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Tag 15: Wenn ich ein Vöglein wär …

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Beim Aufwachen an diesem Morgen entfährt mir im Halbschlaf in Erinnerung an das besoffene Telefonat mit Tom (der erste Gedanke an das Arschloch heute und vermutlich nicht der letzte) ein saftiger Fluch, der selbst Götz von Berlichingen zum Erröten gebracht hätte. Goethes Figur des fränkischen Raubritters hat nicht nur das Am-Arsch-Lecken salonfähig, weil bühnentauglich, gemacht, sondern auch die frohe Botschaft verkündet: »Wo viel Licht ist, ist starker Schatten!« Einen wahrhaft sonnigen Charakter muss dieser Typ gehabt haben, aber wo er recht hat, hat er recht.

Mit hämmernden Kopfschmerzen taumle ich ins Bad, um mir im Spiegel die katastrophalen Auswirkungen des Alkoholexzesses von letzter Nacht aus der Nähe zu besehen. Ich schrecke vor dem traurigen kleinen Gesicht zurück, das mich aus rot geränderten Augen und mit leicht geschwollener Nase anstarrt – ein Anblick, der mir neuerlich den Schnaps die halbe Speiseröhre hochtreibt. Mit brennender Kehle meine ich, auf der kalkweißen Haut ein paar neue Falten zu entdecken, die während der Beziehung mit Tom (verflixt!) noch nicht da waren. Doch nicht nur mein Körper musste unter dem unsinnigen Besäufnis leiden, auch meine Seele hat eine neue Schramme.

Sollte ich mich irgendwann erholen und mich jemals wieder mit Männern verabreden, würde ich das bei Mondschein tun – so ein Vampirlifting wirkt Wunder! Oder ich verdiene als Starreporterin genug Geld, um mir eine kosmetische Operation leisten zu können. Dabei lache ich sonst über künstliche Schönheit und bemitleide jede Dame, die sich aus rein optischen Gründen unters Messer legt. Regelrecht peinlich finde ich jene, die von einem »zahnmedizinischen Eingriff in Ungarn, bei welchem man drei Wochen lang stationär behandelt wird«, berichten, und von diesem Horrortrip mit strafferer Haut und schmaleren Hüften wiederkehren. Und die Krönung des Märchens ist, wenn sie ihre Verwandlung mit der guten Luft und einer aufgrund von furchtbaren dentalen Schmerzen verminderten Nahrungsaufnahme zu erklären versuchen. Kommen sie mit vergrößerten Brüsten nach Hause, sind die während der regelmäßigen Massagen und Moorpackungen im von der Zahnklinik zur Verfügung gestellten Luxusressort sowie dank gesunder Ernährung gewachsen. Beim neuerlichen Blick in den Spiegel beschließe ich, auch peinlich zu sein, wenn ich einmal genug Geld habe.

Ich seufze und beschließe, den Liebeskummer nicht länger vorwiegend allein zu verarbeiten oder im Schnaps zu ertränken, und rufe eine meiner ältesten Freundinnen an. Heidi hat sich bisher zurückgehalten, was Bombardements mit Fragen, Beileidsbekundungen und Trostangebote betrifft – weil sie mich kennt und weiß, dass ich in so einer Phase in Ruhe gelassen werden möchte, um niemandem mit meinem Gewinsel auf den Wecker zu fallen.

Doch in mir ist plötzlich der Wunsch erwacht, meinen Kater in der Frischluft auszukurieren, und erstaunlicherweise, was sogar für mich überraschend ist, will ich dabei nicht allein sein.

Eine Stunde später ist meine Freundin zu Stelle. Ich steige in ihr Auto und ersuche sie um einen Ausflug in die Natur, bevor ich sie auf ihren rot geschminkten Mund küsse – etwas, das Tom immer verstört hat. Bei genauerer Überlegung könnte unser kleines Ritual meinen Ex-Freund scharf gemacht haben. Männer sind ja so leicht zu triggern … man könnte allein mit dem Hauch einer Andeutung sexueller Aktivität zwischen zwei Frauen die menschliche Version eines kastrierten alten Rüden in einen pubertierenden Vierbeiner mit dem Geruch nach läufiger Hündin in der Nase verwandeln.

Als Heidi losfährt, bläst mir aus der Klimaanlage der eisige Hauch des Todes ins Gesicht, und ich kann nur noch röcheln, als es hinter meinen Schläfen neuerlich zu pochen beginnt.

