Читать книгу Lottes bunter Lebensherbst - Gabi Ebermann - Страница 10

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Alexander lächelte im Schlaf, gluckste, rollte sich auf die andere Seite und schlief friedlich weiter. Er hatte Lotte aus ihrem Tagtraum gerissen.

Die Wohnung lag ganz still da, Miki und Tom waren nicht zu sehen. Es hatte bereits zu dämmern begonnen.

Lotte war in solchen Dingen geduldig genug. Sie konnte warten. Die angekündigten „unvorhergesehenen Ereignisse“ würden nicht verloren gehen. Sie hoffte nur inständig, dass keine Katastrophe ihrer aller Glück jäh zerstören würde. Wie glücklich sich doch alles gefügt hatte in den letzten Jahren, sie wollte einfach nichts davon hergeben. Vielleicht war ja alles halb so schlimm, sie wollte nicht wirklich an einen Unglücksfall glauben.

Lotte schloss die Augen und nickte selbst ein wenig ein. Sie fand Anschluss an ihren Tagtraum, in dem sie Lisa in ihren Armen hielt und wiegte wie ein kleines Kind. Sie hielten sich endlos lange fest, und als Lottes Knie aufgehört hatten zu zittern, spürte sie, wie sich innerer Frieden in ihr breitmachte. Sie drückte ihre Tochter weiter ganz fest an sich, atmete ihren vertrauten Duft ein, strich immer wieder durch ihr Haar und stammelte unentwegt „Ich liebe dich“. Wie hatte sie das vermisst! Wie hatte sie es um Himmelswillen nur all die Jahre ohne ihre Familie ausgehalten. Sie musste wirklich verrückt gewesen sein.

Als sie sich endlich voneinander trennen konnten, waren ihrer beiden Augen von den Glückstränen stark gerötet. Die Zeit schien für die Dauer der Umarmung stehen geblieben zu sein. Für einen kurzen Augenblick hatte die Welt aufgehört, sich zu drehen.

Wie durch einen Schleier nahm sie nun auch ihre beiden Enkel wahr und zog sie, zum ersten Mal in ihrem Leben, in die Arme. Sie waren beide schon größer, als Lotte es erwartet hatte. William, mit seinem roten Schopf und dem zarten, sommersprossigen Gesicht, wirkte mit seinen zehn Jahren schon fast jugendlich. Aaron sah man gleich an, dass er der Clown in der Familie war, er grinste übers ganze Gesicht und zappelte vor Freude. Dann kam noch Lisas Ehemann Jim an die Reihe, er hatte bereits graues Haar und tiefe Falten im Gesicht. Er wirkte müder, als Lotte selbst es war. Dass das schon ein Spiegelbild ihrer familiären Misere sein sollte, konnte Lotte freilich nicht erahnen.

Damals und in den Wochen ihres Besuchs schien noch alles eitel Wonne zu sein. Jedenfalls hatten sich die beiden, wobei die Initiative wohl von ihrer Tochter ausgegangen war, eisern vorgenommen, Lotte eine heile Welt vorzugaukeln. Lisas zeitweilige Wehmut schrieb Lotte damals dem Umstand zu, dass sie sich bald wieder trennen würden müssen. Jim selbst spielte den galanten Schwiegersohn.

Sie unternahmen viel, luden die Nachbarn zum Grillen ein, besuchten gemeinsam die Oper, gönnten sich wie früher einen Mutter-Tochter-Tag und gingen mit den Kindern in den Zoo und zum Surfen. Lotte half im Haushalt mit und bekochte ihre Lieben nach Herzenslust. William und Aaron hätten sich in dieser Zeit am liebsten jeden Tag von Grannys Kaiserschmarren und Wiener Schnitzeln ernährt und auch ihr Apfelstrudel stand hoch im Kurs. Lisa lachte oft und meinte, wenn Granny noch lange bliebe, würden sie bald aus allen Nähten platzen.

