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In der Arbeit zu Hause sein?
ОглавлениеDie zeitgemäße Kritik an der Bedeutung von Arbeit für sozialwissenschaftliche und auch feministische Theorie und gesellschaftliche Praxis erfahre ich als persönliche Verunsicherung. Denn Arbeit erinnere ich als fast magisches Zentrum meines Lebens von klein an.
Arbeitsbiographie
Da war zunächst das Milchholen beim Bauern. Meine um zwei Jahre ältere Schwester durfte das, ich nicht. Milchholen war Arbeit. Vor mir ein abenteuerliches Leben voller Bedeutung und Wichtigkeit. Ich würde eine halbe Stunde früher aufstehen müssen, weil ich etwas Großes vorhatte; ich würde einen weiten Weg alleine gehen, auf dem ich Gänse passieren musste, vor denen ich mich fürchtete; ich würde die Milch nach Hause bringen, die nötig war und gut schmeckte, und ich würde mich weder verlaufen, noch etwas verschütten, noch zu lange brauchen. Dann würde ich wesentlich älter sein als mein zwei Jahre jüngerer Bruder. Milch holen – die Worte verbanden sich mit Gefühlen von Wildheit, Unabhängigkeit, Größe und Welt und mit einer Unsicherheit, die ich unbedingt wollte. Endlich. Das Hochgefühl hielt einige Wochen an. Ich entdeckte Abkürzungen mit anderen Gefahren. Die schreienden Gänse mit vorgestreckten Hälsen ließen sich umgehen, wenn ich vom Weg abwich und einen eingezäunten Acker durchquerte. Dafür musste ich so schnell laufen, dass der Bauer mit dem Stock mich nicht erreichte. Beim Klettern über die Zäune verschüttete ich oft Milch, aber ich brauchte fast 5 Minuten weniger Zeit. Wenn ich hinfiel, kam Dreck in die Kanne. Langsam wurde das Milchholen zu einer lästigen Aufgabe, der ich mich so dringlich zu entledigen suchte, wie ich sie zuvor gewünscht hatte. Glücklicherweise hatte mein Bruder das gleiche Verlangen nach Größe. Die Pflicht ließ sich abgeben. Aber das Milchholen war ja nur ein Anfang gewesen. Ich war jetzt groß genug, andere häusliche Aufgaben zu übernehmen. Die Enttäuschung über die vergangene Lust spornte mich an, frühzeitig auf Abhilfe zu sinnen. Ich verschwand, wenn es ans Abwaschen ging; ich wurde krank, wenn der Frühjahrsputz nahte; kurz, ich verwendete all meine Energie auf die Vermeidung von Arbeit. Für die Schule entwickelte ich Rationalisierungsstrategien. Alle Fächer wurden von mir so gelebt, dass ich ohne Arbeit durchrutschen konnte. Wenn irgendeine Note sich in den Gefahrenbereich »4« begab, war ich untröstlich, denn das bedeutete: ich musste arbeiten. Als Fahrschülerin verbannte ich solche Hausaufgaben in die Zeit im Zug und in die Pausen, sodass alle übrige Zeit »frei« war zum Lesen, Träumen und Durch-die-Wälder-Streifen. Hier arbeiteten wir schwer, indem wir Hütten bauten, Stollen gruben, ja Bäume fällten und Zweige flochten.
In dieser Zeit nannte man mich zuweilen »Schneckchen«, weil ich herausgefunden hatte, dass Arbeiten im Hause weniger werden, wenn man sich ihnen so widerwillig und langsam nähert, dass ein anderer sie stattdessen ergreift. Meine gesamte Lebensorganisation war bestimmt durch Arbeit bzw. ihre Vermeidung. Ja meine Moral wurde durch sie zersetzt, weil ich häufig ihretwegen lügen musste.
Das Gefühl vom ersten Milchholen wiederholte sich, als ich an die Universität kam. Mein größtes Unglück war, dass in den ersten zwei Wochen fast nichts los war. Aber dann warf ich mich in den Rausch des Lernens. Ich belegte zwanzig Seminare und Vorlesungen, übernahm sieben Referate im ersten Semester. Die Universität betrat ich um acht Uhr früh und verließ sie abends um zehn Uhr, um dann noch tanzen oder schwimmen zu gehen und endlos zu diskutieren. Meine Nahrung war Schokolade. Ich war begeistert. In den folgenden Semestern verschob ich die Lernstunden nur wenig; mehr Zeit für die Bibliotheken ergab sich durch ein kritischeres Urteil über einige Veranstaltungen, die ich darum aus dem Stundenplan strich. Nur in zwei Semestern änderte ich meine Lebensorganisation: einmal, weil ich zu verliebt war, um überhaupt in die Universität zu gehen; ein andermal, weil ich in zu viele politische Veranstaltungen und Demonstrationen verwickelt war, um die davon noch unberührten Seminare bei den Historikern besuchen zu können. Mein Studium wurde lediglich dadurch gestört, dass ich arbeiten musste, um Geld zu verdienen. Aber auch dieses konnte ich durch Erlangen einer der so begehrten »Hilfswissenschaftlerstellen« schon im dritten Semester regeln. Ach, wenn es ewig so bleiben könnte!
Nach dem zehnten Semester mehrten sich Fragen nach dem Studienabschluss; viele, mit denen ich begonnen hatte, schrieben an ihren Examensarbeiten oder hatten die Universität ohne Abschluss verlassen. Der Gedanke an eine Dissertation machte mich krank. Ich schrieb mehr und mehr Referate, um das große Referat nicht schreiben zu müssen. Da plötzlich erfuhr ich in einer ansonsten langweiligen Vorlesung etwas Aufregendes: In der frühen Sowjetunion hatte es »Arbeitseinsätze« gegeben, in denen große Menschengruppen unentgeltlich ihre Samstage damit verbrachten, einen Beitrag für den gesellschaftlichen Aufbau zu leisten. Sie wurden Subbotniks genannt. Lenin selbst beteiligte sich an ihnen. Er, den ich mir als Tag und Nacht arbeitend, schreibend, bedenkend und aufrüttelnde Reden haltend, als ständig überarbeitet und erschöpft dachte. In die Lethargie des drohenden Examens kam die Lust des frühen Milchholens, bereichert um den Hüttenbau der Schulzeit und die Ausdehnung der Universitätsjahre. Hier war in meiner Vorstellung ein ganzes Volk gemeinsam unterwegs in dieser begeisterten Lust, zusammen lebendig zu sein in der Arbeit.
Arbeit, so hatte ich zunächst geglaubt, das ist das Glück des Lebens. Arbeit ist Langeweile, Mühsal, ja Elend und tritt an die Stelle des Lebens – dies waren die Erfahrungen und Lehren insbesondere aus meiner Schulzeit. Der Stachel blieb. Arbeit, so empfand ich jetzt wieder, das ist Zukünftiges und schon wirklich heute.
