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Tag 15/Tag 16: Ein bisschen bi?

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Kaum habe ich eine mögliche Rüsselkäferpaarung beobachtet und etwas später beschlossen, die Pferde zu satteln, träume ich in dieser Nacht von Sex – anfangs von recht wenig erfreulichem mit Männern; na ja, eigentlich nur mit einem: Tom. Und dieser ähnelte stark jenen körperlichen Aktivitäten, die in den letzten Monaten eher selten von Erfolg, nämlich einem kurzen Grunzlaut seinerseits sowie einem kleinen Jauchzer meinerseits, gekrönt waren – vor allem dann nicht, wenn wir beide viele Dinge im Kopf und wenig Enthusiasmus in den Lenden hatten. Im Anschluss an diese fade Bettgymnastik suchen mich, nur der Himmel und mein Unterbewusstsein wissen, warum, erotische Fantasien anderer Art heim. In den folgenden Träumen spielt ausschließlich eine Frau eine tragende beziehungsweise nackt auf mir herumturnende Rolle. Ich sehe mich, ungewohnt gelenkig und agil, die seltsamsten Verrenkungen vollführen, wobei ich zugleich die Biegsamkeit des anderen weiblichen Körpers bewundere, während meine Partnerin und ich uns leidenschaftlich lieben.

Als ich endlich vor Erregung zitternd schweißgebadet erwache, starre ich minutenlang mit aufgerissenen Augen und klopfendem Herzen in die mich umgebende Finsternis. Was sollte das denn, bitte? Schwimme ich nach der Enttäuschung von Tom und wegen eines daraus erwachsenden Misstrauens anderen Männern gegenüber womöglich gerade ans andere Ufer?

Bisher haben mir meine eigenen weiblichen Körperteile zum Glücklichsein völlig ausgereicht, weshalb ich stets nach dem passenden Gegenstück suchte, das im Idealfall von einem darüber befindlichen Sixpack gekrönt wurde. Außerdem bin ich mit den eigenen prämenstruell bedingten flexiblen Stimmungen bedient genug und froh darüber, dass der Kerl dieses Symptom nicht auch noch aufweist.

Eine Dokumentation über den Psychoanalytiker Sigmund Freud kommt mir in den Sinn, der behauptete, dass jeder Mensch bisexuell veranlagt ist. Er meinte, dass sich fast alle Männer und Frauen nach einer Phase der Zuneigung zu beiden Geschlechtern in frühen Jahren unbewusst für die Homo- oder die Heterosexualität entscheiden und diese ausleben. Währenddessen schlummere die bisexuelle Veranlagung im Inneren weiter und trete gelegentlich wieder zutage. Denken Sie, bei mir ist das Nickerchen der ambivalenten Neigung zu Ende? Oder sogar das eindeutige Verlangen nach einer Beziehung mit einem Wesen ohne Testosteron erwacht? Ein bisschen Orientierungshilfe wäre jetzt fein, ich fühle mich wie ein Boot ohne Steuermann, hin- und hergerissen im Sturm der Gefühle.

Mit vor Kälte oder Panik – das weiß ich im Moment nicht so genau – zu Berge stehenden Körperhärchen denke ich an ein Erlebnis aus meiner Zeit als schwer Pubertierende zurück, als ich mich unsterblich in einen Burschen aus der Parallelklasse verliebte. Doch der hübsche Junge entpuppte sich als hässliches Mädchen und ich erlitt den Schock meines Lebens, zweifelte ich doch an meiner sexuellen Ausrichtung.

Wumms, mit voller Wucht knallt eine meterhohe Welle gegen mein Boot, während ich hilflos im Kreis rudere. Bin ich wach oder träume ich schon?

Eine weitere Erinnerung ereilt mich: an einen Vorfall, der sich etwa vor zwei Jahren in einer Bar zugetragen hat. Die Laune war bestens, das Bier süffig und der Abend weit fortgeschritten. Meine Freunde saßen an mehreren Tischen verteilt und so wechselte ich immer wieder den Platz, um mit allen zu plaudern. Tom befand sich auch unter den Leuten, wir waren damals seit etwa einem halben Jahr ein Paar. Einige von ihnen schielten bereits bedenklich … und orderten bei mir mehr Alkohol, wenn ich an den Tisch kam, weil sie mich für die Kellnerin hielten.

Nach einiger Zeit verlangte meine mit Gerstensaft gefüllte Blase nach Entleerung und so machte ich mich mit elastischen Beinen auf den Weg zur Toilette, während hinter mir die Menge weitergrölte. Als ich die sanitären Anlagen wieder verließ und den Gastraum betrat, kam mir meine Freundin Claudia entgegengeschwankt und umarmte mich wie eine Ertrinkende auf hoher See. Sie flüsterte mir, wie ein nasser Sack in meinen Armen hängend, ins Ohr, dass sie mich furchtbar liebhabe, und streichelte unablässig meinen Rücken. Gerührt ob des Gefühlsausbruchs antwortete ich: »Ich hab dich auch lieb, Maus, aber lass mich jetzt bitte wieder los!«, schob Claudia von mir, als sie nichts dergleichen unternahm und ich befürchten musste, dass sie entweder eingeschlafen war oder sich jeden Augenblick über meine Schulter übergab. Behutsam setzte ich sie auf eine der Bänke und ging danach zu meinen Freunden zurück, nicht ohne mir vorzunehmen, etwas später wieder nach Claudia zu schauen. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen, denn gefühlte fünf Sekunden später stand meine Freundin wie der Schiefe Turm von Pisa vor mir und grinste mich an. Mit entgleister Miene und glasigem Blick, bei dem ein Auge mich, das andere einen fiktiven Punkt irgendwo im Lokal zu fixieren versuchte, lallte sie lauthals: »Ich will jetzt sofort mit dir knutschen!«

