Читать книгу Das schmale Fenster - Friedrich Haugg - Страница 6
Drei
ОглавлениеSein Leben war jetzt anders, völlig anders. Er war umgezogen ins Hochhaus, nicht in ein Büro, sondern in eine Suite im zehnten Stock mit Glaswänden und Blick auf den See wie vorher, nur etwas höher. Über ihm nur noch das Penthouse-Büro des Vorsitzenden. Er verdiente drei Mal mehr als vorher und verbrauchte halb so viel, weil er zum einen keine Zeit zum Geld ausgeben hatte und zum anderen mit fast allem kostenlos versorgt wurde. Er hatte zwei Sekretärinnen zugeteilt bekommen. Anfangs konnte er sie schwer unterscheiden, so perfekt gleich gestylt waren beide. Nicht nur äußerlich, auch ihr Gang und ihre dezente Stimmlage waren identisch. Ihnen gegenüber fühlte er sich klein und provinziell. Sie ließen sich nichts anmerken. Sie tuschelten nicht einmal. Zudem wusste er gar nicht, was er mit Ihnen anfangen sollte. Er konnte ja schlecht sagen, dass sie einmal aufräumen sollten oder die Ablage machen. So etwas funktionierte von selbst. Sie mussten denken, dass er nicht die geringste Eignung zum Chef hatte.
Bald merkte er, wie es wirklich lief. Nicht er schaffte an, sondern sie bestimmten seinen Tag. Die eine führte unter anderem seinen Terminkalender und teilte ihm auf einem feinen Blättchen Papier jeden Morgen mit, wie sein Tag ablaufen würde. Ein langer Tag, minutiös, wörtlich genommen auf die Minute genau geplant. Sogar über das, was er früher ignorant als Freizeit betrachtete, wurde er eines Besseren belehrt. Die Mittagspause diente nur nebenbei dem Essen – es wurde in diesem Punkt akzeptiert, dass auch Vorstände menschliche Schwächen haben - und war integriert in ein übergeordnetes Programm, dessen Sinn er nicht durchschaute. Es bestand aus scheinbar willkürlich aneinandergereihten Terminen ohne erkennbaren Zusammenhang. Als er einmal probehalber anfragte, ob er einen Termin mit Frank haben könnte, war das Angebot ein viertelstündiges Gespräch in seinem Büro am Donnerstag um 17:45 Uhr, oder eine halbe Stunde am Montag nach dem Essen mit Vertretern der Stadt Luzern um 13:45 Uhr. Immerhin konnte er wählen.
Als er vor der Innung der kantonalen chemischen Kleinbetriebe einen Vortrag halten musste und er keine Ahnung hatte, was er sagen sollte, legte ihm die Zweite den fertigen Sprechtext vor. Irgendwo verborgen im Hintergrund waren Redenschreiber. Er las und fand, er hätte es nicht besser machen können. Woher wussten die nur, was er sagen wollte, wo er es doch selbst nicht wusste? Dieses Rätsel wurde viel später gelöst, als er einen der Schreiberlinge auf dem Flur traf und darauf ansprach.
„Wir lesen ihre bisherigen Vorträge und lernen ihren Duktus. Dann wird das mit der allgemeinen Firmenphilosophie abgeglichen und fertig. Die Länge des Vortrags wird auf Ihre Sprechgeschwindigkeit angepasst.“ Er war genauso schlau wie zuvor, aber sehr beeindruckt. Einmal hatten sie ihm sogar einen perfekten Vortrag in französisch gemacht. Von französisch konnte er nur leidlich die Aussprache, verstanden hatte er von seiner Rede nichts. Aber sie kam sehr gut an, es wurde sogar an den richtigen Stellen gelacht.
Er bekam einen Porsche Panamera als Dienstwagen auch zur privaten Nutzung. Von seinem Subaru Justy wollte er sich aber nicht trennen. Als er ihn einmal benutzen musste, weil sich der Porsche im Schnee keinen Millimeter vor- oder rückwärts bewegte, sprang er zwar nach Monaten sofort an, aber er stellte fest, dass das wohnliche Ambiente im Porsche schon viel hübscher war. Auch von seinem Appartement trennte er sich nicht. Dort konnte er für wenige Augenblicke den alten Martin spielen. Neue Anzüge brauchte er sich auch nicht zu kaufen, das Grau blieb firmentauglich. Er bemerkte allerdings, dass manche Blicke der Etage leicht abfällig wirkten. Das lag wohl an der mangelnden Bekanntheit seiner Labels. Er tauschte Hemd und Krawatte gegen dunkle Rollkragenpullover oder Polohemden aus. Von da an galt er als interessanter Intellektueller und Querdenker, wie es in den zahlreichen Kreativitäts - Seminaren ja von jedem Mitarbeiter gefordert wurde.
