Читать книгу HUMANOID 2.0 - Gabriele Behrend - Страница 5

Puppenspieler

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»Ich liebe dich«, sagt Patrizia, nachdem er ihr die erste Schelle des Abends verpasst hat. »Ich möchte nur das Beste für dich. Lass dir bitte helfen!«

Ihre Stimme ist nicht von Angst verzerrt. Den schrillen Ton, der die Hysterie verrät, die sonst in solchen Situationen in ihr tobt, kann er heute nicht hören. Ihre Ruhe macht ihn rasend. Mit einer Hand greift er in ihr Haar, zieht sie hoch, bis sie nur noch auf den Zehenspitzen balanciert.

»Willst du mir immer noch sagen, was ich zu tun habe?«

Sie sieht ihn an, lächelt – nachsichtig, gütig. Als wenn er ein Kind wäre, dessen Feuerwehrauto kaputtgegangen ist. So darf sie ihn nicht ansehen. Verdammt, wer hat ihr erlaubt, ihm zu vergeben? Frustriert schüttelt er sie wie eine Lumpenpuppe. Warte nur, das Grinsen wird dir noch vergehen! Ich will dich schreien sehen. Ich will dich leiden sehen, du Schlampe, dreckige Hure, verblödetes Nichts. Ich mach dich fertig!

Doch sie schreit nicht. Sie jammert nicht. Manchmal schließt sie die Augen, für einen Moment nur, wenn ihr Kopf gegen die Wand hinter ihr schlägt. Doch dann sieht sie ihn wieder an. Ihre grünen Augen suchen seinen Blick, und dieses Scheißlächeln bleibt auf ihrem Gesicht haften, als sei es mit Zweikomponentenkleber fixiert. Wieso will sie nicht endlich nachgeben? Wieso missgönnt sie ihm die Herrschaft in den eigenen vier Wänden? Wieso … wieso … wieso?

Das Blut hämmert in seinen Ohren, der Atem geht schwer. Er ist so müde. Es war ein langer Tag gewesen, lang und unerfreulich. Er hat längst abschalten wollen. Die Abendnachrichten sind bestimmt schon vorbei – verdammt, sie weiß doch, wie wichtig sie ihm sind! Eine Viertelstunde nur, eine beschissene Viertelstunde! Aber nein, Madame muss ja wieder ihre Anwandlungen haben. Geh! Geh, geh. Such dir Hilfe. Denn du bist Müll. Das ist es doch, was sie ihm ständig aufs Neue deutlich macht, aus welchem Grund auch immer. Sie hat es gut bei ihm. Sie könnte den Himmel auf Erden haben, wenn sie ihn nur nicht immer so reizen würde! Meinte sie etwa, das hier würde ihm SPASS machen? Wie kam sie nur darauf, mein Gott, er LIEBTE sie. Wenn er doch nur seine kleine kurze Viertelstunde haben könnte!

Seine Wut flammt erneut auf, lässt seine Fäuste härter schlagen, ungebremst, unkontrolliert. Niere, Magen, Rippen, Bauch. Sie krümmt sich unter der Wucht der Schläge, sackt zusammen, kauert irgendwann auf dem Boden, die Hände zum Schutz erhoben. Als er auf sie hinunter sieht, kann er endlich wieder Luft holen. Beiläufig bemerkt er einen Speichelfaden, der zäh aus dem Mundwinkel tropft. Sorgfältig wischt er ihn weg. Dann geht er vor ihr in die Hocke, hebt die Hand vorsichtig, beinahe schon zärtlich, an ihr Gesicht und streicht eine dunkle Strähne aus der Stirn.

»Willst du mich immer noch fortschicken?«

Sie sieht ihn nicht an, ist erstarrt in der perfekten Pose des Opfers. Schon glaubt er, sie zittern zu sehen. Sein Blut fließt wieder ruhig in seinen Adern. Das Herz wird ihm weit und großzügig.

»Du musst jetzt nichts sagen, Liebling. Du warst verwirrt. Ich verzeihe dir. Na, wie wäre es mit einem Kuss?«

Jetzt sieht sie ihn endlich an. Die grünen Augen sind verschleiert, das Lächeln wirkt daher etwas dümmlich, aber die Worte sind klar und deutlich.

»Geh zu einem Psychiater. Du schaffst es nicht allein.«

Er muss feststellen, dass sie auch noch lächelt, nachdem sie bereits kalt geworden ist.

Der Drink, der ihn von diesem Anblick erlösen sollte, schickte ihn in eine bodenlose Schwärze.

Die Jalousien surrten leise, als sie nach dem Ende der Vorführung wieder hochgezogen wurden. Ein entsetztes Schweigen lastete schwer auf dem Raum. Zähflüssig kroch es über die blinkenden Edelstahlflächen der Büroeinrichtung, floss an den großen Glasfenstern hinauf, legte sich über einen chiffonumhüllten Oberschenkel und sammelten sich schließlich in ausdruckslosen, unaufgeregten Augen. Sie waren grau.

Die Frau fröstelte. »Wird er sich nie ändern?«

Ein Blick in die grauen Augen ihres Gegenübers und das Frösteln verstärkte sich. Das Schweigen eroberte erneut den Raum.

»Ihr Hobby wird langsam teuer«, sagte der Geschäftsmann schließlich. »Was erwarten Sie sich eigentlich davon, Frau Heussler? Warum leben Sie nicht einfach Ihr Leben?«

Ein Ruck ging durch die Frau. Für einen kurzen Moment spiegelte sich der Stahl des Zimmers in ihrer Stimme.

