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3. Kapitel

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Gleich nach Mittag ritt Wolf nach Bialla, um seine aus Russland ankommenden Schnitter in Empfang zu nehmen. Er hatte einen alten, starkknochigen Gaul unter sich, der seines hohen Alters wegen das Gnadenbrot erhielt, es sich aber noch reichlich verdiente; denn im Sommer zog er das kleine Wägelchen, in dem Frau Stutterheim fast täglich ins Feld fuhr. Beim Einfahren des Getreides musste er ins Scheunenfach und unablässig hin und her wandern, um es fest zu trampeln. Und wenn er lange untätig gestanden hatte, wurde er auch zu einem kurzen Ritt in Anspruch genommen. Für große Schnelligkeit war er nicht zu haben, aber die verlangte man ja auch von ihm nicht.

Und da er noch reichlich Zeit hatte, machte Wolf den kleinen Umweg über Andreaswalde, um sich nach Hannas Befinden zu erkundigen. Christel hatte ihn aus der Giebelstube kommen sehen und stand schon vor der Tür, als er auf den Hof ritt.

»Es geht Hanna nicht sehr gut, sie hat hohes Fieber und heftige Kopfschmerzen. Wir haben schon ein Fuhrwerk nach dem Arzt geschickt…«

Sie trat an sein Pferd heran und streichelte ihm den Hals.

»Das wäre so ein Pferd für Hanna, wenn sie noch einmal Lust verspüren zu reiten«, meinte sie mit einem schelmischen Lächeln. »Du würdest nicht springen, alter Groneberg?«

»Nein«, erwiderte Wolf, »dafür ist er nicht mehr zu haben. Für Hanna ist doch keine Gefahr?«

Christel zuckte die Achseln.

»Mit solch einer schweren Erkältung ist nicht zu spaßen. Da kommt jetzt immer gleich die neumodische Krankheit, die Influenza, dazu, und vor der habe ich allen Respekt. Nun mach’ dir bloß keine Gedanken, lieber Wolf, ich werd’ sie schon zum Schwitzen bringen.«

Er reichte ihr Vom Pferd herab die Hand.

»Hab’ Dank, Christel, für deine Samaritertätigkeit…«

»Die ist doch selbstverständlich, Wolf…«

Mit einem langen Blick sah sie ihm nach. Ein Zorn war in ihr aufgestiegen, den sie mehr fühlte als dachte. Ein Zorn auf ihre ältere 5chwester, die eine so treue Liebe nicht zu schätzen wusste… Noch vor kurzem hatte sie ihr, als sie von einem Dragonerrittmeister, der ihr eifrig den Hof machte, schwärmte, vorwurfsvoll gesagt, dass sie ein schweres Unrecht beginge, und Hanna hatte lachend darauf erwidert:

»Der Wolf läuft mir nicht fort. Der wartet so lange, bis ich ihn brauche … Aber hoffentlich werde ich ihn nicht als Notnagel brauchen.«

Und dann hatte sie der jüngeren Schwester mit hässlichem Lachen gesagt:

»Aus dir spricht ja nur die Eifersucht. Du solltest mir doch dankbar sein, dass ich dir das Feld frei lasse…«

Wie eine Flamme war Christel die Röte ins Gesicht gestiegen. Wortlos hatte sie sich abgewandt, um hinauszugehen und eine verschwiegene Ecke aufzusuchen, wo sie sich ausweinen konnte. Und dabei war es ihr zum ersten Mal klar geworden, dass es nicht bloß Freundschaft war, was sie für den Jugendgespielen empfand, sondern ehrliche, tiefe Liebe … Und sie wusste, dass sie hoffnungslos war, dass Wolfs Herz ihrer Schwester Hanna gehörte, dass er um sie warb…

Was half es, dass Hanna ihn zurückwies? Er würde doch für sie, die Christel, nie mehr empfinden als für eine Schwester … Und ihr Gefühl sagte ihr das Richtige. Während der alte, nach seinem letzten Besitzer genannte Gaul langsam und gemächlich dahinschritt, wanderte Wolfs Herz zurück nach dem Gutshause, wo das geliebte Mädchen in wirren Fieberträumen lag … Gewiss, sie war oberflächlich, sie war übermütig und stets dazu aufgelegt, einen Menschen zu necken … oder verbarg sich hinter dem leichtfertigen, lustigen Ton wirklicher Ernst? Er richtete sich straff im Sattel empor und schüttelte den Kopf, als wollte er die Gedanken verscheuchen.

