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Feierabend

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Ich streckte mich ausgiebig, lehnte mich entspannt in meinem Sessel zurück, und sah zufrieden aus der dreizehnten Etage des Stahlturms, den ich nun schon seit acht Jahren pünktlich morgens um neun Uhr betrat, um ihn ebenso pünktlich um siebzehn Uhr fünfzehn wieder zu verlassen. Ich liebte dieses Gebäude. Es war mit seinen klar definierten Linien ein Muster, das sich tief in meinem Leben verankert hatte. Die Größe, die Klarheit, die Stahlstreben, an denen sich das Sonnenlicht fing, um in die Fensterfronten einzufallen – das war eine Umgebung, in der ich mich wiedererkannte. Inzwischen hatten sich meine Wege unsichtbar und unabänderlich in die Marmorplatten der Eingangshalle eingegraben. Die Fahrstühle brachten mich freiwillig zu den Ebenen, auf denen ich mich mit festem Schritt bewegte. Die Rezeption grüßte mich mit dem gewissen Hauch Vertraulichkeit, den man nach soviel Jahren der Beständigkeit erwarten durfte. Die Damen waren stets auf eine humorvolle Art freundlich. Dabei blieben sie jedoch herrlich distanziert, sodass ich mich immer erkannt, aber niemals belästigt fühlte. Die Dame vom Buffet las meine Wünsche vom Wochentag ab, und so war es nicht verwunderlich, dass ich mich in diesem Glaspalast wohlfühlte.

Es hatte nur einmal Unannehmlichkeiten gegeben. Das war vor fünf Jahren, als die gesamte Abteilung vom achten in den dreizehnten Stock umgezogen war. Ich hatte volle vier Tage gebraucht, um mich zu akklimatisieren. Noch Jahre später erinnerte ich mich nur ungern an die verschiedenen Male, in denen ich der Gewohnheit folgend im achten Stock ausgestiegen war. Es war enervierend gewesen – nicht jeder Mitarbeiter des Hauses verfügte über die Souveränität, die einen respektvollen Umgang miteinander gewährleistet.

Nichtsdestotrotz, ich hatte Feierabend und was vergangen war, war vorbei. Schnee von gestern. Im Übrigen war es ein wunderschöner Spätnachmittag, und alles in mir drängte hinaus. Das verwunderte mich inzwischen nurmehr geringfügig, denn dieser nicht näher bezeichnete Trieb hatte schon seit ein paar Tagen in mir gewühlt. Bislang hatte ich ihn geflissentlich ignoriert, denn Triebe waren nur bei Tieren, die es nicht besser wussten, akzeptabel. Ich war kein Tier. Ich war ein denkendes Individuum, gesegnet mit den Gaben der Logik und der Planung. Da dieser ungefragte Drang in mir jedoch recht angenehm – wenn auch ungewohnt – war, beschloss ich in einem Anflug von Leichtfertigkeit, ihm an diesem Tag nachzugeben.

Wir wissen ja seit geraumer Zeit, dass nur die Balance zwischen Ratio und Anima Produktivität gewährleistet. In kleinen Dosen ist die Unvernunft also der geistigen Gesundheit durchaus zuträglich. Diese Binsenweisheit und der Umstand, dass zwei freie Tage vor mir lagen, ließen mich vielleicht etwas überreagieren. Also zog ich in gespannter Vorfreude mein Sakko an, knöpfte es ordentlich zu – so wie jeden Tag –, ergriff meine Aktentasche und verließ das Büro. Auf dem Weg zum Fahrstuhl sah ich noch einmal bei Frau Statzer vorbei, um ihr ein ruhiges Wochenende zu wünschen und um einen letzten Blick auf sie zu werfen.

Ich stellte an ihrem Verhalten fest, dass mein befremdliches Ansinnen nicht den Weg in meine Gestik oder Mimik gefunden hatte. Sie sah in mir immer noch denselben soliden Kerl, der ihr am Morgen höflich die Tür geöffnet hatte. Sie hatte keine Ahnung, was ich vorhatte. Das trieb meine Erregung auf ein höheres Niveau, und ich fantasierte mich in die Rolle eines Geheimagenten, der per se ein Meister der Täuschung war. Draußen, auf dem menschenleeren Flur, gestattete ich mir ein verhaltenes Grinsen. Selbst die Hand in der Hosentasche ballte sich kurz zu einer Siegesfaust, aber diese Regung unterband ich, so schnell ich konnte. Aggressive Gesten gehörten einfach nicht zu meinem Repertoire.