»Ich will ihn nicht aufgeben.«

»Wir haben Ihnen schon beim ersten Besuch versichert, dass wir keine Therapeuten sind. Ich möchte Sie nur noch einmal darauf hinweisen, damit Sie nicht in Versuchung kommen, diese Firma zu verklagen, falls sich der gewünschte Erfolg nicht einstellt.« Nach einer kurzen Pause räusperte er sich. »Um ehrlich zu sein, kann ich keine Besserung feststellen. Im Gegenteil, er hat Sie gestern zum ersten Mal getötet. Sie haben es ja selbst erlebt.«

Sie nickte leicht. Merkwürdigerweise war es schmerzhafter, das Video anzusehen, als die Szene am eigenen Leib zu erleben. Es musste an der gedämpften Reizübertragung liegen. Schock würde man beim Menschen psychologisieren. Sie wurde wieder weich, durchlässig für das, was einst war. Wahrscheinlich war die ganze Sache an sich für keinen Außenstehenden zu verstehen. Vielleicht nur für den, der wusste, wie Thomas früher gewesen war.

Angelegentlich sah sie zum Fenster hinaus. Ein schöner Tag. Doch er war nichts im Vergleich zu dem Sonntagnachmittag vor vier Jahren, als sie ihn kennengelernt hatte. Es war im Frühherbst gewesen, zwischen rot glühendem Laub, Pilzduft und Sonnengefunkel. Sie hatte am Schwanenteich pausiert und dem bunten Treiben von Stockenten, Möwen und Graugänsen zugesehen, als er höflich gefragt hatte, ob auf der Bank noch ein Platz frei wäre. Er war in den mittleren Jahren, sehr sorgfältig gekleidet, charmant, zuvorkommend. Sie kamen ins Gespräch und sie ertappte sich später bei dem Gedanken, dass sie sich lange Zeit nicht mehr so wohl gefühlt hatte. Bald sahen sie sich öfter – ging spazieren, ins Kino. Essen. Irgendwann kam es zu den ersten Berührungen.

Versonnen strich sie mit dem Daumen über ihre Lippen. Es war erstaunlich gewesen. Sie hätte damals nicht gedacht, dass Sex so aufregend sein konnte. Was ihrem ersten Mann an Leidenschaft gefehlt hatte, machte Thomas gleich doppelt wett.

»Möchten Sie trotzdem einen weiteren Versuch starten?«

Sie schluckte. Irgendwann fing er an, sie anders anzufassen. Die vorsichtige Zärtlichkeit machte einer verhohlenen Grobheit Platz, die sie zunächst genoss. Doch als sie sich an die erste Ohrfeige erinnerte, die er ihr aus irgendeiner Nichtigkeit heraus verpasst hatte, prickelte ihre Wange, als ob ein Insekt seine ätzenden Exkremente darauf ablud. Ein Schauer durchfuhr sie. Warum tat sie das alles?

Mit zitternden Händen unterschrieb sie den Folgevertrag.

Van Fromm mit den grauen Mephisto-Augen schmunzelte. Die Katze war im Sack. »Wenn er so weiter macht, muss ich Ihnen bald Rabatt gewähren.«

Er widerte sie an. Patrizia war sich schon lange bewusst, dass er sich insgeheim über sie lustig machte, und jedes Mal, wenn sie die Schwelle zu seinem Büro überschritt, überlegte, welche Jacht er sich als nächste aussuchen würde. Aber letztlich war ihr das egal.

Mit einem höflich-professionellen Shakehands warf er sie aus seinem Büro, hinaus in das hochwertige Entree, in dem sie für einen Moment wie benommen stand. Dann ordnete sie ihren Mantel und klemmte die Tasche mit den Videos unter den Arm. Sie musste noch sehr viel üben. Doch für’s erste musste sie sich auf den Heimweg machen – und Brötchen besorgen.

»Ich will ihn nicht aufgeben«, hatte sie gesagt. Das traf es recht genau. Nach den ersten Schlägen hatte sie ihre Tasche gepackt und war zu einer Freundin gezogen. Doch er hatte sie dort aufgespürt, hatte sich tränenreich entschuldigt. Es sei der Stress gewesen, er könne es sich selbst nicht anders erklären. Er würde sie aufrichtig lieben. Niemals würde sich diese Situation wiederholen.

Sie war schwach geworden. War zurückgekommen. Bald waren die Schläge vergessen. Für die nächsten drei Jahre hatte alles geklappt. und die Welt war rosarot und watteweich und zeitlos. Sie liebte und wurde geliebt und wollte dieses Gefühl nicht mehr missen.

Dann verlor er seinen Job. Man hatte ihn wegrationalisiert, die Quoten stimmten nicht mehr. Er war frustriert. Sie wollte ihm helfen, übernahm in ihrem Job mehr Arbeit, blieb daher länger weg, verdiente den Lebensunterhalt für sie beide. Sie spürte seinen Zorn sehr deutlich, auch wenn er alles tat, um ihn vor ihr zu verstecken. Sie wusste um seine Angst. Daher war es nicht unerklärlich, als er sie eines Abends an der Haustür abfing und zusammenschlug.

Als sie wieder bei Besinnung war, versuchte sie, mit ihm zu sprechen. Sie schlug eine Therapie vor, versicherte ihm, dass sie ihn liebte und an ihn glauben würde. Und wachte erst im Krankenhaus wieder auf.

