Читать книгу Vogelfrei - Fritz Sauer - Страница 6
Auf nach Finnland.
ОглавлениеMit dem sauer verdienten Geld kaufte er sich einen Bundeswehr-Schlafsack nebst Rucksack und Regenponcho. Seine beiden Freunde aus Kindertagen machten das ebenfalls, und dann stellten sie sich gemeinsam an die Straße und hielten die Daumen hoch zum Zeichen für die Autofahrer, dass sie mitgenommen werden wollten.
Aber niemand wollte gleich drei junge Burschen von 18 Jahren in seinem Auto mitnehmen und so trennten sie sich und verabredeten einen Treffpunkt an ihrem Reiseziel. Auf dem Campingplatz in Turku wollten sie aufeinander warten und dort aus ihren drei Regenponchos ein gemeinsames Zelt bauen. Und dann das Rockmusikfestival Ruissalo besuchen und Mittsommernacht feiern...
„Wer zuletzt kommt, muss ein Bier ausgeben“, meinte Andreas grinsend und ging 30 Meter voraus. Dieter, der gerade eine Banklehre angefangen hatte und zwangsweise einen ordentlichen Haarschnitt hatte, ging 30 Meter zurück.
Felix sah zu, wie ein Wagen langsam an ihm vorbei fuhr und bei Andreas hielt. Lächelnd und winkend stieg der Freund ins Auto. Dann klappte es auch bei Dieter, in einem blauen BMW brauste er grüßend an Felix vorbei.
Jetzt stand er allein an der Autobahnauffahrt und reckte den Daumen in die Höhe. Er war der größte von den drei Freunden, mit schulterlangem Haar und wildem Vollbart, was die meisten Autofahrer davon abhielt, ihn mitzunehmen, denn man konnte ja nicht wissen, wen man sich da ins Auto holte. Die 68er Studenten-Revolte hatte viele Ältere verschreckt, obwohl ihre Generation in der Nazi-Zeit viel Schlimmeres getan hatte.
Nach zwei Stunden frustrierenden Wartens in der Morgensonne fuhr ein Citroen 2CV auf die Autobahnauffahrt und hielt neben Felix an. Überglücklich öffnete er die dünne Blechtür und sah einem jungen Mann ins Gesicht mit wildem Lockenkopf und dunklem Vollbart. „Hi, wo willst Du hin?“, fragte er Felix, „ich fahre nach Berlin.“
„Kopenhagen“, antwortete Felix, „und dann weiter nach Finnland.“
„Dann komm rein, bis Hannover haben wir den gleichen Weg.“
Gut zwei Stunden saßen sie nebeneinander in dem genial improvisierten Kult-Auto und fuhren über die Autobahn gen Osten.
Felix verstand sich auf Anhieb mit dem Fahrer der „Ente“, der sich als „Jan“ vorstellte und in Berlin Publizistik, Germanistik und Anglistik studierte.
„In Berlin ist echt was los“, meinte er lächelnd, „die APO (Außerparlamentarische Opposition) hat etwas in Bewegung gesetzt an der Uni und in der Stadt.“
Dann erzählte er Felix von der Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien, an der er teilgenommen hatte und vom Tod seines Kommilitonen Benno Ohnesorg durch eine Polizeikugel am 2. Juni 1967. Das war vor gut vier Jahren gewesen, aber für Jan war es noch wie gestern. „Die Schlägertruppen des Schahs haben mit Knüppeln auf die Demonstranten eingeschlagen, es entstand ein Handgemenge und dann erfolgte der tödliche Schuss durch einen Polizisten. Danach gab es viele Demonstrationen in Berlin und Sit-ins und Blockaden. „Ho Ho Ho Chi Minh“ war unser Kampfruf. Das war eine wilde Zeit, bis Rudi Dutschke, unser Anführer und politischer Kopf, angeschossen und schwer verletzt wurde durch einen Attentäter, der von der Bild-Zeitung und ihren Hetz-Parolen beeinflusst war. Danach haben wir das Springer-Hochhaus abgeriegelt und einige Lieferwagen der Bild- Zeitung umgekippt und in Brand gesteckt.
Er schwieg eine ganze Weile und kämpfte mit seinen Emotionen, dann fügte er hinzu: „Danach hat sich die ganze Bewegung aufgesplittert und zerstreut.“
„Und was wird jetzt?“, fragte Felix interessiert.