Als ich aus dem Gebäude trat, lockerte ich als Erstes meine Krawatte. Das war mir eigentlich zuwider, doch heute genoss ich diesen Anflug rebellischer Freiheit. Sodann knöpfte ich das Sakko auf und labte mich an einem Luftzug, der sich verspielt in das Futter verirrte. Um ehrlich zu sein, wusste ich nicht, wohin ich mich wenden sollte. Ich kannte mich mit den verwegenen Flecken dieser Stadt nicht gut aus. Aber dann erinnerte ich mich an die prahlerischen Geschichten meiner Kollegen, die sie auf dem Flur wie Trophäen herumreichten. Dabei war die Adergasse immer wieder genannt worden: Sie schien das neue Babel zu sein. So war es nur logisch, dass ich sie zum Ausgangspunkt meiner Mission erkor. Meine Nerven spielten ein schnelles, grelles Tremolo. Ich war bereit.

Bereits nach einer Stunde begann mein Enthusiasmus, bedenklich zu bröckeln. Ich sehnte mich nach der kühlen Luft meines Büros zurück. Der Lärm brandete an mein Trommelfell, das an nur wenig mehr denn das Summen des Ventilators oder das Flüstern meiner Hi-Fi-Anlage gewöhnt war. Selbst in meinem Elfenbeinturm hatte ich manchmal ein Problem mit den Menschen um mich herum, doch normalerweise war die Schar dort übersichtlich, und ich hatte meine Wege mit Bedacht eingerichtet, um ihnen nicht in Rudeln zu begegnen. Zudem hasste ich es, in der Menge unterzugehen – und genau das geschah, als ich mich zwang, so gelöst durch die Innenstadt zu schlendern, wie es alle anderen scheinbar waren. Ich hatte den Verdacht, dass die namenlose Menge daran mehr Spaß hatte als ich. Kurz überlegte ich, ob ich umkehren sollte. Noch waren die Häuser und Gassen halbwegs bekannt. Aber dann dachte ich an diesen namenlosen Trieb, dem ich Raum geben wollte. Ich dachte an die Entscheidung, die ich gefällt hatte. Damit war die Frage beantwortet: Ich würde weitergehen.

Nach einer weiteren Dreiviertelstunde und der Konsultation zweier Informationstafeln drang ich in das berüchtigte Viertel vor. Bei dem Anblick der ungepflegten Gegend schrillte mein spezieller Nerv grell auf. Hier begann das Abenteuer, welches ich freudig erwartete. Der Schweiß schien vergessen. Die Sohlen der italienischen Maßschuhe aus dem Versand schienen wieder fester zu werden. Die Schmerzen pflastermüder Füße schwanden. Ich spürte, wie das Adrenalin durch meine Adern pulsierte. Das war das Leben, ja – und ich war mittendrin!

Aber je länger ich der Stichstraße folgte, die mich in das Herz meines Babylons bringen sollte, desto mehr widerte mich an, was ich sah. Schmutz quoll aus Mülltonnen, dreckiger Putz bröckelte entgegen jeder Bauvorschrift auf den Gehweg, und die Schatten häuften sich. Sie lebten, dessen war ich mir schon bald sicher. Ich wollte nicht genau hinsehen, aber dort wo ich die Augen verschloss, roch ich die Realität. Dort, wo ich den Atem anhielt, um den Pesthauch erfolgreich zu ignorieren, hörte ich unflätige Worte ungewaschener Frauen, die ihre Körper obszön an Straßenlaternen rieben. Ich wollte flüchten. Ich wollte zurück in die geheiligte Einsamkeit meiner Welt, in der alles entlang unsichtbarer Linien ausgerichtet war. Ich beschloss, umzuplanen. Als rationelles Wesen war ich schließlich flexibel genug, die Situation meinen geänderten Bedürfnissen anzupassen, und das bedeutete für mich: heim, nur heim.

Doch ich musste feststellen, dass ich mich verirrt hatte. Die Straßen – verwinkelt, verdunkelt, verschlagen – taten sich verschwörerisch zusammen. Häuser flossen zu festen Wällen zusammen, die mir den Weg und die Luft zum Atmen nahmen. Die Hitze verstärkte sich. Der Schweiß tropfte von meiner Stirn. Er sammelte sich im Hemdkragen, um von dort aus den Rücken hinunterzufließen. Ich spürte, wie sich der Filz der Gegend auf mein Gemüt legte. Er griff mit Spinnwebfingern nach mir, und alles, was mir blieb, war der nächste Schritt: weitergehen, weitergehen. Sonst würde ich in ihm versinken. Es gab kein Entrinnen.