Nur über seine eigentliche Arbeit war er sich nicht im Klaren. In den Abteilungen lief es so wie immer, er konnte sich auch nicht erinnern, dass er damals der Hilfe des Entwicklungsvorstands bedurfte. Einmal im Jahr musste eine Strategie und die Planung gemacht werden. Die Strategie wurde in einer Strategie - Task Force erarbeitet und ihm vorgelegt, die Planung war sowieso Sache von Finanzen und Controlling, also von Sean. Er musste die fertigen Präsentationen (die B-Hörnchen in Auftrag gegeben hatte) in Vorstandssitzungen vortragen, die A-Hörnchen terminierte. Er hatte seine beiden Damen inzwischen so benannt, wohl wissend, dass das Bild sehr unpassend war und er es nie aussprechen durfte, wollte er eine massive Demotivation vermeiden.
Es hätte schön sein können. Die durch das Nichtarbeiten entstandene freie Zeit hätte er wunderbar zu nutzen gewusst. Aber er hatte keine freie Zeit. A-Hörnchen sorgte mit Akribie dafür, dass sein Plan von Früh bis Abend lückenlos war. Und 'von Früh' hieß wirklich von Früh. Sein Kalender war im Regelfall nur leer von zehn Uhr abends bis Halb Acht Uhr morgens, außer es war eine besondere Lage, dann wurde die lange, freie Nachtzeit natürlich auch genutzt. Es war eine Marotte von Maurus, dass Führungskräfte an jedem Tag mit die ersten im Büro zu sein haben. Früher stand er nicht so im Fokus des hohen Herren und Sean hatte auch nie gepetzt. Was seinen morgendlichen Geisteszustand betraf, war der frühe Beginn aber nicht problematisch. Für die frühen Besprechungen hatte er ein weiteres Standardgesicht eingeübt: Es wirkte auf die Anderen wach, interessiert und hoch konzentriert. Nützliches beitragen musste er ohnehin nicht.
Am Schlimmsten war für ihn, den leidenschaftlichen Hasser des Small Talk, dass seine sogenannte Arbeit fast ausschließlich aus meetings bestand. Als er A-Hörnchen einmal sagte, er bräuchte auch mal eine stille Stunde im Büro, meinte sie nur, das wäre schwierig und üblicherweise würde man dazu die Freizeit nutzen. Das brachte ihn dazu, einmal für sich zu analysieren, wie meetings abliefen und wie groß der Anteil an produktiver Leistung wäre. Er kam zu dem Schluss, dass die Treffen fast ausschließlich zwei Aspekten dienten: Zum einen die verschiedenen Teammitglieder sozial verträglich aneinander anzupassen und zum anderen eine Plattform zu bieten, die gegnerischen Schwächen herauszufinden für die internen Machtkämpfe. Diese Erkenntnis war frustrierend für Martin. Er hatte sich selbst desillusioniert und fragte sich immer häufiger, wieso man ihn ausgesucht hatte, wo er doch an diesem Spiel gar nie teilgenommen hatte. Auch dafür hatte er als Naturwissenschaftler eine plausible Erklärung. Die heimlichen Machtblöcke waren wohl gerade im kräftemäßigen Patt gewesen, keiner konnte seinen Kandidaten gegen den anderen durchsetzen und so kam es zum Kompromiss, denjenigen zu nehmen, der frei vom Verdacht stand, einem der Blöcke nahe zu stehen. Auch in der Politik kam es manchmal auf diese skurrile Weise zu wirklich guten Personalentscheidungen.
Maurus rief an, das heißt nicht er selbst, sondern das Vorstandsbüro.
„Wie Sie wissen, haben Sie morgen ein meeting der internationalen Fachgruppe zukünftige Psychopharmaka in St. Tropez.“ Er wusste es nicht, weil er sich auf A-Hörnchen verließ. Aber St. Tropez war toll, nirgendwo lebte aberwitzig reich und völlig normal so im Einklang nebeneinander. Er erinnerte sich mit großem Behagen an seine Urlaube in St. Tropez. Die Stimme riss ihn aus den wonnigen Gedanken.