Oma Lotte sah zum ersten Mal im Leben ein Känguru in freier Wildbahn und einen Koalabären samt Baby aus nächster Nähe. Sie erlebte eine scheinbar so unbeschwerte Zeit, dass sie sich, trotz aller Verwicklungen der darauffolgenden Monate, gerne daran zurückerinnerte. Sie hätte ewig im Verband ihrer Familie weiterleben können, doch ihre Heimat wollte Lotte auch nicht aufgeben, schon allein die sprachliche Barriere schränkte sie unglaublich ein. Ihr englischer Wortschatz, auf den sie immer so stolz gewesen war, schmolz hier zu ein paar hilflosen Brocken und viel mehr als ein „How do you do?“, „Thanks“ oder „Nice weather today“ fiel ihr selten ein. Die Antwort darauf verstand sie dann schon meistens nicht mehr. Ohne ihre kleinen Dolmetscher hätte sie sich im australischen Manly nicht zurechtgefunden.

Dass schon kurze Zeit später alles anders kommen sollte und sich für Lotte trotz aller Sorgen letztlich alles zum Guten wenden würde, stand damals noch in den Sternen.

Alexander räkelte sich, streckte seine Ärmchen und gähnte ausgiebig. Er setzte sich auf und mit einem Ruck war auch Lotte wach. Der Kleine kletterte von ihrem Schoss und holte Fips – ein Schmusetuch mit Häschenkopf, ohne das gar nichts ging. Es wies daher auch bereits erhebliche Spuren von Alexanders übergroßer Zuneigung auf, was jedoch seiner enormen Liebe keinen Abbruch tat. Im Gegenteil: die vorsorglich gekaufte Kopie von Fips wurde nur in Zeiten höchster Not akzeptiert, nämlich dann, wenn Fips, trotz erheblichen Protestes des kleinen Mannes, ab und zu einmal in die Waschmaschine musste. Tom und Miki fanden es manchmal fast peinlich, wenn Fips zu großen Terminen mitgenommen werden musste, aber Alexanders Beharrlichkeit war diesbezüglich nicht beizukommen. Das nicht ganz stadtfeine Schmusetuch war einfach immer und überall dabei. Tom scherzte manchmal, dass ihnen das Jugendamt Alexander wegen Fips irgendwann noch einmal wegnehmen würde.

Lotte, Alexander und Fips suchten jetzt die anderen. Der Familienrat tagte schon im Esszimmer. Als Lotte dazu stieß, hörte sie gerade noch, wie Miki sagte, er wüsste jetzt, wie man sich fühlte, wenn man ungewollt schwanger geworden sei. Schwanger? Lotte verstand gar nichts. Wer war denn schwanger? Eine von Toms Schwestern? Aber das wäre doch ganz und gar nicht schrecklich. Warum ungewollt? Sie standen ja beide in glücklichen Beziehungen. Das konnte es eigentlich nicht sein. Wer dann?

Lotte setzte sich. Alexander war auf Papa Toms Schoß geklettert und verlangte lautstark nach Saft. Mikipaps stand auf und brachte ihm einen Becher mit Wasser. Die Stimmung schien angespannt. Toms Mutter wirkte ganz aufgewühlt. Irgendjemand sollte Lotte jetzt einweihen, sie war verwirrt und hatte Sorgenfalten im Gesicht. Alle redeten wild durcheinander. Dass es jetzt so gar nicht passte, dass sie doch immer nur eines gewollt hatten, dass sie fürchteten, ihnen nicht genug bieten zu können, dass es einfach zu früh dafür war und dass sie nicht wussten, wie sie das trotz Arbeit hinbekommen sollten. Was? Bitte was?

„Worum geht es hier eigentlich?“, platzte Lotte schließlich mit ihrer Frage lautstark in die allgemeine Ratlosigkeit der Anwesenden hinein. Für einen kurzen Augenblick verstummten alle, dann holte Miki tief Luft und klärte Lotte auf. Es war ihm nicht bewusst gewesen, dass sie ja noch gar nicht Bescheid wusste. Alexander sollte ein Geschwisterchen bekommen! Lottes Verwirrung wurde immer größer. Wie sollte das denn nun bitteschön vor sich gehen?