Ich konzentrierte mich auf zwei Dinge. Das eine war die Suche nach einer Bushaltestelle, von der aus ich hinausgelangen würde – das andere war die Sprecherin der Hauptnachrichten. Auf sie griff ich immer zurück, wenn Unordnung, Schmutz oder Chaos mich zu übermannen drohte. Ich dachte an die Symmetrie ihres Haarschnitts, den ungeduldigen, unnachgiebigen Schwung ihrer Lippen, die glasklare Intensität ihrer Augen, und schon hatte ich ihre strenge, eiskalte Stimme im Ohr. Es war egal, welche Meldungen sie verlas. Das war schon immer egal gewesen. In meiner Fantasie waren es stets andere Worte, die sie zu mir sprach, nur zu mir.

Für einen Moment ging es mir durch diese Gedanken besser. Dann prallte ich erneut gegen die Mauer aus Schmutz und Verwahrlosung. Dabei bemerkte ich, dass die Gassen in diesem Bezirk menschenleer waren. Der Lärm war zurückgetreten, als ob selbst er sich nicht an diesem gottverlassenen Flecken aufhalten wollte. Ich fühlte mich wie ein kleiner Junge, den seine Eltern im Kaufhaus aus den Augen verloren hatten. Es war beklemmend. Und peinlich. Nebenbei bemerkt hielt ich nichts von den Kaufhäusern mit ihrem Überangebot, das nur darauf ausgelegt war, den Geist in kleine Stücke zu zerschlagen. Das war keine Jagd mehr. Da wurden die Trophäen zu Seelenfressern.

Aber das war mir in jenem Moment herzlich egal, denn plötzlich verspürte ich zu allem Überfluss, den heftigen Drang zu urinieren. Meine erste Reaktion war Scham. Auch wenn alles um mich herum so roch, als sei ich der einzige Mensch, der mit der Absenz einer öffentlichen Bedürfnisanstalt ein Problem hatte, wollte ich dieser Regung nicht nachgeben. So tief sinkt kein Schwein, dass es seinen Stall beschmutzt. Das hatte ich irgendwo einmal gelesen. Die Geschichte vom sauberen Schwein. Sie hatte mich beeindruckt.

Ich hatte also keine Wahl. Ich musste eines der Lokale aufsuchen. Es war ein Hohn – die Aussicht, genau das zu erleben, hatte mich noch vor ein paar Stunden elektrisiert. Jetzt widerte es mich an. Aber ein Zwang ist ein Zwang und dem muss man sich beizeiten beugen. Also klemmte ich meinen Schritt ein und ging die Straße weiter hinunter, während ich mich gleichermaßen verfluchte und bedauerte.

Es war schwer, hier eine Lokalität zu finden, die noch betrieben wurde. Ich passierte mehrere Spelunken, die, wollte man dem Gilb der Anzeigen glauben, seit Jahren zur Vermietung ausgeschrieben waren, bis ich schließlich vor einem Lokal mit blinden Fenstern stehen blieb. Meine ausgedörrte Kehle japste nach Wasser, meine Blase schrie ihren Protest in mein Hirn, und ich selbst halluzinierte von einem bescheidenen Kartentelefon, von dem aus ich ein Taxi rufen könnte. Busse schienen hier nicht zu verkehren.

Als ich hineinging, lavierte ich am Rand des klaren Denkens. Mir war nur eben so viel bewusst, dass ich einen schlampigen Anblick bieten musste, und ich nicht darauf erpicht war, dass man mich so sah. Aber diese Gedanken kapitulierten angesichts meiner Nöte, als ich in das Halbdunkel der Kneipe eintauchte. Ich murmelte einen höflichen Gruß Richtung Tresen und schob vorsichtshalber eine Bestellung hinterher. Das war die Daseinsberechtigung in diesen Räumen – ein Glas Wasser sollte mir als Eintritt dienen. Umsonst war nur der Schlaf. Irgendwie torkelte ich in das versiffte Klo. Irgendwie schaffte ich es, den Reißverschluss zu öffnen. Mit einer Hand stützte ich mich an der Wand ab, die andere lenkte den Strahl dorthin, wo er gut aufgehoben war. Erleichterung durchflutete meinen Körper, als ich mich in das vor Dreck starrende Pissoir ergoss. Sie sprang kalt an meiner Wirbelsäule hoch und ließ mich zittern, bevor sie, in ein seltsames Glücksgefühl transformiert, mir ein tumbes Grinsen in die Züge meißelte. Es war alles gut.

In meiner sanften Euphorie veränderte sich meine Wahrnehmung. Ich wurde friedlich, richtiggehend salbungsvoll. Meine Gelassenheit kehrte mit jedem Atemzug zurück. Die Umgebung war nicht länger beklemmend. Ich schaffte es, über den Dreck hinweg zu sehen. Ich vollbrachte das Kunststück, den Geruch weitestgehend zu ignorieren. Ich atmete tief in der Gewissheit durch, die einzige rustikal-malerische Oase gefunden zu haben, die den Schlüssel zu meiner Misere und obendrein etwas Seelenfrieden als Gratisbeigabe bereithielt. Als ich die Tür in der Absicht öffnete, geläutert in die menschliche Gemeinschaft zurückzukehren, begleitete der von innen steckende Toiletten-Schlüssel mein Ansinnen mit einem fröhlichen Scheppern.