Dicht neben ihm hatte sich vom schwarzen Acker eine Lerche emporgeschwungen und sang oben im blauen Äther ihr kleines Lied. Es klang so tapfer und hoffnungsfreudig … aus der im Sonnenschein leuchtenden, frisch ergrünenden Saat strahlte ihm die Bejahung des Lebens entgegen. Er streckte die Hand aus und winkte der Lerche zu…

An ihm vorbei rasselten die Wagen von Andreaswalde, die auch auf den Bahnhof fuhren, um russische Schnitter abzuholen. Hinter ihnen ritt der Inspektor Brinkmann. Er schloss sich Wolf an und erzählte, dass er das schöne Reitpferd von seiner Qual durch einen Schuss erlöst habe. Dann fragte Wolf, wie viel Schnitter er in diesem Jahr bekomme.

»An hundert Stück sollen es sein, Herr Stutterheim«, erwiderte der Inspektor. »Ja, wir brauchen so viel. Uns fehlen mindestens sechs verheiratete Instleute und auch einige Knechte. Könnten Sie nicht mit dem Herrn darüber sprechen? Die Gnädige kümmert sich nicht darum, die Mamsell tut, was sie will. Und die Leute machen heutzutage Ansprüche, die Knechte sind mit dem Essen nicht zufrieden und gehen weg…«

Wolf zuckte die Achseln.

»Lieber Brinkmann, ich wollte Ihnen eben gerade ins Gewissen reden, dass die Meierei nicht genügend beaufsichtigt wird.«

»Ach Herr Stutterheim, Sie wissen doch, dass ich nicht alles schaffen kann … Die ganze Hofwirtschaft, die Rechnungsführung, die Amtsgeschäfte, die Außenwirtschaft, das kann ein Mensch nicht bewältigen. Und der Herr, je älter er wird, desto weniger kümmert er sich um den Betrieb. Er studiert in den Büchern, hält lange Vorträge im landwirtschaftlichen Verein, und in seiner eigenen Wirtschaft kann es gehen wie es will. Ich labe gestern gekündigt.«

Wolf drehte sich im Sattel zu ihm.

»Aber Brinkmann!«

»Nein, Herr Stutterheim, ich habe auch Ehre im Leibe. Im Winter ist alles verkauft worden, was an Getreide vorhanden war, und jetzt muss nicht nur Saat, sondern auch Futtergetreide gekauft werden. Das fällt auch auf mich zurück … Ich bin in Andreaswalde grau geworden und habe meine beste Kraft hiergelassen, aber nun mach’ ich Schluss, und Sie müssen mir das Zeugnis ausstellen, dass ich ehrlich und treu für meinen Herrn gearbeitet habe.«

»Ja, das kann ich … Aber was soll denn aus Andreaswalde werden, wenn Sie gehen?«

Der Inspektor zuckte die Achseln.

»Herr Stutterheim, da gehört eine junge Kraft hinein, die auch Geld hinter sich hat, und eine junge, tüchtige Frau … Die beiden Mädel könnten ja manches Gute schaffen. Die Hannachen hat leider gar keinen Sinn dafür … die Christel möchte ja, aber die gnädige Frau sieht es nicht gern, dass sie in die Wirtschaft geht. Das wissen die Mamsells, in der Küche wie in der Meierei, und sind frech gegen sie … Nein, nein, Herr Stutterheim, das geht keinen guten Gang.«

Wolf schwieg. Alles, was der Graubart ihm sagte, wusste er ja selbst … Schweigend ritten sie auf dem Bahnhof ein, stiegen ab und banden ihre Pferde an. Der Vorsteher kam ihnen entgegen.