In kühnem Schwung verband ich die Mühseligkeit der Arbeit mit der Entwicklung der Theorie von Aristoteles bis Hegel und ihre Lust mit der Wirklichkeit der Subbotniks und der Theorie des Marxismus. In diesen Rahmen spannte ich mein Dissertationsprojekt. Es scheiterte nicht daran, dass ich zu wenig arbeitete. In stummem Vorwurf stehen vor mir noch die vielen Bücher, die das Feuer der Subbotniks ebenso erstickten wie meine Lust am Arbeitsvorhaben und damit meine Möglichkeit, diesen Text überhaupt zu schreiben. »Die Erziehung zur Liebe zur Arbeit« – das war der Tenor der Schriften aus der Sowjetunion und aus der DDR, die ich mit so viel Hoffnung aufgeschlagen hatte. Übrig blieb der staubige Geruch aus dem Schulzimmer, der Geist jener Arbeiten, denen ich in meiner Kindheit so erfolgreich aus dem Wege gegangen war. Eine Moral sollte installiert werden; gegen einen angenommenen Sinn für Faulheit sollte die Formierung zur Arbeitsamkeit treten. Disziplin, Gehorsam, Ordnung hatten die Plätze der freudigen, schöpferischen, neuen, lebendigen Freiwilligkeit eingenommen. Ein nützliches Glied der Gesellschaft zu sein, das war nicht mehr Geheimnis, Aufbruch, Lust und Gemeinsamkeit – das war individuelle Pflichtübung, gefordert von Lehrern, die darüber ebenso lustlos schrieben, wie die Schüler sich offenbar dazu verhielten – will man den Büchern Glauben schenken. Aus dem Frühlingssturm des lebendigen Wollens war der eisige Wind der Arbeitspflicht geworden. Aus der Lust, ein Mensch sein zu wollen, wurde die Not eines Zöglings in einer Besserungsanstalt. Ich gab auf. Mein Projekt schob ich ins Vergessen. An seine Stelle rückte eine Tochter.
Die Unruhe trieb mich zurück in die Universität. Acht Jahre später gründete ich das Projekt Automation und Qualifikation (vgl. zuletzt PAQ 1987). Hinter dem eher nüchternen Namen suchte ich erneut jenem Geheimnis des frühen Milchholens auf die Spur zu kommen. War es nicht möglich, dass die Entwicklung der Technologie die Arbeit so weit von aller Last, von Monotonie und Dummheit befreien konnte, dass die Arbeitenden endlich anfingen, ihre lebendige Tätigkeit wie Menschen schöpferisch und lustvoll zu leben? Könnte Arbeit jetzt so gestaltet werden, dass lebenslanges Lernen eine Gewohnheit wurde? Zusammenarbeit zur wechselseitigen Stärkung führte? Phantasie zur Notwendigkeit? Und müsste nicht eine solche Technologie aus den privaten Verwertungszwecken ganz unabdingbar zurückgeholt werden ins Gesellschaftliche? Allerdings dachten wir solche Möglichkeiten nicht als harmonische automatische Folge der Entwicklung der Produktionsmittel. Vielmehr folgten wir auch hier Marx, der solche Zusammenstöße von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als Katastrophe, als Fragen von Leben und Tod annahm.
Wir versuchten, uns ein solches Individuum vorzustellen, welches lernend arbeitet und arbeitend vornehmlich seinen Kopf betätigt, in dieser Weise verbunden mit anderen. Wir suchten das »total entwickelte Individuum« und Elemente seines Möglichseins hier und heute. Unversehens stellten wir uns die kommenden Arbeiter als Wissenschaftler vor – eigentlich als Mitglieder unseres Forschungsprojekts. Ungleich uns selber hatten sie jedoch keine Körper – zumindest keine Arbeitskörper. Solch einseitige Betrachtung der Menschen schien uns jedoch auch in eine Perspektive zu verweisen, in der die Kultur der Körper gesellschaftliche Tat wird und an die Stelle des einfachen Verbrauchs von Arbeitskraft treten kann. Klaus Holzkamp war so etwas wie ein Ehrenmitglied unseres Projekts. Wir nannten ihn nach dem damaligen erfolgreichen Radsportler den Eddy Merx der Psychologie – ein Name, der zugleich auf das marxsche Erbe wie auf den unendlichen Arbeitseifer verwies, mit dem Holzkamp die Kritische Psychologie Stein um Stein aufbaute. Eigentümlicherweise hatten wir für diese geistige Arbeit eine Figur als eine Art Code gewählt, die als Radsportler ausdrücklich körperliche Arbeit in physikalisch messbarem Umfang leistete – bis zur Erschöpfung. Nur dies schien uns angemessen, um diese Verwandlung von Lebenskraft in Energie der Veränderung zu kennzeichnen. Zum damaligen Zeitpunkt meinten wir das durchaus nicht kritisch. Vielleicht ist es notwendig, selbst praktisch eine solche Verwandlung von Lebenszeit in selbstgewählte Arbeitszeit zu leben, um schließlich doch – wie Klaus dies in der Grundlegung (1984) tat – die Botschaft von der Identität von gesellschaftlicher Reproduktion und der der Individuen zu hinterfragen. Wenngleich die Einzelnen Gesellschaft wiederherstellen müssen, indem sie ihr Leben erhalten, überlebt doch Gesellschaft, wenn Menschen sich selbst vergessen, zu wenig schlafen, essen, lieben und genießen und schließlich krank werden und sterben, und sie überlebt selbst dann, wenn Einzelne sich parasitär verhalten. Gebraucht wird eine Kultur des individuellen Lebens, gerade weil der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist.
Welche Rolle spielt eigentlich Arbeit in der Psychologie allgemein und welche in der Kritischen Psychologie? Der erste Teil der Frage ist schnell beantwortet: In den verschiedenen Abteilungen herkömmlicher Psychologie hat Arbeit so lange keinen Ort, wie sie nicht durch ihr praktisches Fehlen – in Gestalt von Arbeitslosigkeit – als Ursache psychischer Störungen behauptet werden kann. Daneben gibt es eine Spezialdisziplin: die Arbeitspsychologie – ihre Domäne sind die psychophysischen Vernutzungen durch den Gebrauch menschlicher Sinne, Muskeln und Nerven. Arbeit selbst aber als spezifisch menschlich zu sehen und von daher als grundlegende Dimension jeder Subjekttheorie zu begreifen, dies tut erst die Kritische Psychologie.
In diesem Selbstverständnis fühlten wir uns als Automationsprojekt im Psychologischen Institut wie die Fische im Wasser. Unsere Hoffnungen auf menschliche Entwicklung in der Automationsarbeit sahen wir gestärkt durch das von Ute Holzkamp-Osterkamp formulierte Konzept der »produktiven Bedürfnisse« (1975, 76). Gehört es nicht zur menschlichen Natur, eingreifen, gestalten und verändern zu wollen, sich die Welt anzueignen, um sie zum Wohle aller bewohnbar zu machen? Unser ungebrochener Optimismus in dieser Frage entstand zwar vor der Zeit, da die Meldung von Umweltkatastrophen fast täglich demonstriert, dass die Menschen ausgezogen zu sein scheinen, die Welt unbewohnbar zu machen. Jedoch wird unter diesen Verhältnissen der Einsatz für die Verwirklichung eines Menschseins umso dringlicher, welches zugleich die Bewahrung und Befriedung der Welt und die Entfaltung der individuellen Kräfte auf die Tagesordnung setzt.
»Das produktive Leben ist aber das Gattungsleben. Es ist das Leben erzeugende Leben. In der Art der Lebenstätigkeit liegt der ganze Charakter einer Spezies, ihr Gattungscharakter, und die freie bewusste Tätigkeit ist der Gattungscharakter des Menschen.« (MEW EB 1, 516)
In diesen Worten des jungen Marx fühlten wir uns aufgehoben, einig in der Kritischen Psychologie und wohlgerüstet für unser Automationsprojekt.