„Unsere Citation ist unterwegs und die Flüge von Zürich und Bern sind komplett ausgebucht. Bitte helfen sie mir. Sie haben doch ein Flugzeug?“ Ja, aber das ist nur ganz klein.
„Ja, das ist richtig.“
„Können sie Herrn Maurus mitnehmen?“ Wie bitte, was war das denn?
„Ja natürlich.“ Es war doch auch völlig normal, dass ein Vorstand seinen Vorsitzenden in einer alten Pilatus Porter nach St. Tropez flog.
Er ergänzte:“Es ist aber nur ein sehr kleines Flugzeug.“
„Wir melden uns wieder. Danke Herr Dr. Hohenstein.“
Er schüttelte den Kopf und konnte das alles nicht ganz für bare Münze nehmen. Aber die Maschinerie funktionierte, merkwürdig zwar, aber präzise. Nach zwanzig Minuten klingelte es erneut.
„Sie starten um 17 Uhr 30 von Buochs und werden von einem Wagen um 16 Uhr vor dem Firmengebäude abgeholt. Nochmals vielen Dank. Das wäre für uns beinahe schief gegangen.“ Der letzte Satz war das einzig Persönliche und nicht der Sache dienliche.
Die meinten das Ernst. Blitzartig schaltete sein Gehirn auf nüchternes Planen. Erst den Tower anrufen, um den Flug anzumelden. Dann Urs fragen, ob er alles herrichten kann und vor allem, ob die Kiste noch funktioniert. Dann musste er auch noch packen.
„Packen können Sie zu Hause, der Wagen wird dort halten und auf Sie warten.“ Das war A-Hörnchen. Sie konnte Gedanken lesen. Nun der Tower.
„Hallo, Martin auch mal wieder im Lande?“
„Du musst mir einen Gefallen tun. Ich muss nach St. Tropez und....“
„Ist alles erledigt. Start um 1730, Ankunft in Nizza - Cote d'Azur um 1940. Das Wetter ist überall ruhig und wolkenlos. Die Route haben wir Urs schon mitgeteilt. Er macht alles klar. Guten Flug.“ Martin blieb der Mund offen.
Die Limousine mit einem anonym höflichen Fahrer in Uniform bewegte ihn zu seinem Appartement. Er packte eine kleine Reisetasche mit dem Nötigsten für eine Übernachtung und weiter ging's zum Flugplatz. Urs stand schon da, seine PC6 war auch schon lebendig und wartete mit offenem Cockpit und angenehm angewärmt auf seine hohen Gäste.
„Irgendwie ist alles anders, Urs, oder?“
„Man tut, was man kann, Martin. Ich habe alles gecheckt, die Route ist im GPS, fliegen musst du allerdings alleine. Das nimmt dir diese Kiste nicht ab.“ Jetzt sagte er auch schon 'Kiste'.
Ein schwarzer Rolls fuhr vor. Die Türe wurde vom Fahrer geöffnet und heraus trat Maurus und trug selbst ein kleines Rollköfferchen. Martin fand die Situation immer unwirklicher.
„Guten Tag, Herr Dr. Hohenstein. Können wir?“
„Guten Tag Herr Maurus. Es ist alles bereit, wenn Sie genügend Mut haben.“ Er kannte ihn nicht gut genug, um wirklich zu scherzen.
„Na ja, man hat mir gesagt, dass sie das ganz gut können und ihr Gerät ein Rettungsflugzeug ist, Was soll da schiefgehen?“
Der Platz neben Martin war nicht vorstandsfest und die zweite Steuersäule würde Maurus ein wenig im Weg stehen. Aber es war ja sein eigener Wunsch gewesen. Sie verstauten die kleinen Gepäckstücke hinter den Sitzen. Die üblichen weiteren Sitze hatte Martin nie eingebaut. Maurus war schweigsam. Er realisierte wohl jetzt erst, auf was er sich da eingelassen hatte.
„Keine Sorge,“ beruhigte ihn Martin. „Sie ist sehr zuverlässig. Genießen sie einfach die etwas andere Art zu reisen.
„Sie werden aber Nizza schon finden, oder? Es wird ja schon dunkel.“ Ohne GPS eine sehr berechtigte Frage und Martin war zum ersten Mal sehr froh, dass es diese Technik gab.
„Wir haben hier zwar keinen Autopilot, aber ein Navigationssystem, wie sie es vom Auto kennen. Da können wir nichts falsch machen. Außerdem ist es einfacher, weil wir keine Straßen brauchen. Sie können alles auf diesem Bildschirm verfolgen.“
„Ich lasse mich gerne positiv überraschen.“ Dann war er wieder ruhig.
