Читать книгу Ansichten eines Gastarbeiterkindes - Frontano Kore - Страница 6

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3 Über mich

3.1 Vorbemerkung

Die Besserwisser unter Ihnen werden sicherlich nach diesem Kapitel sagen: „Junge, geh’ mal zum Psychiater! Das klingt ja so, als würde ein Schwarzer weiß sein wollen!“ Oder: „Ein astreiner Möchtegern-Deutscher!“ Oder: „Gefangen im falschen Körper, oder was?!“ Nein, so ist es keinesfalls, es ist sogar ziemlich banal und ich antworte mit einer allgemeinen Frage, die der Leser nach diesem Kapitel selbst beantworten kann: Ist man nicht schlichtweg einfach nur entwurzelt und ohne fassbare Identität? (Bitte kommen Sie mir hier nicht mit Milieustudien oder Ähnlichem, das hat damit nichts zu tun.) Da bringt es auch nichts, Weltbürger oder ähnlicher Quatsch sein zu wollen. Oder gibt es mittlerweile einen Weltbürgerpass? Ich hoffe nicht, ich würde auch keinen haben wollen. Hier schildere ich Ihnen also den meiner Meinung nach intimsten Teil meiner Persönlichkeit, der Ihnen meine grundlegenden Standpunkte verdeutlicht.

Meine Abstammung ist armenisch, genauer gesagt westarmenisch, ich bin also Nachkomme von Armeniern aus Kleinasien, der heutigen Republik Türkei. Worin der Unterschied zu den anderen Armeniern besteht, ist an dieser Stelle unwichtig. Wichtig ist, dass ich keine große Bindung dazu habe. Weder habe ich die Sprache erlernen können, noch pflege ich Kontakte zu kirchlichen Gemeinden oder zu kulturellen Vereinen oder sonstigen Folklore-Gruppen. Zur Republik Armenien habe ich sowieso keinerlei Bezug und auch nicht zu irgendwelchen anderen Brauchtümern aus meinem kulturellen Erbe oder wie auch immer man das bezeichnen möchte. Man könnte sagen, meine Abstammung ist für mich relativ irrelevant. Eigentlich. Was ich über meine Herkunft weiß, weiß ich vorwiegend durch Bücher oder Erzählungen.

Wäre ich in den USA geboren worden und meine Eltern oder Großeltern legal immigriert, dann wäre ich einfach nur ein Amerikaner und das wäre es dann vermutlich auch gewesen, weil es ein klassisches Einwanderungsland ist. Die ganze Diskussion darum, dass es ethnische Konflikte gab und gibt, ist hierfür irrelevant, dennoch eine Anekdote aus erster Hand: Eine Verwandte von mir ist in den USA aufgewachsen und hat einen in Kanada geborenen Armenier geheiratet. Wenn dieser Mann nun von sich oder seiner Heimat spricht, dann klingt das in etwa so: „Wir Kanadier machen das so ...“ oder: „Wir Kanadier sehen das etwas anders ...“ Die Abstammung steht also nicht am Anfang oder im Mittelpunkt. Bei mir ist es anders, ich bin quasi dazu gezwungen, das „wir Deutsche“ zu ersetzten durch „in Deutschland machen wir ...“ Das „Wir“ steht in einem anderen Kontext. Meine Verwandte, die in Deutschland geboren wurde, in den USA aufwuchs und einen türkischen Pass hatte, machte in den USA ähnliche Erfahrungen. Da sie auch einen türkischen Nachnamen trug und stets erklären musste, dass sie aus Deutschland kommt, aber eigentlich armenischer Abstammung ist, war es für sie in bestimmten Situationen ebenfalls komplizierter und auch verwirrend für ihre Gesprächspartner, aber weniger im negativen Sinne wie etwa für mich. Denn auf dem neuen Kontinent haben schließlich viele Menschen viele Abstammungen. Mit der US- oder einer anderen angelsächsischen Staatsbürgerschaft wird alles, was davor gewesen ist, unwichtiger und quasi zur Folklore. Damit möchte ich ausdrücken, dass Staatsbürgerschaft definitiv etwas Besonderes ist und somit ein Privileg und nicht etwas Beliebiges, das man austauschen kann. Viele auf dem europäischen Kontinent geborene first-world-kids sehen das leider nicht so, sie nehmen dies sogar als Schuld und Bürde wahr. Letztlich betrachten sie es bestenfalls ausschließlich als Stück Papier. Grundsätzlich sei es ausschließlich etwas Zufälliges – das ist zwar richtig, aber ziemlich naiv gedacht –, sie haben keinerlei Bindung dazu, woraus auch diese völlig verfehlten politischen Entscheidungen herrühren mögen, auf die ich unten eingehen werde.