In Ute H.-Osterkamps Entwurf schließen die »produktiven Bedürfnisse« das Verlangen nach der Verfügung über die gesellschaftlichen Lebensbedingungen ein; der Protest gegen fremdbestimmte Produktionsverhältnisse kann mitgedacht werden. Die Vorstellung, dass der Mensch mit einem Verlangen nach produktivem Tun ausgestattet sein könnte, gab den in Sozialarbeit und Kindererziehung tätigen Psychologen unmittelbar Auftrieb. Sie übertrugen die kategoriale Form umstandslos auf die Wirklichkeit in Kindergarten und Schule – heraus kam eine neuerliche »Erziehung zur Liebe zur Arbeit«. Die einschnürende Kälte aus den alten Büchern meines früheren Dissertationsprojekts wurde gelockert durch die warme Fröhlichkeit der Erzieher. Die Umklammerung blieb. Vergeblich versuchten wir auf der methodischen Ebene den Status der Kategorie einzuklagen. Zu verführerisch war es, die alten Erziehungsziele von Fleiß, Disziplin, Ordnung usw. durch die neue Kritische Psychologie nicht nur zu legitimieren, sondern sogar mit dem Atem des Revolutionären zu beseelen.
Wir vom Forschungsprojekt zur Automationsarbeit wussten ›natürlich‹, dass der Begriff der »produktiven Bedürfnisse« nicht unmittelbar empirisch verwandt werden konnte. Aber konnten nicht »Ansätze«, »Triebkräfte«, »Formen« dieser menschlichen Ausstattung hier und heute gefunden werden? Das unlösbare Problem, mit dem wir uns herumschlugen, war kurz gesagt dieses: Die Vorstellung, dass dem Menschen ein Bedürfnis nach Produktion innewohne, ja dass er so sein Menschsein verwirkliche, verengte unseren Blick auf die Entwicklung einzelner Individuen in Bezug auf ihre Fähigkeiten zur Produktion im Denken, Planen, Können und Wollen. Dies trotz besseren Wissens um die Gesellschaftlichkeit des Menschen. Fragen der Zusammenarbeit mussten wir zusätzlich anfügen; gesellschaftliche Fremdbestimmung war für uns der beengende Rahmen, der das übergreifende Wollen behinderte, nicht selbst eine Form des Denkens und Handelns.
Die einzelnen Menschen gerieten uns zu bewusst tätigen Wesen; aber ihr Bewusstsein kreiste in unserem Entwurf nicht allein ausschließlich um Arbeit, es hatte ihr Sein aufgeschluckt.
Wie erleichtert waren wir, als Klaus Holzkamp in der Grundlegung nicht nur die »produktiven Bedürfnisse« ohne weitere Auseinandersetzung als zentrale Kategorie wieder verschwinden ließ (bzw. ersetzte durch die Wendung »produktiver Aspekt menschlicher Bedürfnis-Verhältnisse« [242]), sondern sich sogar an den Hauptbrocken wagte: Marx und die Arbeit. Ohne große Umstände wird jener Kronzeuge der vielen Bücher, die zur Liebe zur Arbeit erziehen wollten, jener historisch belastete Satz von »der Arbeit als erstem Lebensbedürfnis« aus Standpunkt und sozialistischer Perspektive entfernt:
»Nicht die ›Arbeit‹ als solche ist erstes Lebensbedürfnis, sondern ›Arbeit‹ nur so weit, wie sie dem Einzelnen die Teilhabe an der Verfügung über den gesellschaftlichen Prozess erlaubt, ihn also ›handlungsfähig‹ macht. Mithin ist nicht ›Arbeit‹, sondern ›Handlungsfähigkeit‹ das erste menschliche Lebensbedürfnis – dies deswegen, weil Handlungsfähigkeit die allgemeinste Rahmenqualität eines menschlichen und menschenwürdigen Daseins ist und Handlungsunfähigkeit die allgemeinste Qualität menschlichen Elends der Ausgeliefertheit an die Verhältnisse, Angst, Unfreiheit und Erniedrigung.« (243)
Endlich vorbei mit der Drohung von Arbeitserziehungslagern, der fröhlichen Unterwerfung im Kindergarten, der Lähmung durch die Schule, der puritanischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus, dem arbeitenden Gott?
Im Begriff der Handlungsfähigkeit sind die gesellschaftlichen Verhältnisse auf jeden Fall mitgedacht und einklagbar. Der Begriff hat zudem den Vorteil, Bewegung einzubeziehen. Es gibt Stufen von Handlungsfähigkeit, gab es Stufen von Arbeit? Arbeit konnte zum bloßen Produktivismus geraten; der gesellschaftliche Bezug konnte verloren gehen. Im Begriff der Handlungsfähigkeit dagegen denken wir den Kampf um die Balance in Gesellschaft, die Bewegung zu immer größeren Fähigkeiten des Handelns, den Erwerb dieser Fähigkeiten und die Verfügung über die Bedingungen, die beides umfassen. Ja, dies ist das erste menschliche Lebensbedürfnis, ohne Zweifel.
Die Befriedigung über diese Wendung wird kleiner durch zu viel Beifall.
Da sind zunächst die vielfältigen Stimmen aus der Frauenbewegung. Der marxsche Arbeitsbegriff taugt nicht für die Frauenbefreiung; schlimmer, er ist eigens erfunden, um die Frauenarbeiten verschwinden zu lassen. Arbeit bei Marx, das ist männliches Tun, Eingriff in die Natur bis zu ihrer Zerstörung, Produktion um der Produktion willen, Entwicklung der Technik bis zur Atombombe, Herrschaft des Geistes, der Rationalität über das Leben. Die Befreiung der Arbeit aus kapitalistischen Zwangsverhältnissen wurde als Befreiung des Arbeiters gedacht, nicht als die der Hausfrau. Überwinden wir auch diese Probleme mit dem Begriff der Handlungsfähigkeit? Zweifellos eröffnet er ein Feld, in dem Frauenunterdrückung und -befreiung artikulierbar werden. Er ist praktikabel, nützt hier und heute, ja selbst seine Perspektive ist aus den unendlichen Weiten frühmarxscher Utopie ins Machbare gerückt. Hat er jetzt wirklich das einstmals Gewollte eingeholt?
Als ich vor Jahren »arbeitslos« war, gab es in einer Arbeitsgruppe Kritischer Psychologen einen heftigen Streit um meine Behauptung, dass mein politisches Engagement, meine vielfältigen Aufgaben zu Hause und in Verlag und Redaktion der Zeitschrift Das Argument aus mir eine Person machten, die durch Arbeit mit der Gesellschaft verbunden war. Selbstredend dachte keiner daran, als Arbeit nur entlohnte Arbeit anzuerkennen; jedoch war klar, dass die gesellschaftliche Anerkennung und Einbindung ein wesentlicher Faktor der Menschwerdung war und vor allem, dass jede Änderung der Verhältnisse von innen aus den Erwerbsarbeitsprozessen kommen müsse, nicht von außen, von den Marginalisierten – Arbeitslosen, Hausfrauen, Subkulturen aller Art. Die Polemik ging so weit, dass die Möglichkeit von Persönlichkeitsentwicklung für Arbeitslose bestritten werden konnte. Damals – in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre – war das Phänomen der Arbeitslosigkeit noch nicht so allgemein. Heute, angesichts der Perspektive einer Abnahme »produktiver Arbeit« (Arbeit im produktiven Sektor) auf zehn Prozent bis zum Ende des 20. Jahrhunderts und einer strukturellen Arbeitslosigkeit, die jedes Jahr zunimmt, sind die Sozialwissenschaftler herausgefordert, den Zusammenhang von Arbeit und Leben zunächst einmal wenigstens neu zu denken.
