Читать книгу Lottes bunter Lebensherbst - Gabi Ebermann - Страница 12

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Als Lotte damals von Australien zurückkam, haderte sie sehr mit ihrem Dasein im Seniorenheim. Sie freute sich zwar auf Hilde und Hans, aber während der vier Wochen im Generationenhaushalt mit Lisa und ihren Enkelkindern war ihr schmerzlich bewusst geworden, was ihr in den vergangenen Jahren so sehr gefehlt hatte: es machte Spaß, ihre Lieben zu verwöhnen. Lotte hatte es immer noch drauf, sie war ganz und gar das starke Muttertier und Lisa dankbar dafür, dass sie endlich einmal das Zepter aus der Hand geben durfte und wieder ein ganz klein wenig das Kind von früher sein durfte. Sie musste sich als selbständige Frau, Mutter und Ärztin und, wie Lotte schon damals heimlich vermutete, als alleiniges Oberhaupt der Familie beweisen. Jimmy schien eher ein drittes Kind, als ein kongenialer Partner für seine Frau zu sein. Lotte entging das nicht, aber sie wollte sich nicht in deren Ehe einmischen, schließlich ging das nur die beiden etwas an. Sie sorgte sich um Lisa, sie war viel zu blass um die Nase, fast durchsichtig und schien mit dem Haushalt, den Kindern und ihrem verantwortungsvollen Beruf am Rande ihrer Schaffenskraft zu stehen. Umso mehr freute es Lotte, wenn sie sich in diesen Tagen einbringen konnte, um ihre Tochter ein wenig zu entlasten. Lisa bemühte sich im Ausgleich dazu, ihrer Mutter einen unvergesslich schönen Aufenthalt zu bereiten. Sie organisierte Ausflüge, lud Freunde ein, ging mit ihr in die Oper und zum Shoppen. Sie alberten miteinander herum wie zwei alte Freundinnen und taten einander uneingeschränkt gut, die Gedanken um die baldige erneute Trennung schoben sie weit von sich. Lotte wollte die Zeit so intensiv wie möglich mit ihrer Familie verbringen. Natürlich interessierte sie sich auch für das Land, das jetzt Lisas neue Heimat geworden war, aber das hatte keine Priorität. Man hätte sie vier Wochen mit Lisa und den Kindern ins Haus sperren können, es wäre ihr auch recht gewesen. Sie sog jedes Wort und jede Bewegung in sich auf, um es für immer in ihrem Herzen festzuhalten. Lotte war sich ganz sicher, wenn sie irgendwann ihre Augen schloss, würde sie Lisa und die Kinder vor sich sehen, riechen und sanft berühren können. Damals schon kam Jim in diesen Gedanken nicht vor. Das fiel Lotte aber erst viel später auf.

Einige Wochen nachdem Lotte aus Australien zurück war und sie sich wieder an das Leben im Heim gewöhnt hatte, geriet ihr Leben plötzlich völlig aus den Fugen. Sie erinnerte sich noch genau an den Tag oder besser gesagt die Nacht, in der sie sich so hilflos und unvermögend wie nie zuvor im Leben fühlte.

Zunächst hatte sie das Klingeln ihrer „Liste“ – so nannte Lotte ihr iPad immer noch – nachts hochgeschreckt. Sie hatte sich ein wenig früher hingelegt und schon tief und fest geschlafen. Sie konnte sich zuerst gar nicht richtig orientieren. Es war absolut ungewöhnlich, dass Lisa sie um diese Zeit anrief, auch wenn es in Australien natürlich erst Mittag war. Lotte rappelte sich hoch und holte die Liste. Ebenso wie die bedeutungsvolle Bezeichnung für das Tablet, hatte sich in all den Jahren auch der Aufbewahrungsort nicht geändert: ihre Unterwäschelade. Als die Dämpfung durch BHs und Unterhosen wegfiel, wurde das Klingeln laut und eindringlich.

Sie klappte die Hülle weg und hob ab. „Lisa? Du? Um diese Zeit?“ Lotte rubbelte ihre Augen, um sicher zu gehen, dass sie nicht träumte. Und dann, mit einem Schlag war sie hellwach.

„Mami!“ Lisa weinte und ihre Stimme war ganz dünn. „Mami“, schluchzte sie erneut, „es ist etwas Schreckliches passiert“. Lotte war starr vor Sorge und Hilflosigkeit. Ein kalter Schauer rieselte ihr den Rücken hinunter.