Während des anschließenden Spaziergangs durch einen kleinen Wald am Stadtrand beginnen sich die Wolken in meinem Kopf langsam zu verziehen. Wir plaudern nur sparsam, und wenn wir reden, kommunizieren wir in Zeitlupe, um die Entschleunigung zu zelebrieren. Das ist unser Ding, wenn wir im Grünen sind: uns an die Langsamkeit anzupassen, mit der beispielsweise Pflanzen wachsen. Meine Freundin fragt nichts, von dem sie annimmt, dass ich nicht darüber reden möchte, und sie erzählt nichts, von dem sie denkt, dass es mich in meiner derzeitigen Situation ohnehin nicht interessiert. Ich genieße die Stille und konzentriere mich auf die Schritte, mit welchen ich den Abstand zu meinem Kummer zu vergrößern suche. Auch wenn ich damit, pragmatisch betrachtet, zugleich die Distanz zu meinem Tod verringere.

In der Laubkrone eines Baumes über uns zwitschert es lieblich und ich denke: Wenn ich ein Vogel wär, wüsste ich genau, wohin ich flöge … und wen ich als Erstes anscheißen würde.

Nach einer halben Stunde fast schweigsamen Spazierengehens entdecke ich auf einer Bank ein schon etwas in die Jahre gekommenes Paar. Sie ist klein und zart, wirkt rüstig und agil und sieht mit ihrem modernen Kurzhaarschnitt trotz ihres fortgeschrittenen Alters recht flott aus. Er trägt einen abgewetzten Anzug, dem man den Geruch nach Mottenkugeln ansieht, sein Haar, das nur spärlich die mit roten Flecken übersäte Kopfhaut bedeckt, ist dünn und strähnig. Der Ausdruck in den Augen des Greises wirkt leer, und hinter einen Spaltbreit auseinanderklaffenden bleichen Lippen kriecht eine belegte Zunge wie eine Nacktschnecke von einer Ecke zur anderen, während käsig abgestandener Schleim in den Mundwinkeln klebt. Die Frau hat ihre kleine faltige Hand auf die große Pranke ihres Partners gelegt und lächelt ihm zu, der Mann streichelt mit dem Daumen über ihre Finger – vielleicht ist es nur ein Reflex, doch er scheint trotz seiner scheinbaren geistigen Abwesenheit glücklich zu sein.

Tom und ich wollten auch gemeinsam alt werden und bis zu unserem Tod und darüber hinaus in einem anderen Universum zusammenbleiben. Wir haben uns geschworen, uns gegen den Rest der Menschheit zu verbünden und dabei stets nach dem Pippi-Langstrumpf-Prinzip zu agieren: Wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt. Und jetzt würde ich allein Schicksalsschläge erdulden, über Stolpersteine, Hürden und Fallgruben am Lebensweg springen, die Unfähigkeit dummer Leute ertragen und gegen die Allmacht von Obrigkeiten kämpfen müssen. Du hast mich im Stich gelassen, du verdammter Hurensohn. Wie ein Hähnchen sollst du auf einen Bratspieß gesteckt, im offenen Feuer geschmort und dabei mit Tabascosoße beträufelt werden. Haben Sie weitere Ideen, wie man mit einem Verräter verfahren könnte, um ihm ein Maximum an Schmerz zuzufügen?

Heidi scheint zu erahnen, dass ich mich plötzlich weniger an der Natur als an Folterkammervisionen erfreue, und ist ehrgeizig bestrebt, die Schatten auf meiner Seele mit Licht zu vertreiben. Sie lenkt meinen Blick mit Wortreichtum, Informationsfülle und Laudatio-Tonfall auf die Schönheit der Umgebung ringsum und macht ihrem Beruf als Biologielehrerin alle Ehre. Als sie die Worte »Geschlechtsreife« und »Fortpflanzung« im Zusammenhang mit einem unseren Weg kreuzenden Rüsselkäferpärchen in den Mund nimmt, verlässt den meinen ein Schwall abgestandenen Alkohols. Das Erkotzte landet auf dem Waldboden, halb auf den Insekten, halb auf den blauen Schuhen der Freundin. Wortlos fischt diese ein Taschentuch aus ihrer Jacke und reibt ihre Ledertreter ab, die von mir gerade neu imprägniert wurden. Ich beuge mich in der Zwischenzeit über das Rüsselkäferpärchen und hoffe, dass es nur be- und nicht ersoffen beziehungsweise erstickt ist. Sie haben meine unbeabsichtigte Attacke überlebt und taumeln mit Schlagseite davon, während einer den anderen schiebt – ob man sich dabei nur über die Straße hilft oder die beiden im Schapsrausch Lust auf eine Rüsselkäferpaarung bekommen haben, kann ich nicht sagen.