Die Bewegung macht vor der Kritischen Psychologie nicht halt. In ihrem Umfeld hatten sich über die Jahre jene kritischen Geister gesammelt, die aus dem Phänomen der Arbeitslosigkeit eine glückliche Synthese von Psychologie und Gesellschaftskritik machen wollten. Entsprechend hieß schon der zweite Kongress der Kritischen Psychologen »Arbeit und Arbeitslosigkeit in kritisch-psychologischer Sicht« (1979). Die Positionen reichen bis heute von einer Behauptung psychischer Verelendung bei Arbeitslosigkeit bis hin zur umgekehrten Behauptung einer ungeahnten Möglichkeit für schöpferische Entfaltung durch Befreiung von den Zwängen fremdbestimmter Arbeit.
In seinem vor allem methodisch verdienstvollen Beitrag zur Arbeitslosigkeit (1986) kann Klaus Holzkamp vom Standpunkt der Handlungsfähigkeit der Menschen ihre Erfahrungen mit der Kategorie der »subjektiven Handlungsgründe« »psychologisch« erarbeiten. Arbeitslosigkeit rückt in den Rang einer Rahmenbedingung unter anderen, deren Verarbeitungsform überhaupt nicht notwendig ein Problem für Psychologen wird, sondern nur dann, wenn die Betroffenen nicht wissen, wie sie ihre Reaktionen auf das unmittelbar Erfahrene selbst handhaben können. Gegenstand der Psychologie sind hier nicht die Arbeitslosigkeit oder die Arbeit, sondern die Erfahrung der Individuen mit Arbeitslosigkeit. Arbeit ist dabei nicht nur die Form der gesellschaftlichen Tätigkeit, welche gesellschaftliche Integration gewährt, sie ist zudem ein Feld der Bedeutungen und von daher auch Gegenstand der ideologischen Kämpfe und der Ideologieforschung.
Diese Verschiebung des Gegenstandes der Psychologie von der Vorstellung, Arbeit sei Wesensmerkmal des Menschen, primäres Bedürfnis, hin zu dem Vorschlag, die Erfahrungen der Individuen und damit das Verhältnis von »unmittelbarem« zu »unmittelbarkeitsüberschreitendem«
Weltbezug als Rahmen für individuelle Handlungsfähigkeit zu behaupten, löst das Problem des normativen Umgangs mit Menschen, verneint die »Erziehung zur Liebe zur Arbeit«. Veränderungen werden im Rahmen des Möglichen machbar. Wo aber blieb dabei die Hoffnung, die an der Wiege jener erstarrten Konzepte von der Entwicklung durch Arbeit stand? Welche Dimension büßten wir ein, als wir die Identität von individueller Entfaltung und Arbeit aufgaben zugunsten der ökonomisch-politischen Rahmensetzung von Arbeitsplatzsicherheit oder Arbeitslosigkeit und der ideologischen Besetzung dieses Feldes von Arbeit, welches die Erfahrungen der Einzelnen mitbestimmt? Gehört am Ende unsere anfängliche Sehnsucht nach Sinnesentfaltung, Lust und Schaffensfreude, Neugier, Mühe und Wetteifer ebenfalls in den Bereich des Ideologischen?
Marx und die Arbeit
Nicht nur die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Unternehmerverbände haben Arbeit zum Feld ideologischer Bedeutungskämpfe erkoren. Der »Wertwandel« um Arbeit hat auch die Sozialwissenschaften, allen voran die Soziologie erschüttert. Die Bedeutung, die Arbeit für den Einzelnen hat, soll gesellschaftlich ermäßigt werden. Das erlaubt mehr psychische Stabilität bei Arbeitslosigkeit, weniger Marginalisierung jener, die keine Arbeit haben, wenn diese ohnehin nicht mehr so zentral ist wie etwa eine Familie. Das Umfrageinstitut INFAS versorgt die Öffentlichkeit regelmäßig mit den neuesten Nachrichten über die Abnahme des Stellenwerts, den Arbeit für die einzelnen Gesellschaftsmitglieder – insbesondere die jüngeren – hat. Die Gesellschaft wandelt sich auf kluge Weise: In dem Maße, wie industriell weniger Arbeitskräfte gebraucht werden, da die Produktivitätssteigerung nicht durch Wachstum zugunsten gleichbleibenden Arbeitseinsatzes in den gleichen Industriezweigen ausgeglichen wird, in dem Maße verlieren auch die Arbeitenden den Wunsch nach Arbeit. Sie streifen ihre protestantische Arbeitshaut ab und entwickeln zugleich Neigungen, die nicht notwendig das Arbeitslosengeld überschreiten: z. B. ein Bedürfnis nach Kommunikation, nach Freundschaft und Nähe, Nachbarschaftlichkeit und ehrenamtlichen Tätigkeiten in der Altenpflege, der Behindertenfürsorge. In »nicht-entfremdeter« Gestalt – in Freizeit und Hobby oder in alternativen Projekten – entfalten sie genau die Hoffnungen, die am Anfang meiner Arbeitsdiskussion standen: »Selbsttätigkeit«, »freie Tätigkeit«, »Sinnengenuss«, »Aufhebung der Verkehrung von Mittel und Zweck«. Folgen wir zum Beispiel Dahrendorfs »Ende der Arbeitsgesellschaft«, so sind die Menschen heute in den Genuss der Aufhebung der entfremdeten Arbeit (also in den Bereich des Kommunismus) gekommen, ohne irgendeine gesellschaftliche Revolution gemacht zu haben.
Auch die »Verwandlung der Arbeit in Selbstbetätigung und die Verwandlung des bisherigen bedingten Verkehrs in den Verkehr der Individuen als solcher« (MEW 3, 68) hatte sich Marx nur durch eine Revolution herbeiführbar gedacht; genau diese Dimensionen aber sind es auch, die in der Soziologie – etwa von Habermas – an die Stelle des Arbeitsbegriffs treten sollen: Selbsttätigkeit und kommunikatives Handeln. Habermas spricht von der »Erschöpfung utopischer Energien« und meint die Projekte, die die Emanzipation der Arbeit von Fremdbestimmung erstreiten wollten: vornehmlich Marx und die Arbeiterbewegung. »Das politische Anregungspotenzial der arbeitsgesellschaftlichen Utopie« sei erschöpft; Widerstandspotenziale sammelten sich »im Sog einer fortschreitenden bürokratischen Erosion der aus naturwüchsigen Zusammenhängen freigesetzten, kommunikativ strukturierten Lebenswelten« an (Habermas 1985, 141 ff).
Habermas empfiehlt, die Hoffnung auf revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft durch die Arbeiterbewegung aufzugeben. Ebenso sei nicht auf den Wohlfahrtsstaat mit Vollbeschäftigungspolitik als Befriedung der Klassen zu setzen. Widerstand käme aus den neuen sozialen Bewegungen; demnach sei die Lebensweise (nicht die Arbeitsweise) Ferment für Umwälzungen. Es geht ihm um die Ersetzung der im marxschen Arbeitskonzept angelegten Revolutionstheorie. Aber reduzierte denn Marx sein Befreiungsprojekt auf die Aufhebung der entfremdeten Arbeit und die Emanzipation der (vermutlich männlichen) Arbeiter? Oder anders: Wie wäre denn mit Marx über die neuen sozialen Bewegungen zu denken und über die Befreiung der Lebensweise?