Durchaus kompliziert ist es aber für mich: In Europa geboren zu sein, dass vor nicht allzu langer Zeit ethnisch und religiös einigermaßen – in seinen eigenen Grenzen – homogen war, da ist es nun einmal etwas komplizierter mit der Identitätsfindung, wenn man darauf Wert legen möchte oder muss. Vor allem in Deutschland ist es vermutlich komplizierter für jemanden wie mich, denn hier stellt die türkische Minderheit die Mehrheit unter den ausländischen Minderheiten dar. Lebte ich in Portugal oder Italien, wäre es sicherlich unkomplizierter, weil es dort schlichtweg keine Türken oder Moslems in bedeutender Größe gibt. Der Lauf der Geschichte ist aber nicht zurückzudrehen und somit auch nicht sämtliche historischen Begebenheiten; völlig sinnlos also, darüber zu lamentieren. Damit will ich verdeutlichen, dass – neben den kulturellen Überschneidungen – das rein Äußerliche auch in südeuropäischen Ländern keine sofortigen Rückschlüsse auf die Identität südländisch aussehender Menschen zulässt. Man hätte schlicht und ergreifend unauffälliger leben können und selbst eine vollständige Assimilation wäre vermutlich in kürzester Zeit denkbarer gewesen. Menschen wie ich werden also in nord- und mitteleuropäischen Ländern mit Türken und anderen Moslems verglichen oder gleichgesetzt, ohne dass sich die Gleichsetzenden der religiösen, politischen und historischen Hintergründe bewusst sind. Dabei ist es egal, ob es gut gemeint ist oder nicht, es ist pauschalisierend und in großen Teilen auch abwertend. Vielleicht ist es ein wenig damit vergleichbar, wenn Außerirdische einen Grünenwähler ununterbrochen als AfD-Wähler bezeichneten, obwohl das einzig verbindende Element die geographische Nähe wäre. In Osteuropa gibt es diese Problematik nicht, daher ist es für diese Diskussion irrelevant.

Eine weitere kurze und höchst bescheuerte Situation, die damit zusammenhängt: Wenn ich mit älteren Verwandten spreche, reden wir zumeist nun einmal türkisch, weil eh keiner mehr die Muttersprache spricht oder je gelernt hat. Mein Kind fragte immer wieder nach, was das denn für eine Sprache sei. Was soll ich sagen, ich musste sagen, dass es Türkisch ist. Nun glaubte mein Kind natürlich, meine Familienseite sei türkisch, wobei ich jedes Mal erklären musste, dass wir keine Türken sind, sondern Armenier. Ganz ehrlich, Sie können sich diese Situation nicht vorstellen. Müssen Sie auch nicht, es ist schließlich weder Ihre Schuld noch Ihr Problem. Aber wenn Sie mich verstehen möchten, dann darf das nicht unerwähnt bleiben.