Der Tower gab den Start frei. Die Piste war länger und viele Unebenheiten beseitigt geworden. Aber das brauchte die PC6 gar nicht. Sie hoben schon nach 200 Metern ab und Maurus war noch ein bisschen stiller. In einer weiten Rechtskurve stiegen sie auf 9500 Fuß, ihre vorgeschriebene Flughöhe und nahmen Kurs nach Südsüdwest Richtung Meer.
Der Schnee unter ihnen schien bläulich-weiß, unterbrochen von pechschwarzen, kantigen Flecken und verstreuten gelben Lichtern in den dunklen Tälern. Der eben aufgegangene Mond beschien eine Szenerie, die so ganz anders war als ihr Alltag. Über ihnen sahen sie am stahlblauen Himmel die ersten Sterne aufleuchten. Es schüttelte nur hier und da ein klein wenig. Die Turbulenzen waren gerade dabei der nächtlichen Kühle zu weichen. Eine halbe Stunde war wortlos vergangen. Es schien Martin, also ob Maurus' Gesicht jetzt wieder ein bisschen besser durchblutet war. Auch seine Körperhaltung wirkte entspannter, so weit das bei diesen Sitzen möglich war. Eine perfekte Situation, um vom Vorstandsvorsitzenden alles zu erreichen, was man wollte. Wann sonst würde man mit ihm alleine so lange zusammen und er so ausgeliefert sein. Nur, Martin wollte gar nichts erreichen.
„Wir sind sehr froh. Herr Dr. Hohenstein, dass wir sie gewinnen konnten.“ An diese Art der Betrachtung der Dinge gewöhnte Martin sich langsam.
„Wer war denn noch in der engeren Wahl?“ Sehr mutig, weil ein echter Schweizer so eine Frage nie direkt stellen würde. Er würde zum Beispiel eher sein Bedauern ausdrücken, dass andere nicht zum Zuge gekommen seien.
„Das waren zwei, nicht aus der Firma, wie sie wissen. Ein Amerikaner, der in Cambridge studiert hat und der von der UBS empfohlen wurde und ein Engländer, ein Chemiker, der ausgezeichnete Arbeit in der Produktion bei Aventis in Shanghai geleistet hat. Der Verwaltungsrat André Munzer, sie kennen ihn vom letzten Empfang, hat ihn ins Spiel gebracht.“ Also hatte er recht gehabt, sie konnten sich nicht einigen.
„Wissen Sie, Herr Hohenstein, heute geschieht alles über Netzwerke. Wie gut sind Sie eigentlich vernetzt? Man trifft sie nicht sehr oft.“ Agathe und Miriam würden ihm genügen, dachte Martin. Eine Katze zählte aber wohl nicht. Dabei fiel ihm auf, dass er bisher das gute Netzwerk von Miriam schamlos benutzt hatte, so dass er sich nie veranlasst gefühlt hatte, etwas Eigenes aufzubauen. Der Gedanke an Miriam gab ihm einen Stich. Er hatte sie schutzlos Frank ausgeliefert und sich nicht mehr um sie gekümmert.
„Melden Sie sich doch beim Luzerner Country Club an. Ich werde sie empfehlen.“
„Oh, vielen Dank, das ist sehr nett von Ihnen.“ Martin war begeistert. Golf spielen fand er sehr erstrebenswert. In wichtiger Gesellschaft kleine weiße Bälle in weit entfernte Löcher zu schubsen und dabei eine bedeutende Miene aufzusetzen, war immer schon sein Traum. Dass er 'nett' gesagt hatte, bereitete ihm innerliches Vergnügen. Maurus musste denken, dass er komplett naiv war. Ganz offensichtlich hatte Maurus gegen seine Widersacher gewonnen und Martin durchgesetzt. Jetzt musste Dr. Martin Hohenstein auch ein Erfolg werden und war damit Maurus' Schützling. Grundsätzlich nicht schlecht, dachte Martin. Nur wusste er nicht genau, ob zwischen Schützling und Leibeigener ein großer Unterschied bestand.
„Sehen Sie mal die Sterne! Ist Ihnen bekannt, dass sie auch völlig verschiedene Zeiten sehen, nicht nur den Raum.“
„Was meinen Sie? Ja, ist wirklich wunderschön heute Nacht. Wissen Sie, im Country Club können sie Golf spielen und lernen auch einmal neue Leute kennen.“
„Das wollte ich immer schon gerne machen. Ich bin nur nie dazu gekommen.“ Zwar gelogen, sich aber als fleißiger Mitarbeiter dargestellt. Martin fand sich ganz gut.