»Der Zug hat eine Viertelstunde Verspätung, meine Herren. Mit dem Einladen der Russen hat er sich so lange aufgehalten.«

Langsam wanderten die beiden Landwirte auf dem Bahnsteig auf und ab. Sie sprachen wieder über Andreaswalde. Dazwischen fragte Wolf:

»Wie werden Sie bloß mit der Bande von hundert Menschen fertig werden?«

»Ach Herr Stutterheim, diesmal kommt noch so eine Art Inspektor mit. Er hat die ganze Gesellschaft angeworben und soll sie auch beaufsichtigen…«

»Ein Russe?«

»Wahrscheinlich doch, aber er schreibt ganz gut Deutsch. Wissen Sie, was ich meine? Das ist wohl so ein Vertrauensmann der russischen Regierung.«

»Glauben Sie wirklich, dass die russische Regierung sich darum kümmert, wie es den Arbeitern bei uns geht?«

»Wer kann das wissen, Herr Stutterheim? Es hat ja schon geheißen, dass die russische Regierung ihren Leuten verbieten will, nach Deutschland zu gehen. Dann sind wir in Ostpreußen mit der Landwirtschaft aufgeschmissen.«

Aus der Ferne wurde ein Pfiff hörbar. Der Zug rollte heran und hielt. Aus dem Wagen vierter Klasse ergoss sich eine Menschenmasse auf den Bahnsteig. Männer, Frauen, halbwüchsige Bengel und Mädchen … Schreiend und fluchend und sich stoßend und drängend schleppten sie Kasten und Säcke aus dem Wagen … Vor dem Bahnhofsgebäude standen einige masurische Bauern und Arbeiter. Mit unverhohlener Geringschätzung sahen sie auf den Schwarm Russen.

Und sie hatten alle Ursache dazu. Denn nicht nur in der Kleidung, sondern auch im Gesichtsausdruck unterschieden sich die Ankömmlinge sehr zu ihren Ungunsten von den Landesbewohnern … Kein Gesicht, das etwas Intelligenz verriet … Der Ausdruck stupid und roh wie ihr Benehmen.

Aus dem Wagen dritter Klasse war ein junger, hochgewachsener Mann gestiegen. Trotz der guten Kleidung war ihm der Russe anzusehen … Er trat auf Wolf zu, lüftete den Hut und fragte in fremd klingendem, hartem Deutsch:

»Bitte, sind Sie aus Andreaswalde?«

Der Gutsbesitzer schüttelte den Kopf und wies auf den Inspektor, der eben eine Unzahl Männer und Frauen vom Bahnsteig zu seinem Wagen führte…

Einige Minuten später hörte Wolf einen scharfen, lauten Wortwechsel. Er ging an die Ecke des Hauses und sah, wie der Russe den Pferden des vordersten Wagens in die Zügel fiel, während er auf Russisch seinen Leuten abzusteigen befahl. Dazwischen rief Brinkmann dem Knecht zu:

»Du fährst los!«

Grinsend richtete sich der Knecht im Sattel auf, knallte mit der langen Peitsche und ließ die vier Pferde antraben … Der Russe sprang fluchend zur Seite, während der Inspektor sich lachend in den Sattel schwang.

»Wenn Sie nicht wollen, können Sie zu Fuß marschieren.«

»Was ist denn da los, Brinkmann?« rief Wolf und ging näher.

»Ach, Herr Stutterheim, der Herr Inspektor ist zu fein, mit seinen Leuten zu fahren. Er verlangt einen eigenen Wagen.«

»Jawohl, das verlange ich«, rief der Russe, »und ich glaube, dass man in Deutschland Leute, die man braucht, anständiger behandeln könnte.«

»Noch viel zu anständig«, rief Brinkmann, gab seinem Gaul die Sporen und sprengte den Wagen nach.

Der Russe wandte sich zu Stutterheim.

»Ich führe sofort meine Leute weg.«

Wolf maß ihn mit einem kühlen Blick.

»Mit wem habe ich denn das Vergnügen?«

»Mein Name ist Nadrenko, ich habe die Leute angeworben und habe für sie zu sorgen. Ich bleibe nicht bei dem Herrn Brettschneider.«

»Darüber werden Sie wohl verdammt wenig zu bestimmen haben, Herr Nadrenko, wenn Sie einen Vertrag mit meinem Nachbar Brettschneider abgeschlossen haben. Wir brauchen wohl die russischen Arbeiter, aber wir betrachten sie als ein notwendiges Übel. Und unsere Behörden machen nicht viel Federlesens mit Ihren Landsleuten, zumal hier an der Grenze, wo das Ausrücken so leicht ist. Und in Ihrem eigenen Interesse rate ich Ihnen, dass Sie sich jetzt zu Fuß nach Andreaswalde auf den Weg machen.«

»Wer sind Sie denn, dass Sie mir das so sagen?«

»Ich bin der Nachbar von Andreaswalde und komme täglich dorthin … Es kann sich nur um ein Versehen handeln, dass für Sie kein Wagen mitgeschickt worden ist.«

»Das werde ich sofort feststellen, wenn ich nach Andreaswalde komme.«

Wolf lächelte.

