Читать книгу HUMANOID 2.0 - Gabriele Behrend - Страница 3
Infusion
ОглавлениеIch komme aus der Wüste. Das schrillende Knirschen des Sandes dringt direkt in mein Hirn. Die Hülle ist brüchig und porös. Schmerz, da ist Schmerz – zu grell, zu stark. Die Stacheln richten sich gegen mich selbst. Das ist nicht zu ertragen. Ich spüre den Riss, der sich mit jedem Augenblick fortpflanzt. Die Ahnung des Untergangs manifestierte sich vor Moronen schon. Bis jetzt konnte ich es ignorieren. Wie kann man mit Gewalt etwas zusammenfügen, das auseinanderbricht? Ich kann es nicht mehr. Ich bin geflohen. Ich bin gerannt. Dünen warfen mich zurück, immer wieder, rieben mich wund und hohl. Nun ist nichts mehr da, das die Leere füllt. In den Überbleibseln meiner Silikatkonglomerate tobt ein Sturm. Dunkelrot pulsierend, rau, schuppig. Zermürbend wie die Sonne, die einst Schutz war. Lebensspenderin – trocknet sie mich nun bei lebendigem Leib aus. In den früheren Episoden unbestimmter Sinneszustände sah ich Bilder vor mir. Lichtgraue Visionen kaltklafternder Steinwüsten. Ihr Tau benetzte meine Stacheln, richtete sie auf. Damit konnte ich leben – überleben. Aber diese tröstliche Melancholie ist mir seit dem Tag verwehrt, da ein hohles Knacken an mein Ohr drang. Es war unspektakulär. Ich nahm es am Rande wahr. Ich dachte mir nichts dabei. Ich war mir nicht einmal bewusst, dass ich es war, die da brach. Die Sonne rief mich in die Aktivzeit zurück. Ich fuhr die Stacheln aus und machte mich gehorsam in den Kampf auf, der mir von jeher bestimmt war. Doch dann drang der schmirgelnde Sand in mein Inneres. Ein unbestimmtes Ziehen und Reißen begleitete mich seit diesem Mor. Noch kein wirklicher Schmerz, mehr eine Ahnung, die von den Instinkten überlagert wurde. Aber Reflexe können nicht auf Dauer schützen.
Ich komme aus dem Wasser. Die Wellen sind ölig, ich bin ölig geworden. Schimmernde Schlieren, die sich schwer auf die Leichtigkeit legen, die mich sonst ausgemacht hat. Wo sind die anderen? Früher suchte ich sie nicht, denn sie waren immer da. Doch nun verschlammt die Einsamkeit mein Wesen. Trübe sind die Wasser geworden, die mir Heimat sind. Und ich möchte fliehen. Ich möchte über die Steine springen, fort von diesem Ort. Doch der Boden kommt mir zu nah. Er hat vor Kaskaden begonnen, nach mir zu greifen. Unmerklich, nachlässig. Ich begriff es nicht gleich. Dachte, es wäre Zufall, der mich vor die Barriere aus Steinen trieb. Dachte, ich könnte mich befreien, wenn ich trotzig meinen eigenen Weg wählen würde. Doch nach ungezählten Kämpfen und Befreiungsschlägen komme ich kaum vorwärts, denn der Untergrund hat mich fest in seiner tumben Umklammerung. Er ist nicht offen für Worte, er ist geistlos. Er versteht mein Flehen und mein Bitten nicht. Jetzt bleibt mir nicht mehr viel. Jetzt bleibt mir nur noch, zu sterben. Also richte ich mich in diesem Tümpel ein, der noch geblieben ist und träume von flüssigklarer Transparenz vergangener Zeiten. Welch Hohn …
Die Aktivzeit ist vorüber. Dunkelheit kommt auf. Sie schiebt sich träge über die fernen Dünenkämme, die mir noch im letzten rotgoldenen Aufblitzen den Hohn des nächsten Tages zuzwinkern. Sie haben Zeit. Sie hatten schon immer Zeit. Sie wissen nichts vom Kampf. Ich halte einen Moment inne. Meine Träume führen mich zurück in die feuchtkalten Geröllwüsten. Das Bild ist fester in mir verankert, als ich es zu hoffen wagte. Vorsichtig schiebe ich die Stacheln aus. Zaghaft löse ich mich vom Schmerz. Lasse alles fahren. Wind kommt auf, der mich über den Sand treibt. Ich holpere den Abhang hinunter. Diesmal meint es der Zufall gut mit mir, denn gegen diese Düne werde ich morgen nicht anrennen müssen. Ich weiß schon längst nicht mehr, wohin ich will. Ich weiß noch nicht einmal mehr, woher ich komme. Aber die Bewegung illusioniert ein Vorwärtskommen. Ein Akt des eigenmächtigen Handelns, der mich an die vergangene Stärke erinnert. Damals …
… Damals waren die Kaskaden getränkt von Sonnenstrahlen, die tief in mich eindrangen. Sie griffen nach mir und ich gab mich ihnen willig hin. Türkis, grün, azur – ich trug viele Farben in mir. Ich teilte sie mit den silbrig schimmernden Blitzen schuppigen Bewusstseins. Es gab keine Grenzen, nur Strudel, die sich an Felsen bildeten. Leben bedeutete Freiheit, Leben bedeutete Spiel. Es gab nur die Kaskade des Augenblicks. Es gab kein Halten. Jetzt gibt es nur ein bewusstloses Steinbraun in den Resten meines damaligen Seins. Früher verachtete ich die Steine. Früher verachtete ich alles, das unbeweglich verharrte. Ich trieb mein lachendes flirrendes Spiel mit ihnen. Jetzt wünschte ich, ich wäre mehr wie sie. Ich wünschte mir, ich hätte eine Form. Ich wünschte mir, ich hätte Kraft. Ich wünschte, ich wünschte … Ich will nicht wissend vergehen. Daher blende ich alles aus, was noch an mich herandringt. Gut, dass wir ein Gedächtnis haben. Geschichtenerzähler, das waren wir. Narren, das sind wir. Ich möchte träumen von den Wirbeln, in denen wir uns austauschten. Ich möchte träumen von den Dunkelheiten, in denen wir im Funkeln der Lichter über uns miteinander verschmolzen. Ich möchte träumen von den Momenten, da wir mit unseren Geschichten die Tropfen impften, die wir in die samtweiche, seidenkühle Freiheit entließen.