Als Kind wollte ich einfach nur wie die übrigen deutschen Buben alles tun und lassen dürfen, aber wie bei den Türken war mir einiges nicht erlaubt. Für Mädchen war es erwartungsgemäß strenger, die Jungen durften selbstverständlich ein paar mehr Freiheiten genießen, etwa bei der wichtigsten Sache, nämlich dem abends Fortbleiben. Weshalb das so ist, kann ich Ihnen noch nicht einmal richtig begreiflich machen, weil viele sich mir nicht nachvollziehbare Gedankengänge anhören wie aus dem 19. Jahrhundert oder zumindest aus den 1950ern. Die Eltern- und Großelterngenerationen haben durch ihre erzkonservative Sozialisation die gleichen Prägungen erhalten wie eben Türken auch und unterscheiden sich in grundlegenden Ansichten nur wenig voneinander. Ich beobachte es seit meiner Kindheit, die meisten Westarmenier pflegen freundschaftliche Verbindungen mit Türken, nicht selten seit den 1960ern oder 1970ern, sogar aus der Zeit aus der Türkei noch. Sie hören die gleiche Musik, interessieren sich für die gleichen Fußballclubs und haben die gleiche Ess- und Trinkkultur. Es kommt sogar vor, dass hier und da miteinander geheiratet wird. Das dies auch einige Probleme mit sich bringt, ist hoffentlich klar, aber im Großen und Ganzen sind eher die umliegenden Personen jene, die die Probleme verursachen. Unter normalen Menschen – also ohne religiösen oder politischen Eifer – existieren keine unüberwindbaren Schwierigkeiten. Wären da also nicht diese unüberbrückbaren Differenzen, über die ich unten schreibe, käme man sicherlich prima miteinander aus und man könnte relativ offen miteinander umgehen.

3.2 Hintergrund

Nachdem meine Urgroßeltern den Völkermord (an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten) im Osmanischen Reich – veranlasst durch die sogenannten Jungtürken während des Ersten Weltkriegs – überlebt hatten, sahen sie sich kurz nach der türkischen Republikgründung ein weiteres Mal mit Repressalien konfrontiert. Dieses Mal durch die Türkisierungspolitik des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk, die man im Westen verharmlosend mit der Säkularisierung gleichsetzt, was aber objektiv betrachtet eine brutal durchgeführte Nationalisierung war. Es bedeutete ultimativ, dass jeder ein (moderner) Türke zu sein hatte, ob er nun wollte oder nicht. Mit dem türkischen Familiennamensgesetz aus dem Jahre 1934 – das für diesen Kontext beachtet werden muss – wurden Nachnamen eingeführt, die es bis zu diesem Zeitpunkt unter Türken, Kurden und anderen islamischen Volksgruppen nicht gab. Nicht-Muslime waren zwar offiziell davon ausgenommen, aber nur die wenigsten Armenier und verbliebenen Griechen und Juden hatten es geschafft, ihre richtigen Familiennamen zu behalten. Vielen wurden diese zugeteilt, falsch niedergeschrieben beurkundet, oder sie waren durch nachbarschaftlichen oder öffentlichen Druck gezwungen, eine Türkisierung ihrer Namen durchzuführen. Um nicht vollends ein Doppelleben führen zu müssen beziehungsweise minimale Identitätswahrung zu betreiben, hatten (mütterlicher- wie väterlicherseits) meine Ur- und später meine Großeltern dem ultranationalistischen Geist in der Türkei zu widerstehen versucht: Sie gaben ihren Kindern – also meinen Eltern – christliche beziehungsweise armenische und hebräische Vornamen und ließen sie selbstverständlich taufen, zumeist aber erst im späten Kindes- oder Jugendalter, wegen des Priestermangels und der massiven Einschränkung christlichen Lebens. Wie sehr die armenische Kirche (aber auch die griechische und aramäische Kirche) und deren Gemeinden drangsaliert wurden und selbst heute noch unter widrigsten Umständen arbeiten müssen, dazu könnte ich an anderer Stelle weitere Ausführungen machen, welche indirekt mit meiner Familiengeschichte zusammenhängen.

Die Generationen meiner Großväter und meines Vaters mussten ihren Wehrdienst in der türkischen Armee ableisten, wo sie nicht selten geschunden und schikaniert wurden, wenn ihre Kameraden und Vorgesetzten erfahren hatten, dass sie Christen und im Speziellen Armenier waren. Besonders schwierig war es ja nicht, dies herauszufinden, aufgrund der Vornamen, oder es wurde während der Musterung erkannt oder in den Gemeinschaftsduschen, aufgrund der fehlenden Zirkumzision der Vorhaut. Die männlichen Familienmitglieder waren in der Schule vor allem körperlicher Gewalt ausgesetzt, bei Behördengängen vollends der Willkür durch Beamte. Selbst im Privaten konnten sie sich nie sicher sein, ob sie nicht im besten Falle nur betrogen wurden. Ich möchte nur kurz daran erinnern, dass der letzte Pogrom vor der großen Auswanderungswelle der Gastarbeiter 1955 stattfand, mitten im westlich geprägten Istanbul. In den unterentwickelteren Landesteilen Anatoliens war das Leben für Nicht-Muslime kaum einfacher, von wo meine Vorfahren stammen.