»Ich darf wohl annehmen, dass das in sehr höflicher Form geschehen wird. Eine andere Tonart vertragen wir hier in Ostpreußen nicht mehr von den Herren Russen…«

Er machte eine kurze Handbewegung nach der Mütze, wandte sich ab und stieg auf seinen Groneberg.

Seine Schnitter, von denen die meisten schon seit Jahren wiederkehrten, hatten ihn respektvoll gegrüßt und ihre Wagen bestiegen. Eben waren die Wagen abgefahren … Einige hundert Schritt hinter dem Bahnhof holte der Russe Wolf ein und ging auf dem Fußsteig neben ihm. Sein Zorn schien verraucht…

»Herr … Herr … wie war doch Ihr Name?«

»Stutterheim«, erwiderte Wolf, sich leicht im Sattel verbeugend.

»Herr Stutterheim, darf ich fragen, wie groß das Gut ist, wo ich hinkomme?«

»Über viertausend Morgen mit reinem Körnerbau.«

»Körnerbau? Ach so, Sie meinen, es wird nur Getreide gebaut.«

»Na, etwas Milchwirtschaft ist auch dabei … die verträgt sich damit. Interessieren Sie sich so dafür?«

Der Russe nickte.

»Oh, sehr. Ich bin seit zwei Jahren Landwirt … Vorher war ich allerdings etwas anderes, aber die Verhältnisse werfen manchmal den Menschen aus einem Beruf in den anderen.«

Wolf nickte zustimmend.

»Sie wollen wohl unsere Landwirtschaft kennen lernen?«

»Jawohl, sehr richtig, Herr Stutterheim. Wir wissen, dass Preußen in der Landwirtschaft eine führende Rolle einnimmt, das heißt so lange wir ihnen das nötige Übel, die Arbeiter, liefern.«

»Ich glaube, Sie verkennen das gegenseitige Verhältnis. Wir nehmen Ihnen die überschüssigen Arbeiter ab, die Russland nicht ernähren kann, und das Geld, das Ihre Landsleute aus Deutschland nach Hause bringen, trägt viel dazu bei, Ihre Landwirtschaft zu kräftigen.«

»Das will ich nicht bestreiten, Herr Gutsbesitzer, aber es ist doch ein Freundschaftsdienst meines Landes, dass es Ihnen die Arbeiter gibt. Also nur möglich, wenn Deutschland mit uns gute Freundschaft hält…«

Der Gutsbesitzer hatte das Gefühl, als wenn der Russe ihn durch seinen hochfahrenden Ton reizen wollte, und er hatte keine Lust, mit dem Menschen, der ihm vom ersten Augenblick zuwider war, sich über Politik zu streiten. Er kitzelte seinen Gaul etwas mit den Sporen, und Groneberg war so liebenswürdig, sich für einige hundert Meter in einen sanften Trab zu setzen.

So kam er zehn Minuten früher in Andreaswalde an als Herr Nadrenko. Er stieg ab und ging zum Onkel Brettschneider hinein, der in einer Wolke von Tabaksdunst über einem Buch gebeugt saß. Der alte Herr schob seine Brille auf die Stirn und streckte ihm die Hand entgegen.

»Du willst dich wieder nach Hanna erkundigen. Es geht besser, Wölflein. Sie hat tüchtig geschwitzt.«

»Danke dir für die gute Nachricht, Onkel. Ich will dich nur bitten, dass du deinen russischen Inspektor heute nicht empfängst … Ich komme morgen früh her, dann lässt du ihn rufen … Ich erzähle dir nachher, weshalb ich das für sehr wünschenswert halte.«

»Selbstverständlich, mein Jungchen. Ich bin dir sehr dankbar, wenn du mir einen guten Rat gibst.«

Als sich Herr Nadrenko eine Viertelstunde später melden ließ, erhielt er den Bescheid, der Herr sei nicht zu sprechen, er werde morgen früh, wenn der Herr Zeit habe, gerufen werden…

Der Mann von Eisen

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