„Bitte beruhige dich doch! Ist was mit den Kindern?“ Lisa brachte die Worte kaum über die Lippen und die schlechte Verbindung trug auch nicht gerade dazu bei, dass Lotte Klarheit bekam. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, in der Lotte beim Anblick ihrer verzweifelten Tochter fast das Herz brach. Jimmy war tot! Tot? Nein, das konnte nicht sein. Sie hatte doch noch ganz deutlich das lebendige Bild ihrer Familie vor sich, als sie ihr zum Abschied zuwinkte, und da gehörte Jim nun einmal eindeutig dazu. Tot? Lisa wirkte jetzt ein wenig gefasster, die Worte waren ausgesprochen. Sie entschuldigte sich bei ihrer Mutter, sie so spät in der Nacht mit dieser furchtbaren Nachricht zu überfallen.

„Aber ich konnte einfach nicht anders, Mami.“ Sie musste in dieser schweren Stunde mit dem wichtigsten Menschen auf der Welt sprechen, um Trost und Halt zu finden.

Jimmy war früh morgens mit dem Auto losgefahren und gegen irgendein Tunnelportal geprallt. Zwei Polizisten hatten ihr vor einer Stunde die traurige Nachricht überbracht. William und Aaron waren noch in der Schule und Lisa hatte einfach nur reglos dagesessen und ihren Tränen freien Lauf gelassen. Sie hatte lange überlegt, ob sie ihre alte Mutter so spät noch anrufen sollte, oder nicht, aber sie konnte nicht anders. Sie hatte noch die schwere Aufgabe vor sich, es den Kindern zu sagen und davor musste sie unbedingt selbst ihre Fassung zurückgewinnen. Lisa wusste, dass Lotte eine unheimlich starke Person war und sie brauchte jetzt ihre Mutter wie nie zu vor, auch wenn sie sich Tausende Kilometer weit entfernt befand. Lotte wäre am liebsten durch den Bildschirm ans andere Ende der Welt gekrochen, hätte Lisa in den Arm genommen und wie ein kleines Kind gewiegt. Wie konnte das geschehen, wie konnte das ihrem kleinen Mädchen nur passieren und wie sollte es jetzt weitergehen?

Dann brach es aus Lisa heraus, wie ein Wasserfall aus einer engen Felsspalte, der unaufhaltsam talwärts drängte.

Lisa und Jim hatten schon seit vielen Jahren ernsthafte Schwierigkeiten gehabt. Lotte ahnte schon lange, dass die beiden nicht uneingeschränkt glücklich waren miteinander, aber in welcher Ehe herrschte schon immer nur Sonnenschein? Die Herausforderungen, vor die einem das Leben so stellte, waren eben nicht immer einfach zu bewältigen und dass es in einer Beziehung Höhen und Tiefen gab, wusste Lotte ja aus eigener Erfahrung wohl am besten. Den Partner nicht zu vernachlässigen, wenn sich alles um die Kinder drehte, war ohnehin schwierig genug. Dass die beiden aber mit einem viel größeren Problem zu kämpfen hatten, schockierte Lotte zutiefst. Ihr Schwiegersohn war spielsüchtig gewesen! Das erklärte so Einiges! Daher auch die ewige Geldknappheit.

Lotte erfuhr jetzt die ganze Wahrheit. Jim hätte die ganze Familie fast in den Ruin getrieben. Er hatte seinen Job verloren und das lange Zeit vor Lisa verheimlicht. Er verließ jeden Morgen pünktlich das Haus und kam nachmittags wieder zurück. Über Monate war ihm diese Inszenierung perfekt gelungen, bis seine Ehefrau zufällig einen Kollegen von ihm traf, der sich nach ihm erkundigte und ihn lieb grüßen ließ. Lisas Enttäuschung und Zorn darüber, dass Jimmy sich ihr nicht anvertraut hatte, um gemeinsam nach einer Lösung zu suchen, war grenzenlos. Sie hatte ihm damals eine entsetzliche Szene gemacht, nach der er wortlos ging und tagelange verschwunden blieb. Lisa wollte sich vor William und Aaron nichts anmerken lassen, aber die beiden bemerkten natürlich, dass ihre Mutter ziemlich von der Rolle war. Sie erfand ein Seminar, an dem ihr Vater unvorhergesehen hatte teilnehmen müssen und hoffte, dass Jim bald wieder zu Sinnen kommen würde. Er schuldete ihr schließlich mehr als eine Erklärung. Als ihr Ehemann dann drei Tage später vor der Tür stand, grau und unrasiert, ließ sie ihn kommentarlos hinein.