„Manche sind in den Untergrund gegangen“, antwortete Jan geheimnisvoll, „andere wollen eine politische Partei gründen.“
„Was wurde aus Rudi Dutschke?“
„Nach seiner langsamen Genesung ging er nach London, aber dieses Jahr haben sie ihn ausgewiesen. Er ist nach Dänemark gezogen.“
„Und was willst Du jetzt machen?“, hakte Felix nach.
„Ich weiß es noch nicht“, antwortete Jan, „ich habe viel Zeit und Energie in die politische Arbeit gesteckt, jetzt muss ich ganz dringend die Zwischenprüfung machen, sonst bekomme ich kein Geld mehr von meinem Alten, obwohl er genug davon hat.“
Er lachte: „Ohne Moos nichts los“, das weißt Du ja. In Berlin kann man zwar ganz günstig wohnen, vor allem in einer Wohngemeinschaft, aber trotzdem braucht man auch Geld. Was machst Du denn so?“
Felix erzählte ihm, dass er gerade sein Abitur hinter sich hätte und nicht so recht wüsste, was er nun anfangen solle, erstmal reisen und die Welt anschauen. Drei Monate hatte er für seine Skandinavienreise geplant, alles andere würde sich dann hoffentlich ergeben.
„Du musst dir auch überlegen, ob Du zur Bundeswehr gehen willst“, sagte Jan, „oder ob Du den Militärdienst verweigerst, das könnte allerdings schwierig werden. Manche müssen durch alle Instanzen bis vor Gericht gehen, bis sie anerkannt werden.
Wenn Du deinen Hauptwohnsitz nach Berlin verlegst, dann bist Du vom Militärdienst befreit, denn West-Berlin gehört nicht zur Bundesrepublik, es hat einen Sonderstatus und unterliegt dem Viermächte-Abkommen.“
Dann waren sie auch schon in Hannover und Felix ließ sich an der Raststätte Garbsen absetzen. Zum Abschied gab Jan ihm seine Adresse in Berlin und Felix schrieb sie säuberlich in sein neues Adressbuch, dass er eigens für die Reise gekauft hatte. Es war der erste Eintrag.
„Viel Glück und melde dich, wenn Du nach Berlin kommst. Für ein paar Tage könntest Du immer bei uns in der WG wohnen, vielleicht sogar einziehen, wenn gerade ein Zimmer frei ist“, meinte Jan lächelnd und reichte ihm die Hand zum Abschied.
Felix winkte der grünen „Ente“ nach und war in Hochstimmung. Was für ein Auftakt seiner Reise! Er nahm es als gutes Omen. Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel, es war heiß geworden und Felix musste erstmal einen Schluck Zitronentee aus seiner Feldflasche nehmen.
Auf der Raststätte waren noch andere Tramper, die nach einer Mitfahrgelegenheit Ausschau hielten, aber seine Freunde waren nicht dabei. Dafür entdeckte er zwei Mädchen, die ein Schild gemalt hatten mit der Aufschrift: „Kopenhagen“. An ihren Rucksäcken hatten sie kleine Teddy-Bärchen befestigt und Felix dachte sich, dass die auch für ihn eine gute Begleitung sein könnten.
Er winkte ihnen zu und grinste breit: „Hi, habt ihr eure Kuscheltiere von zu Hause mitgenommen oder gibt es die hier zu kaufen?“
Die beiden Schwestern lächelten zurück und erwiderten, sie hätten sie gerade an der Tankstelle erstanden und es sei auch noch ein weiterer Teddy vorhanden gewesen.
„Ich will auch nach Kopenhagen und dann weiter nach Finnland“, meinte Felix und erfuhr, dass die beiden Schönen das gleiche Ziel ansteuern wollten.
„Na, dann haben wir ja den gleichen Weg“, stellte er erfreut fest und stellte sich vor: „Ich bin Felix aus Gütersloh, ich will mich mit meinen Freunden in Turku auf dem Campingplatz treffen.“
„Ich heiße Uschi und das ist meine Schwester Birgit“, sagte Uschi und lächelte ihn an, dass ihre weißen Zähne blitzten. Die jungen Frauen waren aus Bonn und wollten ihre Brieffreundin in Turku besuchen.
„Und dann gehen wir zum Rock-Festival Ruissalo am nächsten Wochenende“, sagte Birgit und lächelte ebenfalls. Sie war ein Jahr jünger und etwas schüchterner.