Als die wenigen Türkei-Armenier als Gastarbeiter in die BRD kamen, haben sie ihre wenige Freizeit unter Türken verbracht und sich nicht als Armenier zu erkennen gegeben. Religion oder Politik waren daher selten ein Thema, aber wenn doch, dann mussten sich die Armenier fast ausschließlich Negatives von ihren türkischen Gastarbeiter-Kollegen anhören. Denn es galt und gilt bis heute das Mantra für die meisten Türken, egal ob säkular oder islamisch-orthodox: Der Armenier sei ein Verräter am türkischen Volk, der seit jeher stets mit seinen Feinden paktiert und so weiter. Eine Art Dolchstoßlegende, deren Klischees in mehreren Varianten bis heute präsent sind. Viele Stereotypen werden Ihnen bekannt vorkommen, weil sie unter anderem durch Karl Mays Literatur in deutschen Wohnzimmern präsent waren und sind. Der bekannteste Satz lautet, dass die Armenier die „Juden des Orients“ seien. Bis heute wird der Begriff Armenier als negativer Ausdruck benutzt; der prominenteste Verwender ist der derzeit amtierende Präsident der Türkei.

In diesem Bewusstsein haben mir meine Eltern einst einen türkischen Vornamen gegeben, damit ich niemals einer ständigen Diskriminierung in der Türkei und auch nicht in Deutschland – in der türkischen Gastarbeiter-Gemeinschaft – ausgesetzt bin. An eine klare Abgrenzung oder gar an eine selbstauferlegte Ausgrenzung war nicht zu denken. Persönlich halte ich es sogar für sehr wahrscheinlich, dass nicht selten, aus Angst oder Stressvermeidung, die armenische Identität geleugnet wurde. Selbst heute sprechen die meisten Türkei-Armenier in Deutschland nur leise in Gegenwart von Türken über ihre Abstammung, fast so, als schämten sie sich dafür. Das ist keine Metapher oder Ähnliches, sondern unbestreitbares Faktum. Eine kurze Anekdote für das Verschweigen der armenischen Herkunft, wie sie quasi regelmäßig passiert, ist ein aktuelles Beispiel meiner Mutter beim Einkauf in ihrer örtlichen Metzgerei: Sie traute sich nicht, Schweinefleisch zu kaufen, weil direkt hinter ihr eine ihr bekannte türkische Frau stand. Sie befürchtete, die Dame würde merken, dass sie keine Türkin ist und somit auch keine Moslemin und sie beziehungsweise meine ganze Familie, also inklusive meiner Geschwister, ins Gerede kommt.

Zu Beginn meiner Grundschulzeit, das war in einer Kleinstadt, gab es nur vier türkische Familien, zu denen ich über die Kinder Kontakt hatte. Meine Familie und Verwandtschaft hatte zu zweien sogar guten und freundschaftlichen Kontakt, der teilweise noch aktiv ist, da man sich gegenseitig zu besonderen Anlässen anruft oder beglückwünscht. Mir war lange nicht wirklich klar, weshalb ich in den katholischen Religionsunterricht und in die Kirche ging und die anderen türkischen Kinder in die Moschee. Denn obwohl ich ausschließlich deutsche Freunde hatte und mich als Deutscher fühlte, man mir aber durch verschiedene Kreise stets bewusst machte, keiner zu sein, glaubte ich, Türke zu sein und dass ich sogar bald beschnitten werden müsste. Wenn die Großelterngeneration miteinander armenisch sprach, als eine Art Geheimsprache, hatte ich das als Gemurmel oder undeutliches Geplapper gedeutet. Erst in der dritten Klasse wurde mir bewusst, dass ich gar kein Türke, sondern armenischer Abstammung bin. Klärende Gespräche oder Ähnliches gab es nicht, es wurde mir gegenüber nie eindeutig artikuliert, ob wir Türken oder Armenier sind. Während ich diese Zeilen schreibe, merke ich erst, wie absurd das alles ist.