Sie tauchte erneut unter. Doch ihre Gedanken waren immer bei ihm. Seltsamerweise verspürte sie keinen Zorn. Stattdessen verlor sie sich in den Erinnerungen, träumte von ihm, idealisierte ihn und war über ihre eigene Hilflosigkeit wütend. Jeder sagte ihr, dass er ein Schwein sei, ein brutaler Schläger mit kleinem Ego, getrieben von Angst und Minderwertigkeitskomplexen, doch anstatt ihn endgültig zu verlassen, suchte sie nur umso intensiver nach einer Lösung. Diejenigen, die ihr davon abrieten, ließ sie im Regen stehen. Wer kritisierte, war nicht auf ihrer Seite, warum also Zeit auf die Zweifler verschwenden? Sie hatten doch keine Ahnung.

In dieser Zeit starb ihre Mutter, die sie jahrelang nicht mehr gesehen hatte. Sie hinterließ ein tiefes Loch in ihrer Seele und ein Erbe, von dessen Höhe Patrizia keine Ahnung gehabt hatte. Nachdem sie sich in diese neue Situation hineingefunden hatte, suchte sie verstärkt nach Möglichkeiten, ihm zu helfen. Schließlich las sie von Mephistos Horrorkabinett, wie sie die Firma bei sich nannte. Technical Humanoids for better Realities – Highclass avatars for enlarged joy. Sie musste nicht lange überlegen.

Verwirrt und mit dröhnendem Schädel wacht er aus einem komatösen Schlaf auf. Er weiß nicht sofort, wo er sich befindet oder welcher Tag es ist. So etwas ist ihm früher mal passiert, als er noch Student war. Damals hatte es keine Auswirkungen gehabt, aber jetzt? Er hat gerade erst wieder einen Job gefunden. Nicht die gut dotierte Stelle, aus der man ihn hinauskomplimentiert hat, aber besser als nichts. Noch ist seine Probezeit nicht vorbei, er sitzt auf einem wackligen Posten. Er kann nur hoffen, dass er wegen dieser Fehlzeit nicht hinausgeworfen wird. Langsam ist er zu alt für die Verzögerungstaktik der Arbeitsagentur.

»Liebling?« Sie ist wohl schon bei der Arbeit, nur ein Hauch ihres Parfums hängt wie ein leiser Gruß in der Luft. Mit einem Stoßseufzer vergräbt er das Gesicht in ihrem Kissen, saugt ihren Duft ein, warm und weich. So unendlich vertraut. Er hat geträumt, dass er sie getötet hätte. Allein die Erinnerung an diese Bilder lässt sein Herz krampfen und ihm die Luft knapp werden. Was hat er nur getan?

Doch als er aufsteht und im Badezimmer ihr Badetuch findet, sauber über die Stange des Duschvorhangs gehängt, noch feucht, als er in der Küche den letzten Tropfen Kaffee aus ihrem Becher leckt, sind die Trugbilder des Schlafes für den Moment vergessen. Ein Blick in die Fernsehzeitung versichert ihm, dass es Sonntag ist. Er hat also keinen Tag Arbeit versäumt, Glück gehabt. Entwarnung. Und Patty wird beim Bäcker um die Ecke sein und ganz bestimmt gleich nach Hause kommen. Fröhlich pfeifend setzt er einen frischen Kaffee an und geht ins Badezimmer.

»Schatz?« Patrizias Stimme tönt durch das Rauschen der Dusche.

Er stellt das Wasser ab und steckt den Kopf aus der Dusche. »Wieder zurück, Liebling?«

Sie lehnt sich entspannt lächelnd in die Badezimmertür. »Hast du gut geschlafen?«

»Ja, leidlich.« Mit einem jungenhaften Grinsen streckt er den Arm zu ihr aus. »Komm her zu mir.«

»Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, weißt du. Du wolltest gar nicht wieder aufwachen. Aber dann habe ich gedacht, dass du es wohl nötig hast, also habe ich dich gelassen.« Sie lächelt entschuldigend.

Er winkt ungeduldig ab. »Nun bin ich ja wach.« Dann lächelt und lockt er erneut: »Kommst du jetzt zu mir?«

»So wie ich bin?« Sie deutet lachend auf ihren Chiffonrock und die Seidenbluse. »Ich fürchte, ich muss das Angebot ausschlagen!«

»Bist du dir sicher?« Er schmollt.

Sie zwinkert ihm zu, dreht sich auf dem Absatz herum und schreit einen Moment später spitz auf, als ein Schwall Wasser ihren Rücken trifft.

»Na, jetzt solltest du aber schnell aus den nassen Klamotten heraus. Du holst dir ja sonst den Tod, Liebling.«

»Warum hast du nicht wenigstens warmes Wasser genommen?«, mault sie, als sie sich aus den eiskalten Fetzen schält. »Mir ist kalt!«

»Komm her, dann mach ich dir Feuer unterm Hintern«, murmelt er.

Als sie später durch den Park bummeln, merkt er, wie sie tief Luft holt, als ob sie sich für irgendetwas Mut machen müsste. »Rück damit raus, Liebling, was immer dir auch auf der Seele brennt.«

Ein schneller Blick von ihr, ein Umgebungsscan. Wie viele Menschen sind da? Wird jemand helfen können, wenn … Dann kuschelt sie sich wieder in seinen Arm und fragt leise: »Erinnerst du dich an irgendetwas vor dem Einschlafen?«

Er runzelt die Stirn. »Nicht richtig. Eigentlich gar nicht. Habe ich etwas gemacht? Auf dem Tisch getanzt und schmutzige Lieder gesungen?« Er lacht gezwungen. Der Morgen holt ihn wieder ein. Sein Magen windet sich in einem stählernen Griff. »Was ist passiert, Liebling? Haben wir uns … gestritten?«

Streiten, so nennt er das. Man streitet mit Fäusten, man diskutiert mit Worten. Immerhin ist er konsequent in seiner Begrifflichkeit.