„Das wird ja immer besser“, dachte Felix, „ich bin wohl ein Glückspilz.“
„Da wollen wir auch hin, dann werden wir uns ja noch öfter begegnen“, sagte er grinsend, „beim nächsten Mal gehen wir einen trinken!“
Alle lachten und das war ein gutes Gefühl, sie waren auf der gleichen Wellenlänge.
„Jetzt hole ich mir den Teddy, bis gleich.“
In der Tankstelle gab es eine kleine Auswahl von Spielzeug für Kinder und die Eltern kauften einiges, um die quengelnden Kinder auf der langen Fahrt zum Urlaubsziel zu beschäftigen.
Felix fand einen Teddy mit rotem Halsband und befestigte ihn an seinem Militärrucksack, was seiner Erscheinung einen kindlichen Touch gab, was die Autofahrer hoffentlich Vertrauen fassen ließ in seine Person.
„Psychologie ist alles“, dachte Felix und investierte sechs D-Mark in seine vertrauensbildende Maßnahme.
Als er aus der Raststätte kam, stiegen die beiden Mädels gerade in einen dunklen Mercedes und winkten ihm im Vorbeifahren freudestrahlend zu.
„Mist“, fluchte Felix, „hätte der nicht 5 Minuten später kommen können!!!“
Jetzt galt es, nicht den Anschluss zu verlieren und der Gedanke an die hübsche Uschi verlieh ihm ungeahnte Energien. Immerzu musste er an sie denken und wie sie ihn angelächelt hatte.
„Blond und drall, genau mein Fall“, dachte er und winkte den Autofahrern zu. Die fuhren aber stur vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Er beschloss, seine Taktik zu ändern und ging zu den parkenden Autos an der Raststätte. Aus einem Abfallkorb holte er sich ein Stück Pappe und schrieb darauf: „Kopenhagen“.
Schließlich fügte er noch ein „Bitte“ hinzu und malte zwei Herzen darauf. Dann stellte er sich vor der Raststätte auf und stellte den Rucksack mit dem Teddy zu seinen Füßen. Das Schild hielt er den aus der Raststätte kommenden Autofahrern entgegen und lächelte süß wie ein Honigkuchen.
Jetzt reagierten die Leute auf seine Erscheinung, lasen das Schild, bemerkten den Rucksack mit Teddy und schüttelten bedauernd den Kopf: „Wir sind voll, wir fahren nach Berlin, wir wollen nach Bayern“ waren die gängigsten Bemerkungen, die er hörte. Er lächelte freundlich und bedankte sich trotz der Absagen.
Ein kleines Kind stürmte geradewegs auf den Rucksack zu und rief: „Teddy-Bär.“Die Dreijährige wollte wohl den Teddy mitnehmen, aber der Vater nicht den dazugehörigen Menschen. Schließlich entschied die Mutter, nachdem Felix ihr gesagt hatte, dass seine Freunde schon vor ihm auf dem Weg nach Finnland seien und dass der Letzte eine Runde Bier bezahlen müsse, dass sie den Rücksitz frei machen würde für ihn und er bis Hamburg mitfahren könne. Anschließend saß er mit der kleinen Anna auf der Rückbank und spielte mit ihr und dem Teddy.
„Ich bin der Brumm-Bär“, sagte er mit tiefer Stimme, „und suche Honig. Hast Du Honig dabei?“
Die kleine Anna schüttelte mit dem Kopf, holte aber einen Schokoladenkeks hervor und streckte ihn ihm strahlend entgegen.
Die Fahrt zur Raststätte Hamburg verlief ganz harmonisch, nur der Abschied von Anna und dem Teddy war tränenreich und mit viel Geschrei verbunden, bis die Eltern ihr einen noch viel größeren Teddy versprachen, den sie am Ziel ihrer Reise für sie kaufen würden.
Nach einem herzlichen Dankeschön stand Felix wieder im Freien und versuchte sein Glück auf ́s Neue bei den Raststätten-Besuchern. Er hatte Glück. Ein Vertreter für Einbauküchen aus Gütersloh war auf dem Weg in die dänische Hauptstadt und Felix erkannte das Autozeichen: GT für Gütersloh. Felix fragte ihn, ob er auch aus Gütersloh käme und als der Mann das bestätigte, war das Eis gebrochen. In Gütersloh wären sie wahrscheinlich nie ins Gespräch gekommen, aber schon 300 Kilometer fern der Heimatstadt fühlte der Mann sich irgendwie verpflichtet, dem Landsmann zu helfen.