Holzkamp bezieht sich ebenso auf ein Handlungs- (und Handlungsfähigkeits-) Konzept. Für ihn steht allerdings die Zentralität einer auf die Arbeiterbewegung zählenden Revolutions- oder auch Gesellschaftsveränderungstheorie außer Frage. »Bewusstes Handeln auf klassenspezifische Lebensbedingungen« ist ein tragendes Element seiner Theoriebildung. Wie aber kommen bei ihm Selbsttätigkeit, Genuss und Selbstverwirklichung, kurz, wie kommt die Hoffnung vor, die Habermas als »utopische Stärke« bezeichnete?
Verunsichert durch die vielen bis hierher aufgeworfenen Fragen, scheint es mir an der Zeit, Marx noch einmal neu zu lesen. Das Gelände ist ein Kampfplatz. Verschiedene Richtungen beziehen sich auf Marx und sprechen dabei höchst gegensätzlich über seinen Arbeitsbegriff. Sie schlagen aufeinander ein mit Behauptungen, Marx wäre der Theoretiker der Abschaffung der Arbeit oder umgekehrt, er habe ihre Ewigkeit begründen wollen. Arbeit stehe bei ihm im Zentrum von individueller und von Menschheitsentwicklung. Sie begründe Gesellschaftstheorie recht eigentlich und sie sei ein bloßes Synonym für Herrschaft und Sklaverei. Die so sprechen, haben ihren Marx gelesen. Wie ausgerupfte Federn hängen Marxzitate als schmückendes Belegwerk in ihren Texten. Legt man die Beweisstücke nebeneinander, so kommt man unweigerlich zu dem Resultat: Marx hat seine Auffassungen geändert wie eine Wetterfahne die Richtung. Er hat alles zu Arbeit gesagt, als wäre sie nichts Ernstzunehmendes. Wie nun mit Marx verfahren, wenn wir die dogmatische Lesweise vermeiden wollen, die aus einem Zitat eine Theorie von ewiger Beständigkeit entwickelt, um in kirchlicher Manier dieselbe als wahr und einzig richtig zu verkünden? Verfahren wir nicht ebenso rechthaberisch, wenn wir die unterschiedlichen Verwendungen in einen Zusammenhang bringen wollen? Oder können wir uns damit zufriedengeben, Marx sei eben widersprüchlich; er wechsle die Paradigmen, wie dies heute modern ist, oder er habe nur in seinen Frühschriften Wahres verkündet und sei einer, der mit dem Alter nicht klüger wurde, sondern dümmer?
In der philosophischen Tradition und in der neueren Nationalökonomie (Smith, Ricardo) fand Marx einen Arbeitsbegriff in einem bedeutungsvoll umstrittenen Feld: Arbeit war Tätigkeit der Armen; sie war Mühsal und Plage, erschöpfte die Lebensgeister, ja sie war für viele an die Stelle des Lebens getreten. Aber Arbeit war auch Quelle des Reichtums und aller Werte.
»[…] es ist das Interesse aller reichen Nationen, dass der größte Teil der Armen nie untätig sei und sie dennoch stets verausgaben, was sie einnehmen […] Diejenigen, die ihr Leben durch die tägliche Arbeit gewinnen, haben nichts, was sie anstachelt, dienstlich zu sein außer ihren Bedürfnissen, welche es Klugheit ist zu lindern, aber Narrheit wäre zu kurieren […] folgt, dass in einer freien Nation […] der sicherste Reichtum aus einer Menge arbeitsamer Armen besteht« (B. de Mandeville, Die Bienenfabel, 173, 269; zit. n. MEW 23, 643).
Arbeit als Bindeglied zwischen Armut und Reichtum, als widersprüchliche Voraussetzung für beides – zunächst arbeitet Marx die Position von Arbeit in diesem provozierenden Gegensatz als Dimension von Herrschaft aus. In der politischen Form der Arbeiteremanzipation sei die allgemein menschliche Emanzipation deshalb enthalten, weil
»die ganze menschliche Knechtschaft in dem Verhältnis des Arbeiters zur Produktion involviert ist, und alle Knechtschaftsverhältnisse nur Modifikationen und Konsequenzen dieses Verhältnisses sind« (MEW EB 1, 521).
In seinen frühen Schriften finden wir eine Reihe von Sätzen, die im Sprachmaterial der Zeit Arbeit selbst als Entfremdung fassen.
»Denn erstens erscheint dem Menschen die Arbeit, die Lebenstätigkeit, das produktive Leben selbst nur als ein Mittel zur Befriedigung eines Bedürfnisses, des Bedürfnisses der Erhaltung der physischen Existenz. Das produktive Leben ist aber das Gattungsleben. Es ist das Leben erzeugende Leben.« (MEW EB 1, 516) Alle »menschliche Tätigkeit [war] bisher Arbeit, also Industrie, sich selbst entfremdete Tätigkeit« (MEW EB 1, 542 f).
Diese Auffassung, dass Arbeit selber die Form ist, in der Herrschaft sich äußert, und keineswegs etwa »erstes Lebensbedürfnis«, findet ihren konsequenten Ausdruck in der Schlussfolgerung, es sei die Arbeit, die abgeschafft gehöre:
»Es ist eines der größten Missverständnisse, von freier, gesellschaftlicher, menschlicher Arbeit, von Arbeit ohne Privateigentum zu sprechen. Die ›Arbeit‹ ist ihrem Wesen nach die unfreie, unmenschliche, ungesellschaftliche, vom Privateigentum bedingte und das Privateigentum schaffende Tätigkeit. Die Aufhebung des Privateigentums wird also erst zu einer Wirklichkeit, wenn sie als Aufhebung der Arbeit gefasst wird.« (Marx 1845, 25)
»Schließlich erhalten wir noch folgende Resultate aus den entwickelten Geschichtsauffassungen: […] 3. dass in allen bisherigen Revolutionen die Art der Tätigkeit stets unangetastet blieb und es sich nur um eine andere Distribution dieser Tätigkeit, um eine neue Verteilung der Arbeit an andere Personen handelte, während die kommunistische Revolution sich gegen die bisherige Art der Tätigkeit richtet, die Arbeit beseitigt« (MEW 3, 69 f).