„Sie müssen sich in Zukunft aufs Wesentliche konzentrieren.“
Martin stellte für sich fest, dass er 'das Wesentliche' früher anders gesehen hatte.
„Übrigens die morgige Veranstaltung selbst ist völlig unwichtig. Wichtig ist, dass der Verbandspräsident und der Vorstand der BNP Paribas fürs Firmengeschäft da sind. Mit denen habe ich etwas zu besprechen. Halten Sie sich bitte zur Verfügung.“
Nach einer weiteren guten Stunde näherten sie sich Nizza, wie ihr GPS-Plotter mitteilte. Zu sehen war das nicht. Es gab nur eine Linie, hinter der plötzlich alles dunkel war. Das Meer.
Martin holte alles früher Gelernte aus der Ablage in seinen Arbeitsspeicher und schaltete den Kopfhörer von Intercom auf Funk. Da Maurus alles mithören konnte, musste es sich sehr professionell anhören.
„NCE Tower, NCE Tower, here SWA 573 no ILS, 10 miles final.“
Der Tower antwortete tatsächlich:
„SWA 573, wind 075 with 3 knots, gusting 4, QNH 1032, cleared to land runway 01 left.“
„QNH 1032 cleared to land, runway 01 left,“ bestätigte er die Freigabe zur Landung und musste nicht rätseln, was runway 01 war, weil es nur diesen gab.
Ein Pilot richtiger Flugzeuge eichte jetzt zur Sicherheit den Höhenmesser auf die barometrische Druckangabe QNH und schaltete auf das automatische Landesystem ILS und ließ das Flugzeug alles selbst machen oder das Flugzeug sagen, was er zu tun habe. Sein Flugzeug sagte nichts und dachte wohl eher süffisant: 'Nun sieh mal zu, wie du runterkommst'. Prompt flog er auch etwas zu tief an und wurde vom Tower korrigiert. Der 'Approach' war dann auch mehr eine Art Achterbahn statt zielgerechtes Heruntergleiten, was Maurus' Gesichtsfarbe wieder ins Grünliche changieren ließ. Das Aufsetzen war aber vorbildlich, schließlich hatte er weit mehr Platz als in Buochs und ein freies Feld auf der ins Meer gebauten breiten Piste.
Beim Ausrollen und Einbiegen in die Parkposition, für deren Finden ein altes 'Follow me' – Fahrzeug sich als sehr nützlich erwies, fing Martin schon wieder gleich an zu planen. Schließlich sollte ja auch das Weitere einigermaßen professionell ausgehen. Er erinnerte sich, wo die Schalter für die Leihwagen waren und überlegte, welche Fahrzeugklasse für einen Vorstandvorsitzenden noch gerade angemessen war. Für die etwa einstündige Fahrt nach St.Tropez brauchte er keine navigatorische Unterstützung, die Strecke kannte er, was ihn sehr beruhigte.
Sie stiegen aus und waren umringt von fünf Blaumännern mit der Aufschrift Nice Cote d'Azur und einem unauffälligen Herren in dunklem Anzug. Maurus beachtete nur diesen und winkte Martin, ihm zu folgen. Der Herr öffnete die Tür einer Limousine, die auf dem Vorfeld stand. Sie fuhren los und hielten zu Martin's Überraschung nach hundert Metern schon wieder an. Er stieg aus, weil Maurus auch ausstieg und fand sich vor der offenen Tür eines Hubschraubers wieder.
Der Flug übers Meer war hauptsächlich dunkel, zu sehen war nur die ununterbrochene Lichterkette an der Küste. Nach einer knappen halben Stunde wurde der Hubschrauber langsam und senkte sich auf einen kleinen Asphaltkreis im Nirgendwo. Das mit dem Herren und dem Auto wiederholte sich gleichartig. Martin bewunderte die Feinplanung, A-Hörnchen hätte es nicht besser machen können.
Schon bald kamen sie auf vertraute Straßen und Martin wusste jetzt, dass sie tatsächlich in St.Tropez waren. Vor dem Hotel Sub hielt der Wagen an.
