutentwickler, introvertiert und lieber alleine. Alles würde sich ändern. Ein Termin den anderen jagen, Reisen in Fülle und an die exotischsten Orte, Komfort bis zum Abwinken. Er würde fachlich stehen bleiben und nach einigen Jahren nicht mehr mitkommen. Warum nur machten sie immer wieder den Fehler des Peter's Prinzips: Menschen solange befördern, bis sie die Stufe der Inkompetenz erreicht hatten. Er war doch von Natur aus kein Manager.
Sean spürte seine Bedenken. „Kopf hoch, alter Junge. Das geht jedem erst einmal so. Aber denk' dran, was du alles bewirken kannst. Vorstand ist Macht und die kannst du zum Guten nutzen.“ Instinktiv hatte er den einzigen Punkt erwischt, der auf Martin einen Reiz ausüben konnte. Er war zwar kein Machtmensch, aber er hatte Überzeugungen, die er in so einer Position leichter durchsetzen konnte. Das war tatsächlich interessant und schon fühlte er sich besser. Nicht schlecht, Sean. Du bist ein guter Psychologe. Hoffentlich hast du nicht gelogen. Aber auch dann würde er einen Weg finden können – als Vorstand sollte das kein Problem sein.
„Ich werde mich wohl positiv entscheiden. Ist ja auch alternativlos.“ Sean breitete die Arme aus und grinste geradezu unverschämt.
“Und jetzt müssen wir den Verwaltungsrat nur noch dazu kriegen, uns eine vernünftige Bonusregelung anzubieten und nicht nur ein weihnachtliches Almosen. Alle großen Unternehmen machen das inzwischen so. Dann werden wir durch dein NeuroX beide stinkreich und können uns alles kaufen“, träumte Sean glückselig vor sich hin. Martin reizte diese Aussicht nicht besonders.Viele Stellen auf seinem Konto vor dem Komma waren für ihn nichts weiter als vom Computer berechnete und angezeigte Abfolgen von Ziffern. Da er sich immer leisten konnte, was er wollte, nahm er die negative Entscheidung des Verwaltungsrats gelassen zur Kenntnis. Sean schäumte vor Wut.