Und dann brach alles aus ihm heraus und sie hörte einfach nur zu. Ihr bisheriges Leben schien eine einzige Lüge zu sein, es fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Sie hatte die Probleme ihres Mannes nicht erkannt oder besser gesagt, verdrängt. Hatten sie sich schon so weit voneinander entfernt? Wie konnte das geschehen? Sie waren doch einmal eine ganz normale kleine Familie gewesen.

Jimmy weinte wie ein kleines Kind und sie übernahm sofort wieder die Mutterrolle. Er jammerte vor sich hin und gestand ihr schließlich seine Spielsucht. Lisa hatte stets akzeptiert, dass er sehr wenig zum gemeinsamen Leben beitrug. Sie wirtschafteten mit getrennten Kassen und sie fragte sich oft, was er mit seinem Geld eigentlich anstellte. Des lieben Friedens willen hatte sie gelernt, mit wenig auszukommen. Da sie sehr geschickt haushalten konnte, war für das Nötigste immer gesorgt. Große Sprünge konnten sie aber nie machen. Jim beteuerte, sich zu bessern und alles wieder gut zu machen. Lisa wollte ihm nur allzu gerne glauben.

So besorgte sie für Jimmy einen Platz bei den anonymen Spielern, nahm einen Kredit auf, um die schlimmsten Schulden abzudecken, und übernahm noch mehr Stunden im Spital. Jim sollte sich vorerst um den Haushalt kümmern und gegen seine Sucht ankämpfen. Sie wollten ihrer Familie und ihrer Liebe eine zweite Chance einräumen, William und Aaron sollten nicht unter dem Unvermögen ihrer Eltern leiden müssen.

Und genau in dieser Phase ihres Lebens hatte Lotte ihren Besuch angekündigt. Das Bemühen, ihr die perfekte Familie vorzuspielen, war gleichsam ein Versuch, wieder eine solche zu werden. So war es damals Lisas feste Überzeugung, dass sich alles zum Guten wenden würde. Doch Jimmy hielt nicht Wort. Er schaffte es nicht. Es dauerte nur wenige Monate, dann war die Sucht stärker als sein Wille. Er konnte nicht anders, einmal noch, nur ein einziges Mal noch! Ein großer Gewinn und er würde als der Held dastehen, der den Karren wieder aus dem Dreck gezogen hatte. Aber er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Sein Vorhaben misslang und sie gerieten tiefer denn je in eine aussichtslose Lage.

Lisa traute sich kaum, ihre Mutmaßung laut auszusprechen, aber sie war sich nahezu sicher: bei Jimmys Tod handelte es sich nicht um einen Unfall. Er wählte vermutlich den ultimativ letzten Ausweg, seiner Familie eine sichere Zukunft zu bieten. Eine, in der William und Aaron, nachdem sie über die Trauer hinweggekommen waren und so Lisa es zuließ und nicht die Wahrheit über ihn preisgab, ihren Vater als liebenden Familienmenschen in Erinnerung behalten konnten. Eine, in der sie vom Geld seiner Lebensversicherung halbwegs wieder Fuß fassen konnten, ohne wie Verlierer dazustehen.

Lotte lauschte den Worten ihrer Tochter fassungslos. Es war schrecklich für sie als Mutter, ihr Kind nicht in die Arme nehmen zu können, wenn es Trost und Beistand am nötigsten gehabt hätte. Sie fühlte sich erbärmlich.

Noch Stunden nachdem sie und Lisa das Gespräch beendet hatten, saß Lotte wie versteinert da. Wie hatte ihre Tochter das nur durchgestanden und warum hatte sie sich ihr nicht längst anvertraut? Aber wie hätte sie ihr auch helfen sollen, wenn sie sich am anderen Ende der Welt befand?

Es war gegen vier Uhr morgens, als Lotte in einen unruhigen, leichten Schlaf verfiel.

Lottes bunter Lebensherbst

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