In gehobener Stimmung betrat ich den Gastraum und schlenderte lässig zum Tresen hinüber. Das Etablissement war spärlich besucht. Kaum jemand schien meine Anwesenheit zu registrieren. Das Wasser wartete bereits auf mich. Der Wirt hatte den Eichstrich ignoriert – vielleicht hatte er ihn der schmierigen Abdrücke wegen nicht erkennen können. Doch statt auf meinem Recht zu bestehen, empfand ich diesen Versuch der Bilanzschönung in seiner Unschuld direkt erheiternd. Und so nahm ich demonstrativ einen großen Schluck, in dem Wissen, dass ich wohl der einzige liquide Mensch in diesem Raum war – eine Rarität sozusagen. Ich nickte dem Wirt gönnerhaft zu und rückte mich auf dem Barhocker in eine bequeme Position. Gerade als ich – wieder die verlockende Stimme der Sprecherin im Ohr – den Wirt nach einem Telefon fragen wollte, bewegte sich ein Schatten neben mir.

»Hast du eine Kippe über?« Ein Mädchen hatte sich an mich herangeschoben. Ein unschuldiges Gesicht, ein bittender Blick aus schwarzen Augen unter mausbraunen Ponysträhnen schwebte über einer knabenhaften Figur. Natürlich gab ich ihr eine. Ich selbst rauchte zwar nicht, führte als Gentleman aber stets eine Schachtel Zigaretten mit mir. Man konnte ja nie wissen.

»Feuer auch?« Ich nickte und nestelte Streichhölzer aus der Innentasche. Natürlich hätte ich sie auch sofort anbieten können, aber ich wollte noch einmal die Bitte in ihren Augen aufflackern sehen, wollte noch einmal die unterwürfige Stimme hören.

Mit ungewohnter Grandezza riss ich das Streichholz an und gab ihr Feuer. Dabei enthüllte der Flammenschein das ganze Ausmaß ihrer Jugend. Das Streichholz verglühte. Sie zog sich zurück und inhalierte das Nikotin mit geschlossenen Augen. Mir fielen die bläulichen Adern auf, die unter ihrer Haut schimmerten. Das Verlangen sprang mich an, ihnen mit den Fingerspitzen zu folgen. Die ganze Person war so klein, so zerbrechlich. Irgendjemand sollte seine Hände um sie legen, damit das Vögelchen nicht wegflatterte. Besser ein Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach.

Sie lehnte sich mit dem Rücken an den Tresen, stützte sich auf die mageren Ellenbogen und rauchte konzentriert weiter. Der Rauch stieg in trägen blauen Schwaden auf. Er hüllte sie ein, spann Bögen, verwirbelte, um sich dann im Halbdunkel zu verlieren. Ich schluckte trocken. Es war eher ein Würgen. Schnell nahm ich einen weiteren Schluck der urplötzlich schal schmeckenden Plörre und haderte mit mir. Eben hatte ich noch befreit den Heimweg antreten wollen. Jetzt brauchte ich nur zugreifen. Spatz – Taube, Taube – Spatz? Der Schlüssel der Herrentoilette blitzte verlockend in meinem Gedächtnis auf. Sehr verlockend. Es würde mich die Schachtel Zigaretten kosten, vielleicht noch ein Bier …

Irgendjemand musste ihr zeigen, wie diese Welt war. Irgendjemand musste ihr Bescheid stoßen. Kleine Mädchen hatten in dieser Gegend nichts zu suchen. Meine Gedanken liefen im Kreis und bissen sich gegenseitig in den Schwanz, während mein Schritt pochend eng wurde. Neben mir verglühte ihre Zigarette mit einem leisen Zischen. Sie nickte mir aus scheuen Augen dankbar zu. Ich sah nur das ausgefranste T-Shirt, das sich über kleinen straffen Brüsten spannte. Ich wollte keinen Dank in ihren Augen, ich wollte ihn in ihren Händen, wollte spüren, spüren, wollte …

»Bye.« Ihre Augen waren nicht mehr scheu. Sie waren stumpf. Das Mädchen huschte aus dem miefigen Laden. Die Tür schlug hinter ihr ins Schloss. Jäh kam ich wieder zu mir. Meine Hände umspannten nichts anderes als das Glas vor mir. Die Knöchel traten bereits hervor: Was tat ich hier?

