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Erster Teil
2. Kapitel
ОглавлениеEs war nicht vielen bekannt, wie wenig Herr von Rosen und wie viel seine Frau mit der Leitung der Wirtschaft und des Gutes zu tun gehabt hatte. Deshalb wurde sehr eifrig die Frage erörtert, was die arme erblindete und verkrüppelte Witwe nun anfangen würde.
Auch die Frage war aufgetaucht, wer schließlich mal das schöne große Gut erben sollte. Der Verstorbene war der letzte seines Stammes gewesen und besaß gar keine Verwandte, aber auch gar keine, nicht einmal von seiner Mutter Seite her.
Frau von Rosen sollte allerdings weitläufige4 Verwandte im Reich haben, eine Kusine, die an einen kleinen Beamten verheiratet war. Es schienen aber gar keine Beziehungen zwischen ihr und der Verwandtschaft zu bestehen, denn es war nie einer von ihnen nach Berschkallen zum Besuch gekommen, und auch von einem Briefwechsel wusste man nichts.
Wenn Frau von Rosen mit Hilfe des Notars ein Testament errichtet hätte, so würde man wenigstens diese Tatsache wissen. So etwas pflegt auf dem Lande durchzusickern, und der Notar hätte wohl auch kein Hehl daraus gemacht, dass und zu welchem Zweck er in Berschkallen gewesen wäre.
Solch ein Rätsel bietet bei einem Begräbnis einen sehr ergiebigen Gesprächsstoff, weil er den weitesten und gewagtesten Vermutungen Spielraum lässt. Aber obwohl sich ein Dutzend flinker Jungen mit der Lösung des Rätsels beschäftigten, blieb es doch völlig dunkel, was dereinst aus Berschkallen werden sollte.
Wie interessant wäre es da den Teilnehmern des Begräbnisses gewesen zu erfahren, dass zu derselben Zeit, als sie sich den Kopf zerbrachen, Frau Christine in ihrem Zimmer einen langen Brief schrieb. Das war ein mühseliges Geschäft für eine alte Frau, die von dem Briefbogen nur gerade noch einen schwachen Schimmer vor sich erblickte.
Trotzdem flog ihre Hand mit dem Bleistift rastlos über den Bogen, während die Linke zuerst den oberen und dann auch den unteren Rand abtastete und auch beim Beginn der Zeile den Bleistift hinderte, zu früh zu beginnen. So füllte sie Seite auf Seite mit großen, steifen Buchstaben, wie sie nur selten von einer Frauenhand gestaltet werden. Aber die Hand, die da schrieb, war schon seit langen Jahren gewohnt, schwere Zügel zu führen, und die steifen Buchstaben waren der sichtbare Ausdruck eines starken, festen Willens.
Schließlich hob Frau von Rosen zu Lottchen, ihrer Vorleserin, die über ein Buch gebeugt ihr gegenüber saß, den Kopf:
»Geben Sie mir einen Umschlag. So, danke, und nun setzen Sie sich an meinen Tisch und schreiben Sie die Adresse: ‘Herrn Assessor Kurt v. Berg, Rheinsberg i. d. Mark’. Haben Sie, ja? Der Brief wird eingeschrieben geschickt. Und nun rufen Sie mir Dore, dass sie mich zu Bett bringt. Ich brauche Sie heute nicht mehr. Gute Nacht.«
»Ach, gnädige Frau, ich bleibe noch gern bei Ihnen und lese Ihnen noch etwas vor. Sie werden noch nicht einschlafen können.«
Auf das Gesicht der alten Dame trat ein milder, freundlicher Ausdruck:
»Sie gute Seele! Nein, gehen Sie nur ruhig schlafen, ich habe heute noch manche Stunde mit meinen Gedanken zu tun.«
Assessor von Berg hatte sich gerade von seinem Nachmittagsschläfchen erhoben und rüstete sich zu dem Dämmerschoppen, den er im Ratskeller einzunehmen pflegte. Selbst wenn man der größte Naturschwärmer ist, oder sich aus Sparsamkeitsrücksichten die regelmäßige Teilnahme an den Kneipereien der Honoratioren versagen will oder muss, kann man sich in solch einem kleinen Nest nicht ganz von der Geselligkeit abschließen, um nicht als hochmütiger oder menschenscheuer Sonderling zu gelten. Selbst den Anschein erzwungener Sparsamkeit muss man zu vermeiden suchen.