Sie vergewissert sich noch einmal, ob es genügend potenzielle Zeugen gibt. Öffentlichkeit hält ihn in Schach, das hat sie schon vor Langem herausgefunden. Sie schluckt trocken, dann endlich flüstert sie erstickt: »Du hast mich umgebracht.«

»Was hast du da in deinen Schal gemurmelt?«

»Du, du hast …«

»Ein bisschen lauter, Liebling.« Er neigt den Kopf zu ihr hinunter, lauscht angestrengt.

»DU HAST MICH UMGEBRACHT!«

Jetzt ist es heraus, sie bleibt stehen, zittert. Sieht ihn voller Angst an, leicht geduckt. Wer weiß, woher die Faust kommen mag?

Er sieht sie fassungslos an, schüttelt verwirrt den Kopf. »Das meinst du nicht ernst, oder? Du stehst doch vor mir, hm? Ziemlich lebendig, wie ich finde.«

Sie nickt. Schweigt. Beißt sich auf die Lippen.

»Meinst du das metaphorisch, oder wie?« Langsam wird er ärgerlich. Wie sie dasteht, als sei er ein Monster. Wie ein furchtstarres Karnickel – und behauptet solch einen Scheiß. Er würde sie doch nie – der Magen presst sich zusammen, das Blut beginnt zu rauschen.

»Antwortest du nicht mehr, oder wie? Das ist ziemlich billig, weißt du das? Einfach so eine Behauptung aufzustellen und dann nichts mehr dazu zu sagen. Klär mich mal auf! Was geht in deinem kranken Hirn denn vor sich?«

Sie zittert. Wird blass. »Entschuldige, ich hätte nicht davon anfangen sollen.«

Er zieht ein Gesicht. »Jetzt ist es zu spät. Das hättest du dir früher überlegen sollen.«

»Ich dachte doch nur …«

»Denken, denken. Kannst mal sehen, was dabei rauskommt.« Er knurrt, er ist beleidigt. Er würgt an der eiskalten Angst, die wie ein Gummiband seinen Magen abschnürt. Da ist etwas hinter seiner Stirn, es pocht und klopft gegen die Schädelknochen. Es sind Bilder, Ahnungen, die aus irgendeinem modrigen Versteck an die Oberfläche seines Geistes wollen. Es kostet Kraft, sie aufzuhalten, sehr viel Kraft. Der Schweiß sammelt sich auf seiner Stirn.

Sie tritt einen Schritt näher. »Lass uns nach Hause gehen.«

Er fasst ihre Hand, dreht sich abrupt um, marschiert los.

Kein Schmerzenslaut verlässt ihre Lippen, als der Mittelhandknochen des kleinen Fingers unter dem Druck bricht.

»Im Übrigen verzichte ich im Zuge des Kaufvertrages auf die Video-Überwachung. Das bedeutet, dass Ihre Firma sämtliche Kameras unverzüglich entfernen wird.« Patrizia lächelte kühl. »Irgendwelche Einwände?«

»Ich weiß nicht, ob ich dem zustimmen kann. Die Sicherheit, Sie verstehen?« Van Fromm war nicht erfreut, aber sie hatte die besseren Karten in der Hand. Sie hatte das Geld.

»Wenn ich mir zu Hause einen Panic Room einrichte, in den nur ich sowie das Servicepersonal hinein- und hinausgehen können, dann denke ich, dass für meine Sicherheit ausreichend gesorgt ist.«

»Es geht aber hier nicht nur um Ihre Sicherheit, sondern auch um die des Produktes!«

Van Fromm fuhr sich erregt über die Stirn, so ganz und gar nicht mehr Mephisto. »Was meinen Sie denn, wenn Ihr Mann herausbekommt, was Sie da machen – glauben Sie wirklich, dass er das locker-flockig hinnehmen wird? In dem Produkt steckt sehr viel Liebe zum Detail, Know-how, bahnbrechende Entwicklungen, Hightech!« Ihm gingen die Worte aus.

»Es ist interessant, wie sehr Sie an Ihren Schützlingen hängen«, erwiderte Patrizia spitz. »Dabei möchte ich Sie an dieser Stelle noch einmal auf den Full-Service-Zusatzvertrag hinweisen, der die technische Funktion auf Lebenszeit sicherstellt, Herr van Fromm. Ich habe ihn bereits unterschrieben und beglaubigen lassen. Meines Wissens haben Sie auch keine Ausschlussklausel eingefügt. Bei dem horrenden Preis könnten Sie sich das im Übrigen auch nicht leisten!«

Van Fromm hob eine Braue.

»Aber man kann Ihr Vorhaben als vorsätzliche und wissentliche Gefährdung des Produktes ansehen«, wandte er ein. »Daher können wir uns das Recht nehmen, die Vertragsleistungen nur unter Vorbehalt zu gewähren. Letztlich können sich die Anwälte darum kümmern.« Er holte tief Luft. »Frau Heussler«, begann er dann von Neuem. »Warum tun Sie sich das an? Sie sind doch auf so einen gar nicht angewiesen. Wieso genießen Sie nicht Ihr Leben?«