»Sie weiß, wer du bist.« Neben meinem linken Arm wurde ein abgegriffener Block in mein Sichtfeld geschoben. Die Buchstaben marschierten, aufgereiht wie Zinnsoldaten an einer imaginären Front, direkt in mein Hirn.

Ich drehte mich herum. »Was soll …«

Er hatte seine Zähne für ein Lächeln entblößt, das nicht freundlich war. Gefahr, Gefahr, schrillte mein spezieller Nerv und begann, einen kurzen Paniksamba zu tanzen.

»Was wollen Sie von mir?«, setzte ich erneut an.

Mit knapper Geste zog er den Block zu sich, setzte den Stift auf das Papier und ließ seine akkuraten Soldaten erneut marschieren.

»Sie sind hier der Einzige, der WILL. Aber Sie wissen nicht, was. Sie sollten sich bald darüber klar werden.«

Orakel, nichts als Orakel. Ich pfiff mein trügerisches Alarmsystem wieder zur Ordnung. Der Kerl war ein dahergelaufener Prophet, der nur einen Dummen suchte, der ihm zuhörte. Alles in Ordnung, das würden wir gleich haben. Also setzte ich mein joviales Lächeln auf.

»Ich glaube, Sie verwechseln mich. Ich weiß zufällig sehr genau, was ich will. An meinem Leben ist nichts auszusetzen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.« Danach wandte ich mich wieder dem Wasser zu und beschloss, so bald wie möglich ein Taxi zu rufen. Die Hauptnachrichten würden ohne mich auf Sendung gehen, aber die Spätnachrichten wollte ich nur ungern verpassen.

Der Stift kratzte über den Block, der Block schrammte über das abgelebte Holz hart an meinen Ellenbogen heran.

»Ihre Gedanken werden Sie töten.«

»Die Gedanken sind frei.«

Der Stift tanzte erneut. »Darin liegt die Gefahr.«

»Hören Sie mal, direkte Gefahr geht von festen Körpern aus. Nicht von Träumen. Und wenn Sie mir jetzt erzählen wollen, dass selbst die Gräueltaten der historischen Geschichte allein auf Ideen basierten, dann kann ich nur sagen, dass es immer noch ein weiter Weg vom Traum bis zur Umsetzung ist. Die meisten Gedanken richten rein gar nichts an!«

Wieder rutschte der Block über das zerkratzte Holz zu mir. »Sie entwickeln ein Eigenleben. Sie nehmen Gestalt an.«

Ich wusste nicht, was ich noch erwidern konnte. Der Typ war durchgeknallt. Es würde keinen Sinn haben, mit ihm zu diskutieren. Warum auch? Sollte er sich ein neues Opfer suchen. Ich versuchte, ihn zu ignorieren, aber der Stift zog meine Aufmerksamkeit auf sich, wie er unbeirrt über den Block hastete.

»Sie sind Lebewesen. Sie lauern in uns allen. Gute, leise, schüchterne Ideen – aber auch die brutalen, bösen, zerstörerischen Gedanken. Ich habe Sie beobachtet. Ich habe Ihre Gedanken gesehen.«

Die Worte flossen auf das Papier und von dort aus in mich herein. Er musste sich irren. Was wollte er schon gesehen haben? Keiner wusste, was sich in mir abspielte, das hatte mir Frau Statzer erst vor ein paar Stunden bewiesen. Und das war auch gut so. Etwas Privatsphäre sollte der Mensch haben. Ich wollte seine Worte abtun, doch es ging eine hypnotische Wirkung von ihnen aus. Gegen meinen Willen las ich weiter.

»Die Idee in Ihnen ist schon sehr stark. Sie haben sie nicht mehr im Griff. Ständige Verleugnung ist kein Mittel der Bezähmung. Sie denken, dass Sie die Kontrolle haben? Man könnte Sie für diesen Irrtum bedauern. Aber ich habe die Idee, die Ihnen zugrunde liegt, gesehen. Sie hat eine Form angenommen – einen Körper. Bald wird sie Ihr kleines schwaches Oberflächen-Ich schlucken. Spätestens dann muss man die Welt vor Ihnen schützen.«

Das saß. Seine Worte wanderten durch mein Gehirn und lösten dort die verschiedensten Gedanken aus. Scham, Angst, aber auch eine selbstherrliche Arroganz, die als Spott verkleidet daher kam. Man würde die Welt vor mir schützen müssen. Irgendwie gefiel mir der Gedanke. Wahrscheinlich, weil er der Realität diametral entgegenstand. Es gab nichts, womit ich die Welt bedrohen konnte. Selbst wenn ich auf der Arbeit ein paar Zahlen verdrehen würde, hatte das keinen Einfluss, denn so ein Fehler würde schnell bemerkt und behoben werden. Ich spürte, wie mich diffuser Zorn erfasste. Dabei war ich nicht einmal auf ihn persönlich ärgerlich. Es war ein vages, unbestimmtes Gefühl.