Da ist der Dämmerschoppen eine segensreiche Einrichtung. Man kann sparsam trinken und hat immer Veranlassung, zum Abendbrot die Sitzung abzubrechen. Und das ist sehr angenehm für einen Assessor, der von den Diäten eines mageren Kommissoriums leben, Wohnung, Essen und Kleidung bestreiten soll. Das ist wirklich eine schwere Aufgabe für einen jungen lebenslustigen Mann, wie es Kurt von Berg war, der von Hause aus mit so wenigen Glücksgütern gesegnet war, dass er schon als Student und später als Referendar Musik- und Unterrichtsstunden erteilen musste, um sich durchzuschlagen.
Ab und zu erfreute ihn das Schicksal durch ein paar hundert Mark, die ihm im Auftrage eines unbekannten Wohltäters von einer Bank zugeschickt wurden. Die Bank vermittelte auch seine Dankesbriefe, in denen er seinem unbekannten Wohltäter von seinem Leben und Streben einen wahrheitstreuen Bericht abzustatten pflegte. Aber den Namen konnte er nicht in Erfahrung bringen.
Der Assessor hatte seinen stattlichen Schnurrbart in die Binde gelegt und beschäftigte sich eben mit den Nägeln seiner wohlgepflegten Hände, nicht aus Eitelkeit, sondern, weil sie ihm zur Handhabung seiner mit Meisterschaft gespielten Geige wertvoll waren, als der Briefträger ihm einen eingeschriebenen Brief und einen Geldbetrag, der die bisherigen Sendungen um das Doppelte übertraf, brachte.
Mit begreiflicher Neugier griff er nach dem Brief, dessen Poststempel beim besten Willen nicht zu entziffern war. Die dünne kleine Handschrift der Adresse, die ohne Zweifel von Frauenhand herrührte, war ihm ganz fremd. Was konnte ein unbekanntes weibliches Wesen ihm so Wichtiges mitzuteilen haben, dass ihm der Brief eingeschrieben zugestellt werden musste.
In Gedanken nahm er den Abschnitt der Postanweisung zur Hand, den der Briefträger neben das Geld auf den Tisch gelegt hatte und warf einen Blick darauf. Da stand diesmal nicht der Stempel der Bank, sondern in kräftiger Handschrift: Absender Frau von Rosen geb. von Berg, Berschkallen.
Er hatte als seine Wohltäter bis jetzt zwei junge baltische Edelleute, von Roth, im Verdacht gehabt, mit denen ihn die Musik zusammengeführt hatte. Er hatte sich einmal auf ein Inserat, in dem ein guter Violinspieler für ein Liebhaberquartett gesucht wurde, gemeldet und hatte dadurch die beiden Brüder, die ebenso eifrig und künstlerisch die Musik pflegten, wie er, kennen gelernt.
Vor Jahren schon waren die Brüder in ihre Heimat, in die baltischen Provinzen Russlands zurückgekehrt, wo sie die durch den Tod ihres Vaters, geerbten Güter übernehmen mussten. Und in dieser Annahme hatte er in seinen Briefen einen frischen Ton mit einer Vertraulichkeit angeschlagen, wie man sie einem gleichgesinnten und befreundeten jungen Mann gegenüber anwenden kann.
Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Der Wohltäter war die alte, sozusagen verschollene Tante gewesen, die weit hinten in Ostpreußen an einen Gutsbesitzer verheiratet war. Was mochte das für ein Anlass sein, der ihm die erkleckliche Geldsumme ins Haus trug?
Jetzt riss er den dicken Brief auf, aus dem ihm eine Anzahl mit einer großen unregelmäßigen Handschrift beschriebener Bogen in die Hand fiel. Zuerst sah er nach der Unterschrift. Richtig!
»Deine alte Tante Christine.«
Und dann las er und las.
Er vergaß, die Schnurrbartbinde abzunehmen, er vergaß Dämmerschoppen und Ratskeller und die fröhlichen Genossen, die gewiss schon mehrmals nach der Uhr gesehen und vorwurfsvoll gefragt hatten: »Wo bloß heute der Assessor steckt?«
Dann setzte er sich in da alte ehrwürdige Sofa, dessen steife Lehnen so wenig für die Bequemlichkeit des Zimmerbewohners gemacht waren. Aber man konnte wenigstens den Ellbogen aufstützen und den Kopf in die Hand legen. Das pflegt mancher zu tun, dem sich wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Gewissheit aufdrängt, dass er an einem Wendepunkt seines Lebens und seines Schicksals angelangt ist, wenn er nur den Mut hat zuzugreifen und von dem Lebensweg abzubiegen, den man sich unter Not und Sorgen erkämpft hat und den man bis zu Ende zu gehen entschlossen war.