Ich nehme nicht an, dass Marx hier tatsächlich daran dachte, Arbeit gefasst als Stoffwechsel des Menschen mit der Natur aufhebbar zu denken, dass er ewige Muße versprach oder die Abschaffung der Industrie mit dem Überleben der Menschheit für vereinbar hielt. Arbeit als Formbegriff zu denken zwingt uns vielmehr dazu, zu rekonstruieren, was eigentlich in die Form der Arbeit verkehrt wurde, welche »Substanz« also hier zu befreien ist. In der entfremdeten Form finden sich: freie Lebensäußerung; Genuss des Lebens; die Betätigung des menschlichen Gemeinwesens; Selbstbetätigung; Bewusstsein, ein menschliches Bedürfnis befriedigt zu haben; in der Liebe sich bestätigt wissen (vgl. MEW EB 1, 462 f); die Entwicklung der Individuen zu totalen Individuen; der Verkehr der Individuen als solcher (vgl. MEW 3, 68); bewusste, freie Lebenstätigkeit als Gattungswesen (vgl. MEW EB 1, 516) u. v. m. Die Betonung liegt auf der »freien Tätigkeit« oder »Selbsttätigkeit« – diese ist immer im Verhältnis zur Gattung gedacht, als gattungsspezifisches Merkmal. Die Menschen sind als Gattungswesen produktiv füreinander tätig, dies bestimmt ihren Verkehr untereinander, das Gemeinwesen und die Entwicklung der Individuen. Diese Selbsttätigkeit ist Genuss. Das Leben selbst ist lustvolle Produktion. Von solchen marxschen Sätzen ausgehend könnten wir »Selbsttätigkeit als erstes Lebensbedürfnis« formulieren, das Gemeinwesen als produktiven Zusammenhang denken und Entwicklung der Individuen durch freie Lebenstätigkeit – aber wir kämen niemals auf die sozialwissenschaftlich moderne Abwehr: nicht Arbeit dürfe fürderhin im Zentrum von Gesellschaftstheorie stehen (wie angeblich bei Marx), sondern Kommunikation oder Lebensweise (Lebenswelt). Es ist ganz offensichtlich, dass Marx diesen Unterschied zwischen Arbeits- und Lebenswelt nicht machte bzw. dass es ihm um die Revolutionierung dessen ging, was heute »Lebensweise« genannt wird. Diese begriff er als den gemeinschaftlichen genussvollen, tätigen Zusammenhang der Individuen eines Gemeinwesens. Inbegriffen sind die Verkehrsformen, die Liebe, das Leben selbst. Leben ist ihm allerdings in jedem Fall tätiges Leben. Die Lebensweise wird verkehrt durch die Produktionsverhältnisse, die Art und Weise, wie die Menschen ihr materielles Leben produzieren. Vereinfacht gesprochen tun sie dies im Laufe der Geschichte zunächst so, dass die einen der Selbstbetätigung frönen, während die anderen das materielle Leben erzeugen (vgl. auch MEW 3, 67 f).
Selbstbetätigung als Perspektive der Befreiung bezieht sich auf die Erzeugung des materiellen Lebens – dieser Bezug ist notwendig, um Leben ohne Herrschaft überhaupt denken zu können. Die Erzeugung des materiellen Lebens durchläuft so verschiedene Entwicklungsstufen – eine Form ist die Arbeit. Sie ist die unmittelbarste Verkehrung, »negative Form der Selbstbetätigung« (vgl. MEW 3, 67.). Das Leben selbst gerät mit sich in Entzweiung. In dieser Negation entfaltet Marx analytische Bestimmungen, die auch im späteren Kapital erhalten bleiben:
»Also durch die entfremdete entäußerte Arbeit erzeugt der Arbeiter das Verhältnis eines der Arbeit fremden und außer ihr stehenden Menschen zu dieser Arbeit. Das Verhältnis des Arbeiters zur Arbeit erzeugt das Verhältnis des Kapitalisten zu derselben, oder wie man sonst den Arbeitsherrn nennen will. Das Privateigentum ist also das Produkt, das Resultat, die notwendige Konsequenz der entäußerten Arbeit, des äußerlichen Verhältnisses des Arbeiters zu der Natur und zu sich selbst.« (MEW EB 1, 519 f.)
Und hier ist auch der spätere Sprachgebrauch schon vorfindbar. Nicht Arbeit selbst ist in den späteren Schriften Formbegriff, an diese Stelle tritt die »entfremdete Arbeit«. Zur Arbeit dagegen sagt Marx:
»Als nützliche Arbeit ist die Arbeit daher eine von allen Gesellschaftsformen unabhängige Existenzbedingung des Menschen, ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also des menschlichen Lebens zu vermitteln.« (MEW 23, 57; fast gleichlautend schon MEW 13, 23 f)
Arbeit ist in entfremdeter Gestalt ein Doppeltes, Bildnerin von Gebrauchswerten, zweckmäßig, und in dieser Weise unabhängig von den Gesellschaftsformationen und Tauschwerte produzierend oder setzend, Reichtum schaffend; solches ist sie nur unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen. Die damit zusammenhängenden Verkehrungen/Entfremdungen werden im Kapital ausführlich analysiert. Die Erkenntnis vom Doppelcharakter der Arbeit ist elementar für die Analyse des Kapitalismus als warenproduzierender Gesellschaft. Aber die Erzeugung des materiellen Lebens als Selbsttätigkeit – dies bleibt die Perspektive. Sie umfasst die Herrschaftslosigkeit in der Produktionsweise und damit die Beseitigung des Privateigentums (der Tauschwertakkumulation) als gesellschaftliches Regelungsprinzip und das Begreifen der Gesetze der Natur, um Katastrophen entgegenzuwirken.
Die Perspektive der »freien Tätigkeit« wird als Prozess gefasst: es geht um das Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit. Das Moment der Notwendigkeit in der materiellen Produktion soll so immer weiter zurückgedrängt werden zugunsten des freiheitlichen Moments von Selbsttätigkeit. Im Reich der Notwendigkeit wird Arbeit ein Verteilungsproblem – alle sollen Arbeit aus Not zu gleichen Teilen bewältigen; im Reich der Freiheit geht es um eine andere Art von Tätigkeit, in der die herkömmliche Arbeitsteilung, insbesondere die von Kopf- und Handarbeit, nicht gilt. Der Weg geht über die Entwicklung der Produktivkräfte, die den Notwendigkeitscharakter bei der Erzeugung des materiellen Lebens ermäßigen; und er geht über die Entzweiung der menschlichen Arbeit, ihre Entfremdung. Die entfremdete Arbeit muss gewaltsam aufgehoben werden, dadurch dass der Mensch sich die von ihm geschaffenen Produktivkräfte schließlich aneignet, dies im umfassenden Sinn. Umgewälzt werden müssen die gesamten Produktionsverhältnisse, die die Verkehrung der menschlichen Gattung so weit trieben, dass alle Entwicklung, aller Reichtum, Kultur, die gegenständlichen Arbeitsbedingungen sich gegen die Arbeitenden versachlichten und zur Macht über sie wurden. Dieser Widerspruch kann nur durch einen Bruch in eine neue Form gebracht werden. In der Kritik des Gothaer Programms skizziert Marx die Stufe der genossenschaftlichen (gesellschaftlicher Besitz der Produktionsmittel) Gesellschaft, die – eben weil sie aus der kapitalistischen hervorgeht – die Muttermale dieser Gesellschaft trägt: »in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig«. Dann entwirft er als höhere »kommunistische Gesellschaft« ein Gemeinwesen, welches die Verkehrungen der Arbeit überwunden hat, und erst in diesem Zusammenhang fällt die Äußerung von der »Arbeit als erstem Lebensbedürfnis«.