Heidi hat in der Zwischenzeit ihre Schuhe fertig geputzt, während ich mir den Mund am Westenärmel abgewischt habe, und so marschieren wir weiter. Meiner Freundin ist der Gesprächsstoff ausgegangen oder sie befürchtet, mit weiteren Erläuterungen eine neuerliche Übelkeit bei mir auszulösen. Und so hängen wir beide unseren Tagträumen nach, doch während sich ihre vermutlich um effektive Fleckentfernung aus blauen Lederschuhen drehen, handeln meine eher von neuen Horrorszenarien, die einen treulosen Beziehungsbrecher und dessen Plastikbunny betreffen. Mich beschleicht das Gefühl, dass ich an diesem Tag mein Kontingent an Gedanken im Zusammenhang mit Tom schon fast verbraucht habe. Es ist langsam an der Zeit, meine Aufmerksamkeit wieder auf andere Dinge zu richten – auf erfreuliche, aufbauende, erfüllende, glücklich machende. Sonst gräbt die Verbitterung womöglich noch mehr Falten in mein Gesicht, brennt der Schmerz weitere Narben auf mein Herz und schlägt die Erinnerung noch länger auf meine Seele ein, als ich verkraften kann. Vor allem möchte ich weiterhin emotionsflexibel bleiben und nicht ständig nur traurig, teilnahmslos oder zickig sein – und mir vorkommen wie ein Sack nasser Sand, auf den pausenlos eingeprügelt wird.

Was würden Sie mir raten angesichts meiner Lage? Zu einem Urlaub unter Palmen mit langen Spaziergängen am weißen Sandstrand tagsüber und ausufernden Partys mit karibischen Jungs bei Nacht? Zur Rettung eines Welpen aus dem Tierheim? Zu einem Beauty- und Wellnesstag inklusive Friseurtermin und Typveränderung?

Ich spüre Heidis Blick im Nacken und stelle fest, dass ich durch den Wald laufe wie ein Reh auf der Flucht vor dem Jäger und sie dabei abgehängt habe. Meine Freundin schnauft heran wie eine Dampflok, ergreift meine Schulter, als wolle sie mich am Entkommen hindern, und fragt keuchend in schönster Laienpsychologenmanier: »Wovor rennst du denn weg?« Der Klassiker. Wenn ich mich schon wie ein lebendes Klischee verhalte, dann auch wie eines der gängigsten nach einer Trennung vom Partner. Als würde ich vor der Erinnerung an die Zeit mit Tom (ach, Scheiße, an dem Gedanken ist jetzt aber meine Freundin schuld!) davonlaufen.

»Vor dir!«, antworte ich grinsend und deute auf die blauen Lederschuhe. »Du stinkst nach Schnapskotze!«

»Hast du gerade dein Humor-Coming-out?« Heidi beginnt zu kichern. Ich lobe mich innerlich für die Weitsicht und mein Talent, mir meine Freunde zu einem Großteil nach ihrer Fähigkeit auszusuchen, selbst die blödesten Witze zu verstehen und/oder lustig zu finden. Gleich darauf lachen wir lauthals durch die Botanik und verschrecken damit garantiert das eine oder andere Wildtier, das gut gelaunt das schöne Wetter genießen wollte. Stellt euch nicht so an, Silvester ist lauter.

Kurz darauf kehre ich zurück zu meinen Plänen, mir etwas Gutes zu tun und meinen Fokus neu auszurichten. Für einen Urlaub habe ich kein Geld und für einen Welpen aus dem Tierheim keine Zeit. Bleibt nur das Rundumpflegeprogramm. Mein Entschluss steht fest: Ich werde mein Schicksal in die Hände von Fachpersonal, Haare und Kosmetik betreffend, legen und hoffen, dass es damit in eine neue Richtung gelenkt wird.

»Satteln wir die Pferde und reiten in den Sonnenuntergang!«, rufe ich euphorisch und erzähle meinem Gegenüber von dem Vorhaben, mich pflegen und stylen zu lassen. Heidi klatscht begeistert in die Hände, womit sie wieder mindestens fünfzig kleinere und größere Tiere in unserer Nähe verschreckt haben dürfte, und gratuliert mir zu dieser vorwärtsgerichteten und glücksträchtigen Entscheidung.

Gut gelaunt treten wir den Rückweg an. Schon bald, so nehme ich mir vor, wird jede Erinnerung an Tom verblassen, da ich mich wie Phönix aus der Asche erheben und an jedem Finger mindestens einen neuen Verehrer haben werde. Noch besser wäre meine Stimmung, hätte nicht wieder ein Gedanke an den Verräter die rosig schimmernde Zukunftsvision getrübt.

101 GEDANKEN AN TOM

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