Patrizia sah van Fromm kühl an. »Glauben Sie mir, ich habe meine Gründe.«

Kurze Zeit später waren alle Vorbereitungen abgeschlossen. Die Idee eines Panic Rooms hatte Patrizia verworfen, da sie baulich unmöglich machbar war. Doch der Zufall wollte es, dass das Einzimmerappartement nebenan frei wurde. Sie unterschrieb sofort den Mietvertrag. Sie reichte ohne Thomas’ Wissen auf ihrer Arbeitsstelle Sonderurlaub ein und übte in dieser Zeit im Trainingscenter von Technical Humanoids alle nötigen Handgriffe, die sonst die Servicetechniker an ihr verrichteten. Als er dann für ein Wochenende zu seinen Eltern in den Harz fuhr, war es soweit. Kaum war er aus der Wohnung, vergaß sie die Magen-Darm-Grippe, die sie angeblich daran hinderte, ihn zu begleiten und öffnete den Technikern von Humanoids die Tür. Der Samstag war mit dem technischen Aufbau ausgefüllt. Patrizia wunderte sich, wie problemlos das Einrichten verlief. Am Schluss glich das Appartement einer Mischung aus Krankenhauszimmer, Werkbank und Computerstation. Sonntagmorgen wurde dann das frisch überholte Produkt angeliefert. Patrizia gab die Ersatzschlüssel der Wohnung sowie die verschiedenen Codes der Alarmanlage an ihren persönlichen Servicetechniker weiter.

Als die Tür hinter dem letzen Mitarbeiter ins Schloss gefallen war, widmete sie sich endlich ihrem Alter Ego. Wie schon beim ersten Mal war sie fasziniert von der Perfektion der Imitation. Seltsam, dachte sie, in diesem Körper habe ich die letzten zwei Wochen verbracht. Er ist mir so vertraut wie mein eigener. Vorsichtig legte sie eine Hand auf die Brüste des Avatars. Die synthetische Haut war samtweich, hier und da schimmerten die Adern leicht blau. Sie war nicht hübsch, stellte sie fest. Die jugendliche Straffheit war dahin. Man sah es unter den Armen, an den Schenkelinnenseiten, am Hals. Versonnen berührte sie sich selbst, während sie mit einer Hand ihren Avatar, ihr Alter Ego, streichelte. Nicht hübsch, wiederholte sie in Gedanken. Aber schön. Neugierig beugte sie den Kopf vor, schnupperte leicht. Der Kunstkörper glich ihr sogar im Geruch. Mutig, verlegen, konfus erforschte sie mit ihren Fingern die künstliche Vagina. Auch hier fühlte sich soweit alles echt an. Doch genau an dieser Stelle offenbarte sich der Unterschied zwischen Natur und Nachahmung. Sie musste schmunzeln. Oh ja, diese Braut konnte immer, wollte immer. Da gab es kein Problem mit ausgedörrten Wadis bei mangelnder Attraktion des Gegenübers.

Der Sex mit Thomas hatte immer gut geklappt. Ob er deshalb so von sich überzeugt war? Patrizia trat einen Schritt zurück. Sie runzelte die Stirn. Egal, was er gesagt oder getan hatte, bisher hatten sie sich immer im Bett versöhnt. Würde ihm diese künstliche Hitze und Nässe nicht signalisieren, was für ein geiler Hengst er war? Auch wenn er mich grün und blau geschlagen hat, das Fleisch ist willig? Ob er es als Anreiz sehen würde? Mit einem Ruck zog Patrizia die Hand zurück.

Dann sah sie auf die Uhr. Er würde bald zurückkommen. Für einen Moment zögerte sie. Dann aber legte sie sich auf die pneumatische Liege, schob den Mindstreamer über den Kopf und schloss den Apparat an. Als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie ihren Körper auf dem Bett liegen. Sie übernahm die Kontrolle über den Avatar, schloss ihren Körper an Kanüle und Katheter an, legte die Nährlösung und die Elektroden für das Dauer-EKG, das über eine Computerstandleitung mit dem medizinischen Dienst von Humanoids verbunden war.

Als sie das Appartement verließ, fühlte sie sich im Avatar heimischer als in ihrem eigenen Körper.

»Liebling?« Die Tür fällt ins Schloss. Sie atmet erleichtert durch. Er ist gut gelaunt, anscheinend kein Stau, keine inkompetenten Mercedesfahrer – alles ist gut.

»Im Wohnzimmer, Schatz!«

Er steht in der Tür, reißt die Arme auf. »Willst du mich nicht ordentlich begrüßen?«

Sie fliegt ihm in die Arme.

»Anscheinend bist du wieder gesund. Das ging ja schneller, als ich dachte. Oder wolltest du dich etwa nur um den Besuch drücken?«

»Nein«, versichert sie ihm hastig, den Kopf an seinem Hals, seinen Duft in sich aufsaugend. Es sei ihr schlecht gegangen und nur die Freude, ihn wiederzusehen, ließe sie jetzt so übermütig erscheinen. Er freut sich auch auf sie, sie spürt es in seinem Schritt.

Nach der Wiedersehensparty liegt er erschöpft neben ihr, die Hand auf ihrer linken Brust und lächelt sein Sonnenscheinlächeln.

»Ich liebe dich«, flüstert sie. »Ich liebe, liebe, liebe dich.«

»Wie schön«, erwidert er. »Das Gleiche gilt für mich.«

Zufrieden kuscheln sie sich aneinander und für einen kurzen Moment denkt sie, dass es schierer Wahnsinn ist, dieses Erlebnis ihrem wahren Körper vorzuenthalten. Vielleicht, denkt sie weiter, vielleicht, wenn es so bleibt, brauche ich den Avatar nie wieder und er wird nie etwas davon erfahren. Doch eine dunkle Stimme flüstert im Hintergrundrauschen, dass es nicht so friedlich bleiben wird. Denn wenn auf etwas Verlass wäre, dann auf seine Unberechenbarkeit. Doch sie hört es nicht, zu sehr konzentriert sie sich auf den Strom der Liebeserklärungen, die er in ihr Haar flüstert.