Sie erinnert sich an die Zeit damals zurück, als Alexander überraschend schnell zu Miki und Tom kam. Einige Wochen nach ihrer Australienreise hatten sich die beiden entschlossen, den Kurs für Pflegeeltern zu besuchen. Sie wollten sich damals zwar noch Zeit lassen mit ihrer Entscheidung, einem Kind ein neues Zuhause zu geben, aber sie planten, rechtzeitig die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Also besuchten sie an den Wochenenden die entsprechenden Schulungen und ließen sich vom Jugendamt auf Herz und Nieren prüfen. Es war ja auch nicht ganz alltäglich, dass sich ein homosexuelles Paar um ein Kind bewarb. Und als dann endlich alle Ampeln auf Grün standen, ging es Schlag auf Schlag. Vielleicht im ersten Moment sogar zu schnell. Miki hatte gerade erst vor zwei Monaten seine neue Arbeitsstelle angetreten und Tom war in seiner Bäckerei unabkömmlich. Auch damals gab es einen großen Familienrat bei dem sie übereinkamen, dem kleinen Alexander ein gutes Zuhause bieten zu können. Mikis Chef, selbst Vater von vier Kindern, zeigte sich sehr verständnisvoll. So durfte Miki damals einen Großteil seiner Arbeit per Homeoffice abwickeln und Tom fand einen zuverlässigen Angestellten, der ihm nachmittags den Rücken freihielt. Mit Hilfe von Toms Eltern und Schwestern, mit Opa Ludwig und nicht zuletzt dank Lottes Beistand, lief dann alles wie am Schnürchen. Mittlerweile ging Alexander in den Kindergarten und Miki wieder in sein Büro. Sie hatten einen eingespielten Alltag und der kleine Alexander war wirklich ein zuckersüßes, kluges Kerlchen. Ein unkomplizierter herziger Geselle, den alle liebten. Der Star der Familie.

Und jetzt bekam Alexanders Mutter erneut ein Baby! Das Jugendamt war an sie herangetreten und hatte ihnen das Vorrecht auf das Geschwisterchen zugesagt.

Das stellte ihr kleines, eingespieltes Team auf die Probe.

Alexanders Mutter war ein junges Ding, das wenig Glück im Leben hatte, keine Ausbildung, kein Elternhaus, das hinter ihr stand, falsche Freunde und leider auch Kontakt mit Drogen. Sie war der Verantwortung, die das Leben, oder gar das Leben mit einem Kind, mit sich brachte, nicht gewachsen. Alexander war ihr schlicht und einfach egal. Sie war damals froh, den kleinen Kerl so schnell wie möglich los zu werden. Sie hatte auch später kein Interesse an ihrem Sohn. Am Anfang hatten Miki und Tom mit Nachdruck versucht, den Kontakt aufrecht zu halten, denn sie wollten Alexander nicht die Mutter nehmen. Nachdem aber jeder dieser Besuche mit fast feindseliger Abneigung dem Kleinen gegenüber endete, waren auch die beiden bald davon überzeugt, dass Alexander ohne diese Begegnungen besser fuhr.

Und jetzt das! Wie aus heiterem Himmel ein zweites Kind. Miki und Tom fanden es beunruhigend, nicht zu wissen, wie viele Geschwister denn Alexander noch bekommen würde. Sie konnten und wollten doch nicht alle aufnehmen. Alexanders Mutter war jetzt gerade einmal neunzehn Jahre jung und bekam schon das zweite Kind. Sie zeigten sich auch besorgt hinsichtlich des Lebenswandels der jungen Frau. Würde das neue Baby auch gesund sein? Mit Alexander hatten sie ihr großes Glück gefunden und Angst es herauszufordern. Aber das ging wohl allen Eltern so, dass sie sich nicht vorstellen konnten, ein zweites Kind wäre auch nur annähernd so perfekt und liebenswert wie das kleine Wesen, das ihre Herzen bereits im Sturm erobert hatte. Selbst dann, wenn das ganze Drumherum harmonisch und gewollt verlief.

Lotte begriff jetzt endlich, was hier vor sich ging. Ein Geschwisterchen für Alexander. Aber das wäre ja großartig! Sie verstand die allgemeine Aufregung ganz und gar nicht. „Das schaffen wir doch!“, platzte sie mit ihrer Meinung heraus. Kaum hatte sie es laut ausgesprochen, wurde ihr klar, dass sie vielleicht bald am allerwenigstens dazu beitragen konnte. Immerhin war Lotte mittlerweile fast achtzig Jahre alt. Sie hatte zwar das unglaubliche Glück, um ein gutes Jahrzehnt jünger zu wirken und sich auch so zu fühlen, aber die Jahre waren nicht wegzuleugnen.