„Checken Sie ohne Eile ein, Herr Hohenstein, um 21 Uhr treffen wir uns dann im L'Escale.“ Le Sub war gut (und teuer und gar nicht mondän), nur etwas laut, weil die Zimmer direkt auf die Flaniermeile vor der Jachtparade des alten Hafens gingen. Martin hatte noch ein wenig Zeit, ging hinunter ins Cafe de Paris und genehmigte sich in nostalgischer Versunkenheit ein Affligem, das süße, belgische Bier, das es wahrscheinlich nur hier gab und auch nur hier schmeckte. Es war die zweite Septemberwoche, so dass die protzigen mehrstöckigen Jachten noch die Aussicht versperrten und den Blick lenkten auf vollkommen gelangweilte Superreiche und deren Anhang, die einsam und verlassen auf den Decks Champagner von weiß gekleideten Stewards oder -essen serviert bekamen, die auch gleich wieder im Nichts verschwanden, um die Einsamkeit und Leere nicht zu stören. Gut und gerne ein paar Tausend Euro pro Tag drücken die ab, dachte Martin, nur um hier zu liegen. Er bedauerte diese Leute fast, weil sie, wie Kinder mit zu viel Spielzeug, gar nichts mehr mit sich anfangen konnten.
Eine Lücke gab es im Hafen. Er dachte schon, die Konjunktur wäre eingebrochen und hätte einige in den Ruin getrieben. Neugierig schlenderte er hin. Und da lag sie: Genie of the Lamp, sein Traum seit Jahrzehnten. Ein Traum, den er nie verwirklicht wissen wollte, um ihn nicht zu verlieren. Die Wally-Jacht war der Gegenentwurf zu den schwülstigen Motorjachten. Das Deck, am Heck nur leicht eingewölbt, eine einzige edle Mahagonifläche. Keine Beschläge, keine Winschen, kein Tauwerk störte den freien Blick. Nur ein riesiger Mast, in dem das Großsegel versteckt war und daran große LCD-Anzeigen für die wichtigsten nautischen Größen. Er sah, dass nur 2 Knoten Wind aus Nordwest herrschte, dass der Bug Richtung Nord zeigte und die Tiefe unter dem Kiel 3 Meter betrug und dass die derzeitige Geschwindigkeit Null war. Im gleichen, tief dunklen Grün wie die Außenhaut des Schiffs, der Stoff für zwei quadratische Sonnenschirme über einer eleganten Sitzgruppe. Sonst war da nichts, Menschen auch nicht. Die Beleuchtung so raffiniert, dass der Minimalismus geradezu aufdringlich die anderen Monsterschiffe ins Lächerliche zog. Er bekam Gänsehaut, so schön war der Anblick. Zu seiner Beruhigung dachte er daran, dass 'Gegenentwurf' nur für das Design galt, die Kosten waren maßstabsgerecht zu den Motorjachten.
Es war Zeit fürs Essen. Na ja, Essen war vielleicht nicht der angemessene Ausdruck. Das L'Escale kannte er schon viele Jahre. Es war ein zwar edles, aber sehr familiäres Lokal für die Spezialitäten des Meeres (nicht unbedingt des Mittelmeeres) gewesen, in dem er mit Susanne lernte, dass es tatsächlich ein großes Vergnügen sein kann, teilweise rohe Tiere zu verspeisen. Das dreistöckige Plateau L'Escale mit Austern satt, verschiedenen Muscheln, Meeresschnecken, Scampi, Garnelen, Krebsen und Nordseekrabben war legendär. Die Essigsauce zu den Austern gab es nur hier so perfekt abgestimmt. Vor ein paar Jahren ging das Lokal an die graue gastronomische Eminenz St.Tropez's über. Sie hieß nur 'Joseph' und hatte mittlerweile eine Reihe von Lokalen und vor allem in der Nachbarschaft des L'Escale eine VIP-Lounge. Das ist das, was Frankreich noch gebraucht hatte, damit die betuchten Gäste überall auf der Welt das identische Ambiente vorfänden und sich nicht an etwas anderes gewöhnen müssten. Das L'Escale hatte sich nicht sehr verändert, nur alles war jetzt Reinweiß, der Boden aus feinem, weißen Sand (wie praktisch zum Reinigen) und der Blick auf die Karte und die Tische sagte ihm, dass die Portionen kleiner waren und die Preise sich verdoppelt hatten. Auch schien ihm das Servicepersonal nun auf Augenhöhe mit den Gästen zu sein, der Gesichtsausdruck auf überheblich arrogant trainiert.