Am nächsten Morgen wacht sie erst spät auf. Die Sonne scheint grell in ihr Fenster, und nach einem Moment des Sichsortierens bemerkt sie Thomas auf dem Stuhl neben ihrem Bett sitzen. Seine Miene ist düster und angespannt. Was denn sei, fragt sie verwirrt. Warum ist er nicht bei der Arbeit, was macht er hier? Er antwortet nicht.

»Bitte«, fleht sie ihn an. »Bitte sprich mit mir!«

Er dehnt den Augenblick, lässt sie zappeln im Angesicht des Sturms. Schließlich hält er ihr ein Bündel Papier entgegen. Nach ein, zwei Blicken lässt sie die Seiten sinken.

»Warum hast du eine Wohnung angemietet?«

Sie schweigt.

»Willst du mich verlassen? Ist es das, was du willst?« Er spricht leise, konzentriert.

Sie schüttelt stumm den Kopf.

»Patrizia, gibt es etwas, das du mir sagen willst?«

»Nein, Tom. Das hat gar nichts … das ist nichts.«

»Wer ist es?« Thomas ist inzwischen kalkweiß, seine Hände krampfen sich um die Armlehnen.

»Niemand, Tom, da ist niemand!«

»Wen willst du für dumm verkaufen? Das ist ein Mietvertrag – entweder wolltest du in aller Heimlichkeit verschwinden oder das ist dein kleines Liebesnest. Lohnt es sich denn? Hat er mehr Kohle, ist es das? Oder fickt er besser als ich, hä?«

»Da ist kein anderer, glaub mir doch!«

Mit einem Satz ist er neben ihr. Reißt ihr den Kopf nach hinten, die Hand in ihren Locken verkrallt. »Lüg mich nicht an, du Schlampe!«

»Tom, bitte!«

»Willst du mich überzeugen, Patty? Willst du mich wirklich überzeugen?« Seine Stimme ist zu einem heiseren Flüstern herabgesunken. »Willst du mir zeigen, dass Patty-Maus nur ein dummes, dummes Kind ist, das in fremden Wohnungen spielen geht?«

Sie versucht, zu nicken.

»Dann zeig sie mir. Jetzt, sofort!« Mit einem Griff schnappt er sich den Mietvertrag. »Du hast es ja gar nicht weit, wie ich sehe. Faul auch noch, was? Andere Nutten würden ihre Affären wenigstens vor ihren Männern geheim halten, aber selbst das kannst du nicht. Und jetzt raus aus dem Bett, sonst setzt es was!« Sein Fußtritt verfehlt sie nur knapp.

Als Thomas das Appartement gesehen hatte, war er so befremdet und geschockt, dass er zum ersten Mal ganz leise geworden war. Er war nicht wütend, nicht entsetzt. Er war sprachlos. Und zum ersten Mal hatte er ihr wirklich zugehört.

Sie erzählte ihm, was es mit dem Avatar auf sich hatte. Sie erzählte ihm von ihrer Liebe, völlig irrational unter den gegebenen Umständen, aber trotzdem unauslöschlich in ihr verankert. Sie erzählte ihm von ihrer Kindheit, dass sie Schläge schon von früher gekannt hatte und daher damit umgehen konnte. Sie erzählte ihm von ihrem Glauben an das Gute in ihm, von ihrem Vertrauen. Dass sich alles zum Guten wenden würde, wenn er sich nur einer Therapie unterziehen würde. Sie fragte ihn, ob er sie liebe. Warum er sie schlug. Warum er ihr immer wieder wehtat.

An diesem Abend rollten sie ihre Beziehung neu auf. Sie sezierten die guten wie die schlechten Dinge, und am Ende lagen sie sich weinend in den Armen.

Trotzdem wechselte Patrizia nicht wieder in ihren Körper zurück. Der Avatar war ihr Schutzschild in der Zeit, die Thomas brauchte, um das Ganze zu realisieren. Sie gab ihm die Codes der Alarmanlage nicht, als Selbstschutz, denn sie wusste nicht, wie weit sie ihm in dieser Phase des langsamen Begreifens trauen konnte. Zu groß war die Angst, dass er in einer unbeobachteten Minute in das Appartement schlüpfen und in einem Anfall unkontrollierter Raserei ihren biologischen Körper töten würde. Da sie sich vorstellen konnte, wie befremdlich die Situation für Thomas sein musste, aber auch wie demütigend, ertrug sie seine Ausbrüche und erklärte ihm immer wieder, dass sie das Ganze für ihn geplant hatte, weil sie ihm helfen wollte, einen anderen Weg einzuschlagen, und auch, dass sie die Schläge kaum spüren würde, die er dem Avatar verabreichte.

Nachdem er sich an die Situation gewöhnt hatte, verstrich ein weiterer Monat, der erstaunlich friedlich verlief. Thomas hatte sich im Griff, vergewisserte sich aber immer wieder, ob ihr die Schläge wirklich nichts ausmachten, ob es ihr gut ginge. Diese Fürsorge erinnerte sie an den Mann, den sie damals kennengelernt hatte, und ließ sie vor Freude weinen. Sie fühlte sich wieder so sicher, dass sie in ihren Körper zurückwechselte.

Eines Abends kam er mit der guten Nachricht nach Hause, dass er einen Therapeuten gefunden hätte. Der Haken daran war, dass der nächste Platz erst in sechs Monaten frei würde. Aber er hätte sich als dringender Fall ganz oben in die Warteliste eintragen lassen. Vielleicht – wenn ein anderer Klient absprang – würde er schon früher anfangen können. An diesem Abend schlossen beide aus einer Sektlaune heraus ein Abkommen, das Thomas die Wartezeit erleichtern sollte.