Mit dem Mercedes-Kombi voller Musterkoffer ging es flott voran, an Lübeck vorbei über die Fehmarnsund-Brücke nach Puttgarden. Sie unterhielten sich angeregt über ihre Heimatstadt und schließlich fanden sie überraschenderweise sogar ein paar Gemeinsamkeiten. Der Sohn des Verkäufers ging auf die gleiche Schule, der Felix gerade den Rücken gekehrt hatte, war allerdings einige Jahre jünger und stand noch ganz am Anfang seiner Schulkarriere. Aber der Vater kannte von der Elternsprechstunde schon einige Lehrer, die auch Felix unterrichtet hatten und so war genügend Gesprächsstoff vorhanden, um die Fahrt bis zur Hafenstadt Puttgarden zu füllen.
Dann ging es auf die Fähre über den Fehmarnbelt nach Rödbyhavn in Dänemark. Der freundliche Küchenvertreter bezahlte sogar die Überfahrt mit dem Schiff, denn die war inklusive für zwei Personen pro Auto. Nach einer Stunde Schiffschaukeln fuhren sie aus dem Bauch des Schiffes auf dänischen Boden und zeigten den Grenzbeamten ihre Pässe.
„Was ist der Grund ihres Besuches in Dänemark?“, fragte der Uniformierte den Fahrer.
„Geschäftlich“, antwortete dieser, „wir besuchen die Kunden unserer Firma und stellen ihnen unsere neuen Design-Küchen vor.“
Damit war der Beamte zufrieden und wünschte ihnen eine gute Fahrt. Er hatte angenommen, dass Felix auch zur Firma gehörte und nicht weiter nachgefragt. Wieder Glück für Felix, denn Rucksackreisende mussten meistens an der Grenze ihre Barschaft vorlegen und beweisen, dass sie sich einen Aufenthalt im teuren Skandinavien auch leisten konnten.
Felix hatte 500 D-Mark in seinem Gürtel und 100 in seinem Portemonnaie, außerdem noch 100 dänische Kronen, 100 schwedische Kronen und 100 finnische Mark. Damit waren für eine Tramp-Reise durch Skandinavien etwa drei Wochen zu finanzieren. Felix hatte aber drei Monate Zeit und keine festen Pläne. Einziges Ziel war Turku, die Hafenstadt im Südwesten von Finnland. Dort wollte er mit seinen Freunden das Rockmusikfestival auf der Insel Ruissalo besuchen, direkt neben dem Campingplatz an der Ostseeküste.
Rock ́n Roll, Sex und Drogen waren die Schlagwörter der rebellischen Studentenbewegung der 68er Jahre gewesen und im Laufe der Zeit hatte ein Großteil der Jugend diese Ideen übernommen.
Rockmusik war ein wilder Aufschrei der Jugend gegen die Zwänge, die die Gesellschaft und ihre Eltern ihnen auferlegten, freie Liebe war ein Ideal, dass nach der Erfindung der Pille begeistert gefeiert wurde und bei den Drogen lag nicht Alkohol, sondern Marihuana weit vorne. Der amerikanische Psychologe Timothy Leary experimentierte mit seinen Studenten mit LSD und forderte einen freien Zugang zu psychedelischen Drogen. „Turn on, tune in, drop out“ war sein Slogan, der von den Studenten aufgenommen wurde. Allerdings warnte er auch vor der Verwendung von LSD bei Personen, die labil oder depressiv seien, da dann die Wirkung der Droge zu einem „Horrortrip“ führen könne mit unkalkulierbaren Folgen. 1972 wurde er von den US-Behörden verhaftet und ein Richter verurteilte ihn zu 30 Jahren Gefängnis. Später konnte er mit Hilfe von Freunden flüchten und führte ein unstetes Leben in vielen Ländern der Erde, bis er von der afghanischen Regierung an die USA ausgeliefert wurde und wieder drei Jahre ins Gefängnis musste.
Von den Verhältnissen in den USA wusste Felix nicht viel, aber das Schlagwort „freie Liebe“ gefiel ihm gut, Rockmusik war bei ihm und seinen Freunden angesagt und Drogen wollte er schon lange mal probieren. Auf dem Rockfestival wollte er seine ersten Drogenerfahrungen machen, dort würden sicher Leute sein, die so etwas verkauften.