Er wurde hereingebeten, als ob man wüsste, wohin er wollte und war - ein wenig peinlich - der Erste. Kurz darauf kamen einige vornehme, ihm unbekannte Herren, die sich ihm vorstellten und bewundernd auf die Schulter klopften und deren Namen er gleich wieder vergessen hatte. Er hätte sich besser vorbereiten sollen, dann würde er wenigstens wissen, wer von ihnen für ihn wichtig sein könnte. Dann kam auch Maurus, der alle herzlich wie alte Freunde begrüßte. Im Schlepptau – er traute seinen Augen nicht – Frank. Wie um alles in der Welt kam Frank dazu, hier anwesend zu sein und er wusste auch davon nichts. Das war nicht gut, bewertete er die Situation sicher sehr richtig.
„Ich habe Herrn Dr. Thomsen dazu gebeten, weil MOS Smith von Pfizer hier ist und er sich vielleicht mit ihm ganz gut austauschen kann. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus.“ Das war sehr vage von Maurus. MOS hieß wohl Master of Science, wusste Martin gerade noch. Also der Abschluss, bei dem Studenten nie das Studentenleben kennen lernten, sondern schulartig in Rekordzeit ihren Grad erlangten ohne links und rechts schauen zu können. Und das soll jetzt überall eingeführt werden. Wegen der Kompatibilität. Die ganzen MOSs und BOSs taugten nichts und konnten noch nicht einmal was dafür.
„Aber das ist doch ganz selbstverständlich und kann von großem Nutzen sein,“ Martin hatte nicht das Gefühl, dass er selbst es war, der diese Worte von sich gab.
„Viele Grüße von Miriam,“ waren Franks zweite Wort an ihn und versetzten ihm schon wieder einen Stich.
„Danke, Frank, lange nicht gesehen. Wie geht es Miriam?“
„Danke, gut. Wir sind mittlerweile ein gutes Team“. Der nächste Stich. Wenn es so weiter gehen würde, wäre der Abend gänzlich im Eimer.
„Das ist prima. Grüße sie von mir, wenn du wieder zu Hause bist.“ Was für ein Schwachsinn.
„August ist leider immer wieder krank und ist auch bei der Arbeit eher unkonzentriert. Ich weiß gar nicht, was mit ihm los ist. Früher war er doch anders, ein Nerd, ja, aber sehr leistungsfähig.“
„Hat er sich denn gründlich untersuchen lassen? Vielleicht gibt es da ein größeres Problem.“
„Ich denke schon, beim Arzt war er oft genug und die Tees die er trinkt, Gott bewahre.“
„Du hast noch ein paar Leute eingestellt? Ich habe die Stellen genehmigt.“
„Eine ist noch offen, aber die anderen sind schon seit ein paar Monaten besetzt und alle haben sich prächtig eingearbeitet.“ Martin fühlte sich sehr unwohl, weil er sein altes Labor noch nicht einmal wieder besucht hatte.
Das Essen half ihm zwar, das Gespräch abzubrechen, aber das führte nur zum Smalltalk mit anderen Leuten, die er nicht kannte und er deswegen auch nicht wusste, was er wirklich sagen konnte oder sollte. Er war froh, als es zu Ende war und kam vom Regen in die Traufe. Es war doch tatsächlich ein Tisch in der VIP - Lounge reserviert worden. Die Musik, beziehungsweise das, was die so Musik nannten - es waren diese langweiligen, ununterscheidbaren Computerkompositionen - war gottlob so laut, dass der Smalltalk eine natürliche Einschränkung erfuhr. Als er um Mitternacht fühlte, dass er sich – ohne unangenehm aufzufallen – verdrücken konnte, war Maurus auch schon weg und Frank noch in glänzender Laune mittendrin. Martin fragte sich ernsthaft, ob er vielleicht doch falsch konditioniert war und sich ein großes Vergnügen im Leben entgehen ließ. Er beschloss, später darüber nachzudenken.
Am nächsten Morgen stand vor dem Hotel keine Limousine. Es wurde ihnen zugemutet, den zehnminütigen Anstieg zur Zitadelle zu Fuß zu gehen. In einem musealen Raum war die Veranstaltung. Das einzig Bemerkenswerte, fand Martin, war die Tatsache, dass die Organisatoren tatsächlich diesen illustren Ort mieten konnten. Mit Geld ging wohl alles. Nach zwei Stunden – netto- die einstündige Kaffee - und Smalltalkpause nicht gerechnet, hatte Martin, wohl im Gegensatz zu den anderen, nichts gehört, aus dem er einen persönlichen Vorteil ziehen konnte.