»[…] nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« (MEW 19, 21)
Diese Äußerung hat zu vielerlei Einseitigkeiten beigetragen. Neben der Vorstellung, Individuen, denen eine »arbeitsscheue« Haltung attestiert wird, könnten unter Berufung auf Marx zu solchen, denen »Arbeit zum ersten Lebensbedürfnis« wird, erzogen werden, war es auch gerade der Schlussaufruf »jedem nach seinen Bedürfnissen«, der Hoffnung und Befürchtung hervorbrachte, Marx könne eine Gesellschaft herbeigesehnt haben, in der die Bedürfnisse, die durch Kapitalismus und Überflussproduktion auf der einen Seite, Armut auf der anderen formiert sind, zum Maßstab gesellschaftlicher Regelung genommen würden. Dabei ist der Kontext eindeutig: Wenn es den Menschen gelingt, sich aus materieller Not und Herrschaft zu befreien, dann ist die Erzeugung des materiellen Lebens ihnen produktiver Genuss und Entfaltung ihrer Fähigkeiten. Dieses Bedürfnis werden sie leben können und insofern ihr Menschsein verwirklichen. Das schließt die Aufhebung jener Arbeitsteilungen ein, die die Entzweiung der menschlichen Arbeit als Grundlage von Gesellschaftsformationen hervorbrachten: die Teilung in Hand- und Kopfarbeit; in Männer- und Frauenarbeit; in Arbeit und Nichtarbeit. Beziehen wir das bis hierher Entwickelte auf die im ersten Teil entstandenen Fragen:
Der Arbeitsbegriff
Das Selbstverständliche und beim Reden über Arbeit zugleich immerfort Vergessene scheint mir, ihren Formcharakter zu beachten. Die unterschiedslose Weise, in der über Arbeit gesprochen und gedacht wird, ist Quelle der meisten Missverständnisse. Wir sprechen über Lohnarbeit, nennen sie Arbeit und kritisieren die Rede von der Arbeit als erstem Lebensbedürfnis. Und umgekehrt: Die Erziehung zu diesem ersten Lebensbedürfnis ist nicht nur in sich widersinnig, sondern zumeist auch nur Erziehung zur Lohnarbeit in den verschiedenen Ausprägungen, ununterscheidbar von einem Unterwerfungskonzept in Industriebetrieben. Wenn wir die »Substanz« meinen, die in unserer heutigen Gesellschaft hauptsächlich die Gestalt der arbeitsteiligen Lohnarbeit angenommen hat, sollten wir vorläufig umständlich von der »Selbstbetätigung in der Erzeugung des materiellen Lebens« sprechen.
Arbeit als Systembegriff?
Die Versuche, insbesondere von Offe (1984) und Habermas (1985), Arbeit aus dem Zentrum von Gesellschaftstheorie zu rücken, werden verständlicher, wenn man zuvor unterstellt, Marx habe eine Gesellschaftstheorie hegelscher Art entworfen, in der er an die Stelle des Geistes die Arbeit setzte (so etwa Rüddenklau 1982, aber auch Bischoff 1973, 323: »In der Entwicklungsgeschichte der Arbeit liegt der Schlüssel zum Verständnis der gesamten Geschichte der Gesellschaft.«). Marx schrieb dagegen über die Verhältnisse, durch die die Selbstbetätigung der Menschen verschiedene Formen annimmt: solche der Verkümmerung der Individuen, ihrer äußersten Entfremdung in der Arbeit, deren Verkehrung in Negativität. Wesentlich ist dabei die Arbeitsteilung. In der Herrschaftsanordnung wird solche Teilung naturwüchsig, heftet sich an zufällige körperliche Eigenarten. D. h., sie verbindet sich mit den Personen ein Leben lang, gehört ihnen an wie eine Sache, sodass selbst das Bewusstsein einer »freien Tätigkeit« verschwindet. Die Arbeitsutopie habe keine Kraft mehr, sagt Habermas, ins Zentrum rücke die Lebensweise. In allen marxschen Schriften wird deutlich, dass es Marx um die Revolutionierung der Lebensweise ging, die er allerdings durch die Produktionsweise bestimmt sah. Ersetzt man den schillernden Arbeitsbegriff durch seine »Substanz«, so hören sich solche Marx-Verabschiedungen so seltsam an, wie sie sind. Es ginge jetzt nämlich darum, die Erzeugung des materiellen Lebens, also des Lebens selbst und der Lebensmittel, nicht mehr so wichtig zu nehmen, dass Gesellschaftstheorie von dieser Grundlage ausgehe. Hinter den Verabschiedungen steckt die Frage, ob die Erzeugung des materiellen Lebens u. U. herrschaftsförmig geregelt bleiben könnte und gleichwohl menschliche Entwicklung und menschliches Glück möglich wären, Befreiung also auf Lebensausschnitte beschränkt bleiben könne. Das Problem, auf das so geantwortet wird, ist, dass man sich nicht vorstellen kann, dass in unseren kapitalistischen Gesellschaften revolutionäre Umgestaltung möglich sei und horizontale Vergesellschaftung machbar. Die Wirklichkeit von neuen sozialen Bewegungen mit Alternativprojekten hier und heute scheint den Ausschnitt-Lösungen recht zu geben. Die sich stets zuspitzende Katastrophenlogik kapitalistischer Gesellschaften im Weltmaßstab zerschlägt aber die Illusion, eine lebenswerte Zukunft ohne Einfluss auf die Rahmenbedingungen des Handelns im Großen zu haben. Es scheint mir dabei übrigens kein Zufall zu sein, dass die Frauenbewegung zwar zunächst immer als eine der sozialen Bewegungen genannt, bei der weiteren Diskussion aber sogleich vergessen wird. Denn ihre Fragen sind ohne die Aufhebung aller Herrschaft und Arbeitsteilung nicht lösbar.
Die Frage an die Kritische Psychologie
Es bleibt die Frage des frühen Milchholens. – Aus meinen arbeitsbiographischen Notizen wie aus meinen theoretischen Studien bin ich zu dem Resultat gekommen, dass die Lust zur Arbeit ebenso wie ihre Meidung, dass die Subbotniks und die Drückebergerei aus dem gleichen Stoff gemacht sind. In den Strukturen des gesellschaftlichen Lebens entwickelt sich eine blinde Dialektik. Unversehens und unkontrolliert schlägt die Begeisterung für die Arbeit um in ihr Gegenteil. Die praktische Lösung, das Leben außerhalb der Arbeit zu suchen, stößt allenthalben an Grenzen und ebenso an Überschreitungen. Die theoretische Lösung, Arbeit und Lebensweise getrennt zu denken, verrät die Perspektive der freien Selbstbetätigung, indem sie sie außerhalb der entfremdeten Arbeit einzulösen verspricht. Der Begriff der (verallgemeinerten) Handlungsfähigkeit in der holzkampschen Wendung könnte eine Bewegungsform für die blinde Dialektik von Arbeit und Faulheit sein, in der eine bewusste Entwicklung gedacht werden kann; das Auseinanderfallen von Arbeit und Lebensweise kann hier als historisches Produkt mit der Perspektive seiner Überwindung gefasst werden. Voraussetzung dafür wäre allerdings, die Dimensionen aufzunehmen, die Marx mit »Arbeit als erstem Lebensbedürfnis« vortrug. Die Erweiterung der Handlungsfähigkeit ist sicher Vorbedingung dafür, dass »freie Tätigkeit« möglich wird, aber wie und unter welchen Verhältnissen können die Menschen ihr materielles Leben so gewinnen, dass sie es nicht zugleich verlieren, sondern dass es Genuss, Lust, Liebe, Entwicklung, Gemeinwesen ist? Arbeit und Genuss sind durch Arbeitsteilung auseinandergetreten, heißt es in der Deutschen Ideologie (vgl. MEW 3, 32). Sie wieder zusammenzubringen bleibt Befreiungsperspektive.