»Was wollen Sie von mir?«

»Ich will Ihnen die Situation bewusst machen. Noch können Sie Einfluss auf Ihr Alter Ego nehmen.«

Die Worte erschienen mir viel zu wohl gesetzt für den schmierigen Block, auf dem sie standen. »Und wenn ich das nicht will?«, entgegnete ich. Warnen, Situation, Alter Ego – nichts als Geschwafel! Was bildete sich diese heruntergekommene Karikatur eines Heilsbringers ein? Ich knirschte mit den Zähnen.

»Dann werde ich Sie töten.« Er sah nicht aggressiv aus, als er diese Feststellung schrieb. Es schien ein unabänderlicher Fakt zu sein.

Ich starrte ihn einen Moment lang ungläubig an. Der Zorn fiel innerhalb eines Wimpernschlages schwachbrüstig in sich zusammen. Dann allerdings begann etwas anderes, sich in mir zu regen. Es brodelte, wogte und schwappte ihm schließlich in die pazifistische Miene: Ich lachte! Ich konnte nicht aufhören. Die ganze Zeit stand er dabei, lächelte unverbindlich, nahm aber keines der Worte zurück, die zwischen uns lagen.

Irgendwann verebbten die hysterischen Laute. Ich winkte dem Wirt, dass er zwei Bier bringen sollte. Diese Show war einen Drink wert. Ich war erschöpft und gleichzeitig geschmeichelt, dass gerade ich, der friedfertigste Mensch unter dem weiten Himmel, eine derartige Gefahr darstellen sollte.

Er schob das Bier von sich fort.

»Zu fein, um eine milde Gabe anzunehmen?« Ich kehrte den Großkotz raus. »So schnell kommst du nicht wieder an Stoff!«

»Sie können sich selbst täuschen, aber nicht mich.«

Inzwischen konnte ich die grau auf schmutzigweiß gekritzelte Antwort kaum noch erkennen. »Pisser«, dröhnte ich neustark. »Hau ab. Ich will deine Visage nicht mehr sehen.« Diese Gossensprache wurde langsam vertraut. Das Bier floss meine Kehle hinunter, als ob es das schon immer getan hatte, und langsam verwuchs ich mit dem Barhocker.

Warum noch nach Hause? Ich hatte Zeit, sehr viel Zeit. Es wartete niemand auf mich. Das war gut so, unproblematisch. Keiner, der meine Wege störte. Weiber. Schrien nur rum, kommandierten ihre Männer wie Hunde. Ich fragte mich, warum die das erduldeten. Das Unaussprechliche zwischen den Schenkeln ihrer Dompteurinnen konnte doch nicht so viel Macht haben, dass sie ihre Freiheit dafür opferten. Arrogante Zicken. Irgendjemand hatte mal erzählt, dass man früher dachte, dass die Frau aus der Rippe eines Mannes entstanden sei. Schön blöd.

Mein Nachbar stieß mich erneut mit dem Block an. Ich überflog die Zeilen nachlässig, bis ich schließlich an ein paar Sätzen hängen blieb.

»… mehr sein, als Sie sind. Ich kenne das gut, ich war genauso. In uns schlummert ein Gott. Ein zorniger, gefallener Gott, vertrieben aus dem Paradies, der nur darauf wartet, sich die Welt untertan zu machen. Wir sind lediglich Werkzeuge für ihn. Wir selbst zählen keinen Deut. Haben Sie sich gefragt, warum ich schreibe, statt zu sprechen? Ich zeige es Ihnen.«

Er rüttelte an meinen Arm, da ich noch immer gebannt auf das Papier sah. Als ich den Kopf hob, öffnete er den Mund. Dort wo die Zunge sitzen sollte, gähnte eine rotschwarze Höhle, in deren Tiefe sich ein verquollener Fleischstummel in krankhaften Zuckungen wand. Ein Schauer rann mir durchs Mark. Ich blickte angeekelt weg.

»Ich habe den Kampf gewonnen. Ich musste dafür bezahlen, aber ich habe gewonnen. Meine Zunge konnte nicht mehr verkünden, was ER wollte. Ich hätte mir sogar das Herz herausgerissen, wenn es mir möglich gewesen wäre. Aber lebend bin ich für die Welt, in der wir leben, eine größere Hilfe. Und wir wollen doch leben, nicht wahr? Sie wollen doch auch morgen noch aufstehen, hinausgehen, arbeiten und sich mit Freunden treffen. Oder nicht?«

Ich schwieg. Er tippte nachdrücklich mit seinem Zeigefinger auf den letzten Satz.