Wann immer er einen Wutausbruch heraufziehen spürte oder in eine Situation kam, die ihn die Kontrolle verlieren ließe, wollte er ein Codewort sagen, sodass Patrizia gewarnt war und in ihren Avatar wechseln konnte. Es sollte nur für absolute Notfälle sein, versicherte Thomas. Aber so weit wollte er es gar nicht kommen lassen. Schließlich liebte er sie mit jeder Faser seines Seins.

Doch diese Liebe allein konnte ihn letztlich nicht vor den gefürchteten Wutausbrüchen heilen. Also schlüpfte Patrizia immer wieder in ihren Avatar, so wie es besprochen war. Sie wusste, dass die Schläge nicht persönlich gemeint waren. Insgeheim liebte er sie, und was er mit seinen Fäusten malträtierte, war letztlich nichts weiter als eine Puppe. Eine teure, eine lebensechte, eine perfekt gebaute Puppe, aber eben nicht sie. Glaubte sie. Hoffte sie.

Je mehr Zeit verstrich, desto mehr gewöhnte sie sich daran. Am Anfang dachte sie noch voller Hoffnung, dass dieser Zustand nicht von Dauer sei. Er wollte etwas ändern, ihr zuliebe. Weil sie ihm wichtig war. Und eben doch mehr als ein Stück Scheiße, auch wenn er sie oft genug so behandelte. Letztlich würde ihr Plan aufgehen.

Irgendwann vergaß sie, die Tage zu zählen. Irgendwann wechselte sie nicht mehr in ihren wirklichen Körper. Das An- und Abschließen an die Lebenserhaltungssysteme war zu mühselig. Und mit dem Avatar erfüllte sie ihre Aufgaben so gut, wie mit ihrem Körper. Wozu die Mühe? Also begnügte sie sich damit, ihren Körper zu pflegen. Sie wusch ihn, salbte ihn ein, kümmerte sich liebevoll um ihn. Er sollte rein sein, wenn es endlich soweit war.

Irgendwann, dachte sie in einem dieser Momente, irgendwann werden wir wieder vereint. Wir alle drei – du, Tom und ich.

Was sie nicht wusste, war der Umstand, dass Thomas nicht mehr vorhatte, die Therapie anzufangen, die er ihr versprochen hatte. Denn auch er hatte sich sehr schnell an die Vorzüge des Avatars gewöhnt. Er liebte die Imitation. Es war viel einfacher, das Codewort zu sagen, kurz auf die Einwilligung zu warten und sich dann auszutoben. Er musste sich nicht mehr mit seinen Ängsten und Defiziten herumschlagen, er musste seine Schwächen nicht mehr vor einem anderen Mann oder, noch schlimmer, vor einer Frau offen darlegen. Psychologenschweine glaubten immer, dass sie dich ganz genau kennen. Einen Furz kennen sie!

Mit der Zeit begann er, Voranmeldungen zu platzieren. Er erzählte beispielsweise, dass er in eine stressige Situation geraten würde, ein wichtiges Meeting, vor dem ihm schon jetzt am Frühstückstisch graute. Er wüsste nicht, wie es ihm abends gehen würde, obschon er versuchen wolle, sich zusammenzureißen. Patrizia lernte schnell. Sie war bereits in ihren Avatar geschlüpft, wenn er abends nach Hause kam. Schlagen, schreien, quälen, ficken. Das entspannte ihn. Er liebte es, nach einer solchen Sitzung in Patrizias Armen zu liegen, und ihre Stimme zu hören, wenn sie ihn tröstete. Manchmal fragte sie ihn, wann die Therapie anfangen würde. Nachdem er das ein halbes Jahr hatte hinauszögern können – du weißt doch, Liebling, die Warteliste – begann er, ihr von Sitzungen vorzulügen. Es sei sehr interessant gewesen, er wüsste ein bisschen besser über sich Bescheid. Nur heute, heute seien die Pferde mit ihm durchgegangen, aber er wolle sich bessern. Schließlich liebte er sie.

Patrizia liegt auf der Couch und grübelt. Vormittags ist sie zum Chef herein gerufen worden. Lohnerhöhung, Beförderung. Man bietet ihr einen Job in Hamburg an. Es ist ein Karrieresprung – doch was wird Thomas dazu sagen? Gerade jetzt, wo bei ihm alles gut läuft. Die Therapie, sein Job. Endlich scheint er ein Bein auf den Boden zu bekommen. Er wird nicht wegziehen wollen. Wie sag ich’s meinem Kinde? Patrizia seufzt. Dass die Wäsche nicht fertig ist, wird ihm nicht gefallen, auch wenn seine Hemden gebügelt im Schrank hängen. Vielleicht hat sie ja Glück. Vielleicht hat er gute Laune und greift ihr bei der Hausarbeit unter die Arme – wovon träumst du nachts? Aber vielleicht kann sie ja doch alles schaffen, wenn sie nur fünf Minuten die Augen schließt und sich entspannt.

Die Lider werden schwer. Ihr Atem geht tief und regelmäßig.

Sie hört nicht, wie die Tür aufgeht. Sie hört nicht, wie er seine Aktentasche auf den Garderobentisch schmeißt. Sie sieht nicht, wie er sich sammeln muss, um nicht sofort aus der Haut zu fahren.

Die Küche, träumt sie. Ich muss unbedingt aufräumen.

Sie spürt Thomas erst, als er vor ihr in die Hocke geht und über ihr Haar streicht.