Allerdings nicht aus besonderer Vorliebe für den erwählten Beruf, sondern Kurt von Berg war Jurist geworden, weil er für die anderen drei Fakultäten noch weniger Vorliebe hatte und weil ihm die juristische Laufbahn die Möglichkeit bot, irgendwo und irgendwann eine erträgliche Stellung zu erwischen. Dabei hatte er natürlich nie an die Möglichkeit denken können, die sich jetzt ihm darbot, Gutsbesitzer in Ostpreußen zu werden.
Wie groß mochte das Gut sein? Weshalb schrieb die alte Dame, die plötzlich den Einfall hatte, ihn zu ihrem Erben einzusehen, nichts darüber? Vielleicht war der Tausch, wenn sie die Verhältnisse ihm von vorn herein klarlegte, gar nicht der Mühe wert? Was wusste sie denn von ihm, wie war sie auf den Gedanken gekommen? Was er von ihr bis dahin gewusst hatte, war herzlich wenig. Seine Eltern hatten nie von dieser Tante gesprochen. Nur einmal hatte er in einem alten Album das Bild einer jungen Dame gefunden, in der verschrobenen Tracht der siebziger Jahre. Trotzdem sagte ihm der erste Blick, dass das Bild ein sehr schönes junges Mädchen mit einer prachtvollen Figur darstellte.
Seine Mutter hatte ihm auf seine Frage nach der Person dieses Bildes mit deutlicher Ablehnung im Ton die Antwort gegeben, dass es eine entfernte Verwandte wäre, die in ihrer Jugend gegen den Willen der Eltern aus dem Elternhause gegangen und sich in Ostpreußen als Wirtin auf einem Gut mit ihrem Gutsherrn verheiratet hätte.
Kurt hatte damals trotz seiner Jugend die starke Missbilligung und Abweisung, die in den Worten seiner Mutter lag, herausgefühlt. Den Anlass dieser Missbilligung konnte sowohl ihr Verlassen des Elternhauses, wie ihre Heirat gegeben haben.
Nun schrieb ihm diese Tante, dass sie blind und gelähmt im Rollstuhl sitze und dass er kommen möge, um ihr die Last abzunehmen. Er nahm den Brief wieder zur Hand und las ihn zum zweiten Mal langsam durch. Manches hatte er in der Hast beim ersten Lesen über· flogen, ohne dass es ihm recht zum Bewusstsein gekommen war.
Da schrieb sie ja auch über die Ursache ihres Zerwürfnisses mit seinen Eltern. Seine Mutter habe ihr den schwersten Vorwurf daraus gemacht, dass sie gegen den ausdrücklichen Willen ihrer Eltern als junges Mädchen in die weite Welt gegangen wäre, um sich auf eigene Füße zu stellen und sich selbst ihr Brot zu verdienen. Sie wies diese Vorwürfe kurz und bündig damit zurück, dass sie die Enge und die Armseligkeit und die Gebundenheit im elterlichen Hause nicht habe ertragen können. Sie habe mit der Aussicht rechnen müssen, als alte Jungfer mit ihrer Mutter von einer kärglichen Pension zu leben, und nach dem Tode der Mutter hätte sie vor dem Nichts gestanden.
»Wie man es mir zum Vorwurf anrechnen kann, dass ich meinen Mann, der mich ehrlich und aufrichtig liebte, geheiratet habe, begreife ich nicht. Dass ich als seine Bedienstete ihn auf unlautere Weise dazu gebracht hätte, mich zu heiraten, ist eine Annahme, die nur aus der in der Familie gegen mich herrschenden feindseligen Stimmung zu erklären ist. Mein Mann warb ehrlich und anständig um mich und ich verließ sofort, nachdem ich ihm mein Jawort gegeben hatte, sein Haus, das ich erst wieder nach unserer Hochzeit betrat. Ein Annäherungsversuch wurde von deinen Eltern schroff zurückgewiesen. Das wird dir wohl zur Genüge erklären, weshalb ich mich nicht mehr um sie gekümmert habe. Aber um dich habe ich mich gekümmert. Ich weiß ganz genau, wie du dich als Student und Referendar hast durchschlagen müssen, und entnehme daraus die Gewissheit, dass du genügend Energie und Gewandtheit besitzt, um dich auch in die Pflichten eines Landwirts einzuleben.«
Tante Christine hatte sich anscheinend die Tragweite ihres Vorschlages, ja sogar einen möglichen Fehlschlag ihrer Zukunftspläne reiflich überlegt, denn sie gab ihm den Rat, sich zunächst mal für ein halbes Jahr oder ein ganzes von seiner Behörde beurlauben zu lassen, um sich die Rückkehr in seinen Beruf offen zu halten.