»ODER NICHT?«

Etwas in mir zerbrach. Scherben dunkler, weggeschobener Träume fielen klirrend in mir zu Boden. Sie rissen mit ihren salzscharfen Kanten Löcher in mein Fleisch. Ätzende Säure pulste durch meine Adern, und ehe ich es mich versah, lagen meine Hände um seinen dürren Hals. Er zitterte leicht. Trotzdem schrieb er, ohne hinzusehen, weiter.

»Wir sind nicht allein. DU kannst uns nicht stoppen.«

Mein Griff verstärkte sich. Ich spürte den Widerstand seines Kehlkopfes und ich wusste, dass er bald brechen würde. Nur noch etwas mehr, dann würde er nicht einmal mehr schreiben können. Hatte er sich nicht ohnehin in seinem Wahn verstümmelt? Ich würde nur zu Ende bringen, was er nicht geschafft hatte, der dreckige Verlierer. Denn ich war nicht wie er!

»Hast du noch eine Kippe über?« Ruckartig drehte ich meinen Kopf zu der bittenden, verhuschten Stimme. Das Mädchen hatte sich wieder zurück geschlichen, doch jetzt war keine Unterwürfigkeit in ihrem Blick. Sie trat blitzschnell in meine Kniekehlen. Während ich wegknickte, folgte ein harter Schlag in den Nacken. Dann wurde es dunkel um mich.

Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich in einem weiß getünchten Raum wieder. Ich saß in aufrechter Stellung in einem Sessel und sah mich in einem großen Wandspiegel. Ich versuchte, Arme und Beine zu bewegen, doch mein gespiegeltes Ebenbild log nicht: Ich war gefesselt. Ich begann zu zittern. Ein Winseln brach sich an den kalkweißen Wänden, das ich nur allzu gut kannte. Es war das angstvolle Fiepen, das mich in den letzten Jahren immer wieder aus dem Schlaf gerissen hatte und das mir umso mehr Angst einjagte, als ich feststellen musste, dass es aus meiner Kehle drang. Ich wandte den Blick ab. Ich wollte das Wrack nicht sehen, das mir von der Wand entgegenblickte. Das war ich nicht, das war nicht ich, das war ich nicht! Ich verbiss mich in dem groben weißen Stoff, in den man mich gekleidet hatte, und verharrte so, blind, taub, abwesend. Die Augen waren gegen jenen Wahn fest verschlossen. Das Hirn: leergespült. Nur nicht nachdenken! Bald würde ich aus diesem Traum aufwachen. Ich würde aufstehen, duschen, mich ankleiden und in die Sicherheit des Stahls fliehen. Bald schon …

Ich verlor jegliches Zeitgefühl. Da gab es kein tickendes Maß mehr, nur das eckige Schaukeln meines Körpers und das Knarren der breiten Lederriemen, die Arme und Beine fixiert hielten.

Irgendwann hörte ich das leise Zischen einer hydraulischen Tür, dem das Klacken flacher Absätze folgte. Sie stoppten in meiner Nähe, aber ich biss nur noch fester in den Stoff. Noch immer blind – aber nicht länger taub.

»Gute Arbeit, Kröger. Nicht jeder kann einen kontrollierten Ausbruch so gekonnt provozieren, wie Sie.« Die Stimme klang tief, fest und souverän. »Wie haben Sie es diesmal geschafft?«

Papier raschelte, ein Stift kratzte. Die erste Stimme lachte dröhnend auf.

»Die alte Masche also, gut, gut. Dabei sollte man meinen, dass in unserer aufgeklärten Zeit niemand mehr an den Teufel glaubt. Grüßen Sie mir Ihre Partnerin. Einen besseren Katalysator kann man sich nicht wünschen. – Na, dann wollen wir mal.«

Die Schritte näherten sich mir. Ich hörte ein behäbiges Schnaufen. Dumpfer Atem strich kurz über mein Gesicht. Übelkeit winkte fröhlich vom Rand meiner Befindlichkeit herüber. Ich presste die Augen noch fester zusammen, sodass ein grellrotes Feuerwerk in meinem Hirn explodierte. Dann zwangen grobe Finger meine Lider auseinander. Ich starrte in zwei blaugraue Augen, von tiefen Augenringen umwuchert.

»Sie können sich entspannen, Freund. Wir werden Ihnen helfen. Alles wird gut.«

Er richtete sich wieder auf. »Erinnern Sie sich an den letzten Vorfall?« Nachlässig schob er einen Stuhl heran und ließ sich schwer hineinfallen. Dann verschränkte er abwartend die Arme. Ich starrte ihn stumm an, unfähig zu sprechen, geschweige denn zu denken. Dann drehte ich langsam den Kopf und sah den anderen, den schmierigen Propheten aus dem Lokal. Kröger hieß er also. Das musste ich mir merken.