»Aktion Reiner Tisch?«, fragt er leise, gepresst, hungrig.

»Tisch«, murmelt sie im Halbschlaf. »Ja, ja, der Tisch.«

Er wundert sich zwar, warum sie nicht nachfragt, wie sonst immer. Doch nur für einen Moment. Denn eigentlich ist es ihm recht, dass er vorher nicht reden muss. Reden kann man ja später. Das, was vorher kommt, ist ihm bedeutend wichtiger.

Patrizia weiß nicht, wie ihr geschieht, als er sie an den Haaren vom Sofa zerrt. Sie kann die ersten Schläge nicht abwehren, schlaftrunken, wie sie ist. Danach explodiert der Schmerz in ihrem Körper. Ihr Fleisch brennt, in den Ohren gellen seine Schreie. Seine Wut tropft geifernd in ihr Gesicht. Nein, will sie rufen, halt, stopp! Doch sie kommt nicht dazu. Ein Schwinger presst ihr die Luft aus dem Magen. Hör auf, will sie schreien. Heute nicht, bitte, bitte nicht.

Gnadenlos treibt er sie durch die Wohnung, steckt ihren Kopf in die Kloschüssel, die seiner Meinung nach nicht sauber genug ist, schlägt ihr die Schmutzwäsche um die Ohren, stößt ihr den Besenstiel in die Rippen, weil er nicht dort steht, wo er hingehört. Schlampe, Dreckstück, Hure. Du blödes Stück Scheiße, ich werd’s dir zeigen! Faul auf dem Sofa liegen, während mein Chef mich rundmacht, dieses inkompetente Arschloch, dieser Flachwichser! Soll ich dir zeigen, was ich mit ihm machen will?

Sie taumelt durch die Wohnung, ist auf der Flucht. Tränen blenden sie. Doch es gibt keinen Schutz vor diesem Monster. Es hängt ihr an den Fersen, ist hinter ihr, neben ihr, vor ihr. Überall. Sie hat keine Grenzen mehr, keine Distanz. Alles, was er sagt, ist persönlich gemeint, jeder Schlag trifft allein sie.

Irgendwann hört er auf. Sie hockt vor ihm, die Arme zum Schutz um den Kopf gepresst.

»Na«, sagt er. »Das hat sich doch mal richtig gelohnt, nicht wahr?«

Sie sieht ihn nicht an, ist das perfekte Opfer.

Langsam lässt er sich in die Hocke sinken, umfasst sanft ihr Kinn. »Schau mich an«, bittet er. »Du warst großartig. Soviel Gegenwehr. Schau nur, wie ruhig ich wieder bin.«

Als er sie küssen will, weigert sie sich. »Warum hasst du mich so?«, flüstert sie mit aufgeplatzter Lippe. »Was hab ich dir denn getan?«

Er runzelt verärgert die Stirn. »Was sind denn das für Töne?«

Ihre Tränen berühren ihn, bringen sein Blut zum Kochen.

»Anscheinend hast du noch nicht genug, was? Dann hör mal gut zu, Süße. Ich kann noch viel mehr mit dir machen, Patty-Maus. Du dummes, kleines Ding. Meinst du, es ist ratsam, mir Schuldgefühle einzureden? Meinst du das wirklich?«

Sie sieht ihn nur starr an.

»Wir haben ein Abkommen, Patty. Ich habe das Codewort gesagt, du hast zugestimmt. Also mach nicht solche Zicken.« Er fährt sich durchs Haar. Sein Körper zittert vor Wut.

Kann er nicht einmal nach Hause kommen, ohne dass es Ärger gibt? Kann sie ihm nicht diese Viertelstunde gönnen? Weiß sie nicht, wie wichtig das hier für ihn ist? Aber nein, nur haben wollen, haben, haben. Hast du mich lieb? Liebst du mich? Ganz bestimmt? Bin ich dein Ein und Alles? Nein, verflucht noch mal. Ich hätte etwas ganz anderes haben können, aber ich bin nun mal mit dir gestrandet, du beschissene Kuh, die lügt und betrügt und mich zum Hampelmann macht. Die ihre ganze Kohle in eine Puppe steckt, während ich mich den ganzen Tag abstrampeln darf! Und jetzt will sie Theater machen, weil ich genau das mache, wozu sie mich abgerichtet hat?

»Ich lass mir das nicht kaputt machen«, greint er hilflos vor Zorn. »Ich lass mir das Prügeln nicht verbieten. Nicht von dir!«

Seine Hände legen sich um ihren Hals. »Weißt du, Liebling, ich liebe dich, wirklich. Aber nicht immer. Das kann ich nicht, das kann niemand. Und dann nervst du so entsetzlich. Mit deiner Liebe, mit deiner Fürsorge.«

Er drückt zu, während er sie mit hoher Stimme nachäfft: »Wie geht es dir? Wie war dein Tag? Ist alles in Ordnung? Bist du glücklich? Kann ich irgendetwas für dich tun?«

Sein Blut beginnt wieder zu singen, als er ihre verzweifelte Gegenwehr spürt.

»Klar kannst du was tun! LASS MICH EINFACH MAL FREI ATMEN!«

Patrizia hört nicht mehr, wie es schellt. Patrizia spürt nicht mehr, wie Thomas sie achtlos auf den Boden fallen lässt, um zur Tür zu gehen. Und sie hört auch die fröhliche Stimme des Kuriers nicht mehr.

»Guten Abend, eine Eilsendung für Frau Heussler. Ich bringe den reparierten Avatar. Ist wieder wie neu. Wenn Sie bitte hier einmal den Empfang quittieren?«

HUMANOID 2.0

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