Zur Belohnung für die großen Mühen der Arbeit gab es ein Buffet und dann eine Überraschung: Eine Fahrt mit einer der Jachten zum Strand von Pampelonne und Übersetzen zum Club55, sehr berühmt und sehr mondän, der nicht der internationalen Standardausstattung entbehrte. Vielleicht war hier auch wieder Joseph am Werk. Bei der Hinfahrt umkreiste sie ein Hubschrauber. Maurus bat alle fürs Familienalbum zum Winken. Als sie so beieinander standen, fiel Martin ein Gesicht auf, das er zu kennen glaubte. Untersetzt, kleine Schlitzaugen, aha, er erinnerte sich.
„Guten Tag, Herr Dr. Hohenstein, schön sie wieder zu sehen.“
„Waren sie bei der Veranstaltung schon dabei? Ich bitte um Entschuldigung, dass ich sie nicht bemerkte habe.“
„Kein Problem, kleine Leute bleiben oft verborgen.“ Er kicherte ein wenig zu lange.
„Darf ich fragen, welche Organisation sie vertreten.“ Martin wollte es endlich wissen.
„Ich habe gewechselt. Ich bin jetzt Pressesprecher der non profit-Organistion 'International Brain Care'.“
„Auch wenn sie mich jetzt für einen hoffnungslosen Ignoranten halten, ich kenne diesen Verein nicht.“
„Oh, das geht vielen so. Ist relativ neu und wird von verschiedenen Organisationen getragen.“ Wie aufschlussreich.
„Damals hatten sie eine kritische Frage gestellt?“
„Nun ja, ich war schon ein wenig skeptisch. Aber sie haben ja recht behalten. NeuroX ist ein voller Erfolg, vor allem kommerziell. Ich habe gestern schon von Herrn Thomsen erfahren, wie gut es läuft.“
„In der Tat, wir sind sehr zufrieden, dass es vielen Menschen so gut hilft.“
„Und Ihnen hat es ja auch geholfen.“ Er versuchte schelmisch auszusehen. „Herzliche Gratulation!“
„Danke. Die neue Aufgabe ist sehr interessant.“
„Na gut, ich muss jetzt weiter, vielleicht trifft man sich ja wieder. In dieser Branche ist die Welt klein.“
Nach dem glorreichen Anlegemanöver im alten Hafen, beobachtet und fotografiert von einer Touristentraube, die nach dem Auftauchen von Promis lechtzten, war alles zu Ende. Vom eigentlichen St.Tropez hatte er nichts gehabt, kein Glas Wein am Place des Lices mit den abendlichen Boule-Spielern und eingestreuten wirklichen Berühmtheiten, kein Pint Lager im Irish Pub am alten Fischerhafen mit den kleinen, ärmlichen, aber malerischen Fischerbooten gleich neben den unerhörten Luxusjachten, kein beschauliches Beobachten der vorbeifließenden Menschen bei einer Tasse Cafe au Lait in den roten Stühlen des Cafe Senequier, wo die Zigarettenasche einfach auf den Boden geschnippt wurde und dessen Weiterbestand und Unveränderbarkeit testamentarisch geschützt war, kein Spaziergang zum wohl romantischsten Friedhof der Welt mit dem schönsten Blick der Stadt aufs Meer Es war alles noch da, nur nicht für ihn. Ein Hubschrauber brachte ihn und Maurus zurück zum Airport und Maurus verabschiedete sich zu anderen Ufern.
Als er im Dunkeln seine kleine PC6 warten sah, wurde es ihm warm ums Herz. Frohgelaunt gab er die Koordinaten von Buochs ein und war drei Stunden später wieder zu Hause. Und zur Abrundung seines Wohlbefindens schnurrte ihm schon Agathe entgegen. Gemeinsam mit ihr las er seine Zeitung und amüsierte sich über einen Artikel, nach dem eine amerikanische Studie herausgefunden hatte, dass die 12 – 16 Jährigen immer dümmer und dicker werden und meist nur noch sogenannte reality shows im Fernsehen konsumierten. Es fiel ihm ein Begriff ein, den er unlängst gehört hatte: 'scripted reality'. Das geschieht den Verblödeten recht, dachte er, dass sie auch noch verarscht wurden. Ihn betraf es ja nicht und er sah sich am Ende des Tages mit wohligem Gruseln zum fünften Male die BBC-Dokumentation über die giftigsten Tiere der Welt an. Nach Australien würde er bestimmt nicht reisen.