Ein Stein stellt sich mir in den Weg. Der Schmerz flammt auf, als einer meiner Stacheln mit einem Knirschen an ihm zermalmt. Meine Agonie schreit zum Himmel. Er antwortet nicht. Aber noch will ich nicht aufgeben. Das bin ich mir schuldig. Das bin ich uns allen schuldig. Wer weiß, wie viele es noch von uns gibt. Inmitten meines lodernden Restwillens sehe ich sie vor mir. Wir waren uns nie wirklich nahe, Kämpfer, die wir sind. Aber wir wussten voneinander. Hin und wieder traf man sich und hinterließ Spuren. Spuren, die nach nur wenigen Moronen, den eigenen Instinkten folgten. Wenn es so weitergeht, werde ich nichts hinterlassen. Aber bis dahin werde ich schreien!
Ein heißer Wind streicht über mich hinweg. Und er singt von Qual. Ich spüre ein Brennen dort, wo er mich berührt. Der Schlamm in mir beginnt zu glühen. Rot leuchtet es in mir auf. Wer zerrt mich aus meinen Träumen, wer wagt es? Nehmt mir nicht alles, nicht alles, was mir noch bleibt! Ich bin noch nicht bereit, ich habe noch zu viele Geschichten in mir!
Der Wind treibt mich weiter. In meinem Kopf sind Spiegelscherben, taumelnd stürze ich ins Verderben. Hinunter, hinunter. Der Wind hat mich von meinem stummstarren Peiniger weggezerrt. Er kennt keine Gnade – so wie ich sie nie gekannt habe, wenn meine Opfer in den Stachelkreis gerieten. Ein Flackern in der Tiefe. Wahr oder nicht? Keine Ahnung, da ist nichts mehr, das ich noch bewusst steuern kann. Rot, rot – das sich verbindet mit grünlichem Sprühen. Eine Ahnung von Kühle erreicht mich. Wenn es jetzt soweit sein soll – dann lass mich dort sterben. Von der Erinnerung an die Kälte umarmt. Ich kann nicht mehr kämpfen. Ich will nicht mehr kämpfen. Ich strecke meine Waffen. So ist also das Ende …
Der Wind treibt in heißen Schwaden ein körniges, raues Sterben heran. Ich spüre es. Ich empfange es. Es gleicht zu sehr meinem eigenen Sterben. Das letzte Aufbäumen hat mich fast alles gekostet, das ich noch besaß. Es bleibt keine Kraft mehr zum friedlichen, unbewussten Hinübergleiten. Ob es den anderen, die vor mir gegangen sind, ähnlich ergangen ist? Doch was würde mir eine Antwort jetzt noch bedeuten? Könnte sie mir Trost spenden? Nein, denn dies ist mein Erleben. Niemand der mir nahe steht, könnte jetzt noch etwas ändern. Aber bitte, bitte, lasst mich nicht allein … spürt ihr nicht, dass ich bereit bin zu empfangen?
Alles ist stumm. Alles ist Schweigen. Bin ich tot? Ich spüre Feuchtigkeit unter mir. Ich spüre ein schlammiges Nest unter meiner Hülle. Die lauwarme Nässe dringt durch den Riss meiner Hülle in mich ein. Es ist nicht der kristallene Tau meiner inneren Steinwelt. Es ist ein dunkles, glattes Laken, das sich an meine geschundenen Stacheln schmiegt. Ich bin zu schwach, um mich dagegen zu wehren …
Ich umarme dich, Fremder. Ich kenne dich nicht. Aber du bist hier. Wer weiß, wer dich geschickt hat, wer weiß, wozu es gut sein soll. Nimm mich auf, beschütze mich, denn ich bin zu schwach, um in diesem Moment allein zu sein.
Was bist du? Ich kenne dich nicht. Willst du mein Leben? Das gebe ich dir, denn ich bin zu schwach, um es noch länger zu beschützen.
Ich will nicht dein Leben. Ich will deine Nähe. Nur für einen Moment.
Warum?
Damit ich geben kann, was ich zu geben habe …
Ich bin kein Freund.
Ich bin kein Feind.
Die Sonne küsst die Dunkelheit zum Abschied. Sie schiebt sich über die Kämme der Dünen, die sich friedfertig zum Horizont hin öffnen. Ich lebe noch. Vorsichtig fahre ich die Stacheln heraus. Der Schmerz ist verschwunden. Der Riss ist geheilt. Der Sand in mir ist gebunden, eingehüllt. Und alles, was bleibt, ist ein Lachen in mir, das mir fremd ist. Und gleichzeitig so vertraut, als ob es schon immer in mir gewesen wäre. Ich weiß, dass der Tod um mich war. Ich weiß, dass der Tod in mir ist. Doch es ist nicht der meine. Die Nacht hat ihre Spuren hinterlassen. Ich frage mich, wann sie in mir wirken werden.