»Erinnern Sie sich an den Kampf? Sie haben die Kontrolle verloren, mein Freund.«

Ich war nicht sein Freund. Er war auch nicht meiner.

»Das ist nicht gut, müssen Sie wissen. Das ist gar nicht gut. Sie sind gemeingefährlich.«

Ich verzerrte mein Gesicht zu einem irren Grinsen. »Buh.«

Er zeigte sich nicht beeindruckt.

»Stellen Sie sich vor, was alles hätte geschehen können, wenn wir nicht gewesen wären. Sie hätten jederzeit explodieren können. Und was dann? Dann wäre das Geschrei groß gewesen. Und das zu recht. Es gibt immerhin so etwas wie eine staatliche Aufsichtspflicht.«

Er rieb sich selbstzufrieden das Kinn. »Vielen Dank, Kröger.«

Der zungenlose Lockvogel nickte und wandte sich zum Gehen. Sein skeptischer Blick streifte mich. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, das konnte ich sehen.

»Man wird sich um Sie kümmern.« Mit einem resignierten Ächzen erhob sich der Kerl.

Ich ahnte, dass jetzt die Weichen gestellt wurden – in welche Richtung auch immer. Daher zwang ich mich zu einer Reaktion.

»Wie?«

Er sah auf mich herunter und ich konnte förmlich sehen, wie er die Für und Wider abwog, es doch mit mir zu versuchen – was »es« auch immer sei.

»Wollen Sie wieder nach Hause?«

Ich nickte.

»Dann haben Sie Vertrauen. Wir werden Ihnen ein Implantat einsetzen. Es befindet sich noch in der Testphase, aber es wird Sie soweit stabilisieren, dass Ihre Aggressionen auf das Mindestmaß reduziert werden. Das einzige Messer, das Sie zielgerichtet in die Hand nehmen werden, wird das Buttermesser sein. Nichts und niemand wird Sie je wieder so provozieren können, dass Sie Gewalt anwenden werden – weder körperlich noch geistig. Na, wie klingt das?«

Ich hörte zu, dachte nach. Es klang alles verlockend. Keine Träume, keine Einflüsterungen in einsamen Nächten – alles würde wieder in seine rechte Ordnung fallen. Mein kleines, durchgeplantes Leben zwinkerte mir, dem Rädchen aller Rädchen, zu. Doch eine Frage blieb:

»Bin ich wirklich eine Gefahr?«

Er nickte.

»Sie haben es doch selbst erlebt. Aber das wird bald Geschichte sein. Psychologie ist gut und schön. Aber sie hat sich nicht als effizient erwiesen. Sie kann Mängel nicht in dem Maße nivellieren, wie sie entstehen. Diese Mängel manifestieren sich jedoch früher oder später – meist in Aggression, Gewalt und Unzufriedenheit. Aggressionen aber passen nicht in unsere heutige Gesellschaft, darüber sind wir uns alle einig. Sie überleben jedoch länger in uns, als alle Sozialdesigner gedacht haben. Also müssen wir sie bekämpfen. Kommen Sie mit?«

Ich nickte vage. Das reichte ihm, um weiter zu dozieren.

»Die Forschung kommt auf keinen grünen Zweig, während die prozentuale Zunahme von Amokläufen uns geradezu zwingt, neue Wege zu beschreiten. Reden hilft nicht? Dann sind wir gefragt. Es gibt Herzschrittmacher, es gibt Hirnschrittmacher. Wieso nicht das Wissen nutzen, das wir haben? Sehen Sie, unsere Umwelt hat nicht nur ihre guten Seiten. Etwas bleibt immer auf der Strecke. Menschlichkeit richtet sich nach der jeweiligen Definition. Jetzt sind wir in der Lage, die Situation der Definition anzupassen. Wir überwinden unsere Hilflosigkeit. Unterbewusstsein, papperlapapp. Uns ist letztlich egal, was tief in der Seele wühlt, solange wir die Auswirkungen kontrollieren. Und Sie, Sie werden das berühmte Ass im Ärmel sein, wenn wir unsere Methode dem Komitee vorschlagen werden.

Letztlich«, flüsterte er, »können Sie sich glücklich schätzen, Kröger über den Weg gelaufen zu sein. Nehmen Sie es ihm also nicht übel. Wir wollen nur das Beste.«

Ich lächelte versonnen.

Das Beste. Die Bestie.

Draußen knurrt es.

Im Innern ist es totenstill.

Sonnenstrahlen, die durch spiegelnde Fensterfronten fallen.

Feierabend.

HUMANOID 2.0

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