Das war ein guter Rat, der ihm den Entschluss wesentlich erleichterte. Im schlimmsten Fall konnte er ein halbes Jahr verlieren.
Wieder und immer wieder überlas er den Brief, um daraus ein Bild von dem Wesen und der Persönlichkeit seiner Tante zu gewinnen, mit der er und unter der er die nächste Zeit verleben sollte. Sie war ohne Zweifel eine willensstarke Frau, denn sie berichtete, dass sie schon seit vielen Jahren die Hauptlast bei der Leitung des Gutes habe tragen müssen.
Er konnte sich gar nicht vorstellen, wie sich sein Leben dort hinten an der russischen Grenze abspielen würde. Das würden stille einsame Abende mit einer kranken alten Frau werden, einer alten Frau, deren Wohlwollen er sich erwerben musste, um an das Ziel, das sie ihm in Aussicht stellte, zu gelangen.
Ob der Einsatz doch nicht etwas zu groß und zu schwer war, wenn die alte Dame auch späterhin ihre leitende Stellung beibehalten wollte? Er stand auf und ging einige Male nachdenklich im Zimmer auf und ab. Dabei kam er an dem Spiegel vorbei, der ihn daran erinnerte, dass er noch immer seine Schnurrbartbinde trug.
Da lachte er laut auf, tat die Binde ab, zog seinen Rock an und schloss das Geld ein.
Dann nahm er Hut und Stock und ging in den Ratskeller zum Dämmerschoppen. Er wollte heute Abend einen tiefen Trunk tun und morgen früh noch einmal die ganze Sache in Ruhe überlegen. Ob er aber heute Abend einen guten Gesellschafter abgeben würde? Das war in der Tat nicht der Fall. Mehrmals ertappte er sich selbst und die anderen ihn, dass er nicht gehört hatte, was von der Tafelrunde gesprochen wurde. Natürlich erfolgten darauf die am Stammtisch üblichen derben Scherze über Verliebtheit und dergleichen. Er fühlte dabei eine innerliche Belustigung. Wenn die Tafelrunde wüsste, dass er sich in diesem Augenblick beinahe schon als ostpreußischer Großgrundbesitzer fühlte.
Dann ertappte er sich selbst dabei, wie sehr ihn der Gedanke beschäftigte, wie groß wohl das Berschkallen sein könnte, und aus diesen Gedanken heraus fragte er den Kollegen, der das Grundbuch des Kreises führte, ob es keine Möglichkeit gebe, Näheres über ein Gut in Ostpreußen zu erfahren. Natürlich erfolgte zunächst die Frage, was ihn dazu veranlasse.
»Ach, da hat ein Verwandter ein Gut gekauft und ich möchte gern wissen, ob er sich nicht bekauft hat.«
»Wie heißt denn das Gut?« fragte der Kollege. »Ich bin doch Jahre lang in Ostpreußen gewesen und kann es Ihnen vielleicht sagen. Berschkallen? Hm, soviel ich mich erinnere, ja warten Sie mal, das gehört ja einem Herrn von Rosen.«
»Das stimmt, er ist gestorben.«
»Na, ganz jung ist er wohl nicht mehr gewesen, ob er aber von dem Gut viel übrig gelassen hat, ist eine andere Frage. Das war schon damals ein doller Heiland, aber das Gut ist, soviel ich mich erinnere, sehr stattlich. Ich möchte fast sagen, es ist selbst für ostpreußische Begriffe recht groß. Warten Sie mal, tausend ja, nun seien Sie mal offen, die Frau von Rosen war ja eine geborene von Berg. Sollte das nicht eine Verwandte von Ihnen sein?«
»Stimmt auffallend, lieber Herr Kollege. Ich erzähle Ihnen morgen Näheres darüber, was mich zu der Frage veranlasst hat.«
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Original: „weitläuftige“.