Ab der fünften Klasse, also nach dem Umzug von der Kleinstadt in eine mittelgroße Stadt, änderten sich die meisten Umstände, die Kleinstadtidylle war nun vollends nicht mehr vorhanden. Die türkischen Jungen aus anderen Schulen, aus höheren Klassen meiner eigenen Schule und auch jene, die deutlich älter waren als ich und vermutlich schon in die Berufsschule gingen, haben sich alle irgendwie an mir gestört. Politische oder religiöse Tendenzen habe ich damals jedenfalls nicht feststellen können. Falls Sie nun allen Ernstes glauben, man hätte sich diesen Leuten entziehen können, dann habe ich wohl mein Leben falsch gelebt und erlebt. Ich erinnere mich jedenfalls nicht daran, dass sich jemals jemand für mich stark gemacht hätte. Falls doch, dann nur im Hintergrund, um nicht selbst ins Fadenkreuz zu geraten. Für die meisten war ich logischerweise nie türkisch genug. Wenn ich Glück hatte, wurde ich nur ignoriert. Diese Jungen und jungen Männer störten sich daran, dass ich nicht den Umgang mit ihnen pflegte, mich nicht in irgendeiner Weise unterordnete, nicht so sprach wie sie, nicht ihre Musik hörte und ihnen einfach nicht nacheiferte. Selbstverständlich küsste ich auch niemals die Hand der Älteren oder begrüßte andere Türken mit Küssen links und rechts auf die Wange. Letztlich fanden sie mich wohl respektlos, was mit einem Tabubruch gleichgesetzt werden kann. Neben der weit verbreiteten – aber nachvollziehbaren – Voreingenommenheit der Deutschen gegenüber Türken unterlag ich dem Zwang, Türke sein zu müssen. Ich gehe davon aus, dass nicht näher erläutert werden muss, dass ein türkischer Vorname, zusammen mit einem türkischen Nachnamen, keine Vorteile bei der Ausbildungs- oder Wohnungssuche geboten haben. Es war und ist bis heute grotesk, als jemand leben zu müssen, der man überhaupt nicht ist.

Erwähnenswert ist, dass ich vermutlich der einzige Ausländer in meiner Heimatstadt war, der Skateboard fuhr, mit Linken und anderen alternativen Leuten verkehrte, seit seinem zehnten Lebensjahr wie eben jene bekleidet war und irgendwie auch wie diese aussah. Von meiner frühesten Jugend bis zum Ende meiner Bundeswehrzeit war ich für meine türkische Umgebung der Bergtürke, der dreckige Türke, der Deutschling oder der Mischlingstürke. Als Letzterer wurde ich bezeichnet, weil es auch einige gab, die glaubten, meine Mutter sei Jüdin, Deutsche oder wahlweise Russin und mein Vater sei der Türke. Diese Ansichten dürften bis heute Bestand haben; ich bin nur noch selten im Nachtleben meiner Heimatstadt unterwegs und meide weitestgehend den Kontakt zu gewissen Personen, daher kann ich das nicht verifizieren.

Mein Vater hat ein Geschäft in der Stadt, die Stammkundschaft besteht seit Jahrzehnten auch aus Türken. Die meisten dieser Kunden wissen vermutlich bis heute nicht, dass er Armenier ist. Mir wurde von klein auf versucht, einzutrichtern, dass ich meine ethnische Herkunft niemals zum Gesprächsthema machen dürfe, schon gar nicht bei Türken (siehe o. g. Bsp.). Daher habe ich es in den meisten Fällen vermieden, in deren Gegenwart über meine Familie oder meine Abstammung zu sprechen. In einigen Fällen ging es nicht anders und ich musste indirekt die Wahrheit aussprechen und zwar, dass ich kein Türke bin und dass ich Christ bin beziehungsweise war. Zu sagen, dass man Armenier ist, wäre für manche wohl surreal gewesen. Es wäre bei den Empfängern in etwa so angekommen, als würde sich ein Sinti selbst als Zigeuner oder ein Dunkelhäutiger als Neger vorstellen.

Ansichten eines Gastarbeiterkindes

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