Ihr zuversichtlicher Ausruf schien den Familienrat dennoch wachzurütteln. Schlagartig wusste jeder etwas Positives beizutragen. Als Alexander, der sich bisher nur mit seinem Wasserbecher beschäftigt hatte, dann plötzlich und ganz unerwartet fragend das Wort „Baby?“ daher brabbelte, waren seine beiden Papis zutiefst gerührt. Konnten sie ihm denn wirklich ein echtes Schwesterchen oder Brüderchen verwehren? Es war doch ein Stück seiner Wurzeln, ein Schicksalsgefährte. Es würde für Alexander ohnedies einmal schwer genug sein, zu verstehen, warum sich seine Mama gegen ihn entschieden hatte. Wollten sie ihm dann wirklich noch erklären müssen, sie hätten aus Bequemlichkeit und Angst die Aufnahme seines Geschwisterchens verweigert? Allein schon dieser Gedanke ließ kein „Nein“ gegenüber dem neuen Erdenbürger zu. Das Leben ist eben nun einmal kein Kinderspiel und sie machten sich vielleicht einfach nur zu viele Gedanken. Es würde sich schon alles fügen. Sie hatten A gesagt, jetzt mussten sie wohl auch B sagen.

Es waren längst noch nicht alle Zweifel aus ihren Köpfen beseitigt, doch im Moment fühlte es sich so an, als könnten sie es mit vereinten Kräften ein zweites Mal schaffen. Sie hatten sich schon vor Alexander viele Gedanken darüber gemacht, wie es sein würde, ein Kind in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft großzuziehen.

Sie wollten sich nicht verstecken und es war ihnen klar, dass es da und dort zu Anfeindungen kommen würde. Ihre Liebe und Fürsorge für das Kind mussten so stark sein, dass jegliche Hänselei an ihm abprallen würde. Miki und Tom waren sich im Klaren darüber, dass es sich dabei um keine einfache Aufgabe handelte. Sie waren aber auch klug genug, zu wissen, dass es tausend weitere Gründe gab, die für andere Anlass genug sein konnten, jemanden auszugrenzen. Ein ärmliches Elternhaus, rote Haare, Übergewicht, oder gar nur eine Brille auf der sommersprossigen Nase. Wer nicht cool war, wurde gemobbt, das war schon immer so. Alexander würde cooler als cool sein, das mussten sie einfach hinbekommen. Seine gewinnende Art würde alle über den „Makel“ seiner Eltern hinwegsehen lassen.

Ein Vorgeschmack auf derartige Anfeindungen bekamen sie damals gleich beim Erstkontakt mit Alexander zu spüren. Die Krisenpflegemutter, in deren Obhut sich der Kleine vorübergehend befunden hatte, war nicht gerade entzückt, ihren Schützling zwei Schwulen überlassen zu müssen und machte auch keinerlei Hehl daraus. Sie war schon jahrzehntelang Mama auf Zeit und kämpfte für die ihr anvertrauten Kleinen wie eine Löwin. Zwei Väter bedeuteten absolutes Neuland für sie und ihr Misstrauen war dementsprechend groß. So etwas kam in ihrer Vorstellung für eine gute Kinderstube einfach nicht vor. Als waschechte Wienerin polterte sie geradeaus heraus, was sie von dieser Sache hielt, nämlich gar nichts. Ein absolutes „No-Go“.

Wie so viele andere auch war sie von den beiden aber im Eiltempo eingenommen worden. Nachdem sie Miki und Tom näher kennengelernt und das liebevoll eingerichtete Kinderzimmer gesehen hatte, schmolzen ihre Bedenken in Windeseile dahin. Es konnte sich selten jemand dem Charme der beiden entziehen. Die Warmherzigkeit, die Miki und Tom ausstrahlten, wirkte wie ein knisterndes Feuer, das sich rasend schnell ausbreitete. Sie waren liebenswürdig und unkompliziert. Der zärtliche Umgang mit dem Kleinen und die gerührten Blicke, mit denen die zukünftigen Papis ihn betrachteten, taten ihr Übriges. Miki und Tom waren so begeistert und beherzt bei der Sache, dass die Krisenpflegemutter binnen kürzester Zeit davon überzeugt wurde, dass diese kleine Gemeinschaft eine absolute Chance verdient hatte.

Lottes bunter Lebensherbst

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