Wie viel dazu nötig ist, beschreibt in literarischer Verdichtung Volker Braun, der zu der Dimension des Lustvollen in der Arbeit – soweit sie möglich wird durch die Entwicklung der Produktivkräfte – die Schwierigkeit des sinnhaften Tuns formuliert:
»Wenn die Arbeit nicht mehr das Leben kostet, verliert sie den Ernst und die Leute machens aus Vergnügen. Dann reißt sich jeder darum, aber die Möglichkeiten sind begrenzt, das gibt neue Probleme. Man muss die Leute abhalten von den Maschinen, wo sie flippern wollen und optimieren. Da braucht es ein ganz anderes Bewusstsein. Im Kampf wie jetzt langt der Zwang und der materielle Anreiz, aber in einer ganz friedlichen Zeit müsste auch ein Sinn darin sein.« (Braun 1985, 106)
Die Frauenfrage
Was ist mit den feministischen Zweifeln, Marx habe ein Arbeitskonzept entwickelt, das die Frauen ausschloss und die Erkenntnis von Frauenunterdrückung verhindere? Feministische Kritik beruft sich insbesondere auf die marxschen Ausführungen im Zusammenhang mit dem Begriff des »Doppelcharakters der Arbeit«. Solcher Blick auf die Arbeit als einer Kraft, die zugleich Gebrauchswerte bilden kann und Tauschwerte schaffen, ist fundamental für Marx’ Analyse des Kapitalismus und seiner Dynamik und damit ebenso grundlegend für seine Revolutionstheorie. Eine Gesellschaft, deren treibendes Motiv darin besteht, lebendige Arbeit in tote zu verwandeln (um in marxscher Metaphorik zu sprechen) und so die tote Arbeit in ihren Formen von Kapital, Maschinen, Fabriken Macht über die lebendige werden zu lassen, eine solche Gesellschaft manövriert sich in eine Katastrophe, wenn kein radikaler Eingriff erfolgt. Dieser muss die Grundstrukturen des gesellschaftlichen Handelns umstürzen: den Profit als treibendes Motiv und das heißt die Herrschaft des sich verwertenden Wertes über die lebendige Arbeit auf der Grundlage von Arbeitsteilung und Eigentum. In der Analyse des Doppelcharakters der Arbeit geht es um die Lohnarbeit als dominante Form der Verkehrung der Lebenstätigkeit. Im ersten Schritt der Veränderung geht es um die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln. Diese Bestimmungen haben den Blick auf den männlichen Arbeiter in seiner historischen Gestalt als Ernährer der Familie und auf die Arbeiterbewegung als politisches Subjekt verengt. Der Protest der Frauen scheint zunächst gerechtfertigt. Denn selbst wenn wir unterstellen, dass es die kapitalistische Gesellschaft ist und nicht die marxsche Analyse, welche die Positionen in dieser Weise anordnet, bleibt doch in solcher Zurechtlegung eine eigentümliche Leere und Sprachlosigkeit, wenn über Frauen gesprochen werden soll. Statt Marx eilig abzuschwören, sollten wir einen Schritt zurücktreten und prüfen, ob aus seiner perspektivischen Formulierung von der »genussvollen Selbstbetätigung bei der Erzeugung des materiellen Lebens« für die Frauenfrage nicht doch vieles zu gewinnen ist. Tatsächlich stellt Marx selbst Frauenunterdrückung genau in den Kontext von entfremdeter Arbeit:
»Die freilich noch sehr rohe, latente Sklaverei in der Familie ist das erste Eigentum, das übrigens hier schon der Definition der modernen Ökonomie entspricht, nach der es die Verfügung über fremde Arbeit ist.« (MEW 3, 32)
Selbst die angeblich ganz und gar vernachlässigte Arbeit im Hause bei der Reproduktion der Ware Arbeitskraft fasst Marx an einer Stelle – wenn auch nur in einer Fußnote – begrifflich als »die für die Konsumtion nötige Familienarbeit« (MEW 23, 417, Fn. 20).
Die erste entwickelte Verkehrung geschieht durch die Produktion für den Markt, die die Arbeit vergesellschaftet und zugleich Quantität und Tauschwert der Produkte in den Vordergrund rückt. In diesem Zusammenhang sind die Arbeitenden beider Geschlechter zunächst gleich. Sobald die unmittelbare Subsistenzproduktion überschritten ist, arbeiten beide Geschlechter für sich und Überschüssiges für den Markt. Die besondere Stellung der Frauen rührt hier schon daher, dass ein großer Teil ihrer Produktion – Schwangerschaft, Geburt, Aufziehen der Kinder – nicht vermarktet werden kann. Hier deutet sich heute – in der Gestalt von Leihmüttern und Reproduktionstechnologie – ein Nachholen an: dies mit einer Gewalttätigkeit, wie wir sie aus der »Zivilisierung« von »Naturvölkern« kennen. Das Erstere hat mit irgendwelcher selbstbestimmten Regelung von Gesellschaft so wenig zu tun wie das Letztere.
Ist nicht der Rahmen, den Marx für die menschliche Gesellschaft und die in ihr lebenden Individuen skizzierte, so, dass die besondere Unterdrückung der Frauen mit ihren naturwüchsigen Momenten ebenso wie mit den Ergebnissen sozialer Herrschaft darin heute eine ungeheure Dynamik erhält? In der Arbeitsteilung von Lebens- und Lebensmittelproduktion und in der Letzteren noch einmal zwischen Arbeit und freier Tätigkeit, Genuss, ist die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern auf eine teuflische Weise festgeschrieben. Der Bereich des Lebens wird vom Standpunkt der gesellschaftlichen Lebensmittelproduktion randständig und mit ihm diejenigen, die ihn in erster Linie bevölkern. Zugleich wird die Tätigkeit im gesellschaftlich zentralen Bereich entfremdet, sodass Hoffnung auf Befreiung sich auf jenen lebendig randständigen Bereich richtet. Auf die Frauen kommt die unzumutbare Belastung zu, im Stadium der Unterdrückung die Hoffnung auf ein besseres Leben darzustellen, auf Genuss, Sinnenfreude.
Bei Marx finden wir die Anspielung, dass der Arbeiter in der Arbeit nicht zu Hause sei und wo er zu Hause ist, er nicht arbeite (vgl. MEW EB 1, 514). Mit einem gewissen Recht wurde auch dieser Satz vom feministischen Standpunkt für kritikwürdig befunden: Spricht nicht auch er vom Standpunkt des männlichen Arbeiters und übersieht die Lage der Hälfte der Menschheit, die sehr wohl zu Hause arbeitet und mithin zu Hause ist, wo sie arbeitet (vgl. Ivekovic 1984)? Bei dieser Kritik wird allerdings die in der marxschen Version angedeutete Blockierung übersehen. Es ist die doppelte Entzweiung, die Trennung der Sinnenfreude und des Lebenssinns von der Arbeit und die Teilung der Arbeit in solche, die einen Lohn bringt, und solche, die in dieser Hinsicht nichts gilt, die in der Metapher vom »nicht in der Arbeit zu Hause sein« ausgedrückt ist. In dieser Verkehrung besetzen die Frauen das Zuhause, den Randbereich, der gleichwohl Zuflucht ist, ein verkehrter Ort der Hoffnung. Die unterdrückende Überhöhung der Frauen wird überlebensnotwendig für die männlichen Lohnarbeiter. In der familiären Zusammenarbeit beider Geschlechter wird sie dauerhaft befestigt.
Wäre es nicht eine revolutionäre Tat, hier einiges durcheinanderzubringen, um eine neue Ordnung herbeizuführen? Um die Bereiche des Lebens aus ihrer Randständigkeit zu holen, müssten sie allgemein werden und damit aufgewertet. Und im gleichen Zug müsste der Bereich, der als gesellschaftliche Arbeit gilt, von den Frauen besetzt und zugleich in seiner Dominanz entkräftet werden. Wenn beide Geschlechter sich in alle Bereiche teilen, ist eine Dimension, die die bisherige, zerstörende Struktur bestätigte, ist ein Herrschaftsverhältnis aufgebrochen. Dies scheint mir eine Voraussetzung, um die Liebe zurück in die Arbeit zu bringen. Und die Bewegung der Frauen wird damit zentral für die Vermenschlichung der Gesellschaft.