Ich sah mich daraufhin veranlasst, aufzuspringen, Claudia umzudrehen und retour zu den WC-Anlagen zu schieben, um dort ihren Kopf in kaltes Nass zu halten – ich wollte sie zwar nicht in eine Klomuschel tauchen, aber zumindest über einem Waschbecken unter den Wasserhahn bugsieren. Doch meine Freundin zeigte sich nur bedingt kooperationsbereit, drehte sich plötzlich um und zog mich ruckartig an sich. Ihre geschürzten Lippen, welche die meinen anvisierten, befanden sich nur wenige Zentimeter von meinem panisch zusammengepressten Mund entfernt, bevor ich mich im letzten Moment losreißen konnte, sodass sie ins Leere torkelte und mit dem Kopf gegen die Wand donnerte. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass durch den heftigen Aufprall kein bleibender Schaden, sondern höchstens eine Beule zurückbleiben würde, zog ich Claudia zurück ins Lokal. Ich platzierte sie auf einem Stuhl, wo sie augenblicklich in sich zusammensackte wie ein Duracell-Hase, dem die Batterie entfernt wurde. Erstaunlicherweise richtete sie sich nur wenige Sekunden später wieder auf, als wäre sie eine Marionette, die man an unsichtbaren Fäden hochzog, sprang auf und stürzte sich mit den Worten »Ich will endlich mit dir knutschen!« auf mich. Ich sah keinen anderen Ausweg mehr, als Claudia an den Schultern zu packen, um sich selbst zu drehen, zu flüchten, solange sie noch kreiselte, und mich in einer Toilettenkabine einzuschließen. Lauter Trubel drang gleich darauf dumpf durch die Tür an mein Ohr, da meine Freundin offensichtlich im Lokal Amok lief, weil sie mich nicht mehr fand. In meinem Kopf spielten sich Szenen wie in einem blutigen Horrorstreifen ab, in dem sich eine der Verfolgten – ich in diesem Fall – vor dem wahnsinnigen Killer auf dem WC versteckt und als Einzige überlebt … oder auch nicht.

Weil mir diese Vorstellung zu gruselig wurde (damals war ich zartbesaiteter als heute), verließ ich die Sicherheitszone wieder und schob mich vorsichtig um die Ecke, um in den Gastraum zu spähen. Tom saß neben Claudia an einem Tisch, tröstete sie und hatte ihr ein großes Bier vor die Nase gestellt, an dem sie selig lächelnd nippte. Ich schlich mich vorbei, an der Garderobe getarnt hinter einem Regenmantel mit Kapuze und ein paar anderen Kleidungsstücken, und machte mich eilig aus dem Staub. Auf dem Parkplatz simste ich meinem Freund, dass er bitte nach draußen kommen solle, weil ich nach Hause fahren wollte.

Am nächsten Tag stattete ich meiner im Suff bi-neugierigen Freundin einen Besuch ab, die mir in verkaterter Stimmung die Tür öffnete.

»Was war?«, fragte sie knapp.

Ich erwiderte: »Was ist denn das für eine Begrüßung, Maus?«, zog sie an mich und presste meine Lippen auf die ihren. Ohne eine Miene zu verziehen, auch wenn ich am liebsten ein Feuchttuch aus der Tasche geholt und es mir in den Mund gestopft hätte, säuselte ich in ihr fassungsloses Gesicht, auf dem sich ein Ausdruck leichten Ekels breitmachte: »Liebes, wieso bist du denn heute so spröde? Ich dachte, wir schieben jetzt endlich eine Nummer, nachdem wir gestern wie Teenies am Klo herumgeknutscht haben, du aber aufgrund des Alkoholgehalts in deinem Blut und des Puddings in deinem Körper leider zu mehr nicht fähig warst. Was ist jetzt?«

»Igitt«, antwortete Claudia mit einer Mischung aus Scham und Abscheu in der Stimme und starrte mich entsetzt an.

»Ich … ich … wusste nicht, dass du … auch auf Frauen stehst«, stotterte mein Gegenüber fassungslos. Genug gequält, beschloss ich und berichtete wahrheitsgetreu von den Ereignissen, woraufhin meine Freundin vor Erleichterung tief aufseufzte und die Worte »Nie wieder Alkohol!« aussprach.

»Also, für die Zukunft«, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen, »ich freue mich für dich, wenn du dich dafür entscheidest, deine Bisexualität auszuleben.« Nach dieser Meldung musste ich wieder flüchten, jedoch nicht vor geschürzten Lippen, sondern vor einem drohend erhobenen Hausschuh in Claudias Hand.

Aber was hilft mir diese zugegebenermaßen lustige Erinnerung, während ich hier im Bett liege und mit meiner eigenen Unsicherheit kämpfe? Denken Sie, die Wut auf Tom hat mich umgedreht?

Ich schließe die Augen und denke an eine wunderschöne nackte Frau, die lächelnd auf mich zukommt, bereit, mich an ihren wogenden Busen zu drücken. Als nicht nur kein Hauch eines lustvollen Prickelns zu spüren ist, sondern es mich auch sofort vor Grauen schüttelt, tausche ich das weibliche Wesen rasch durch ein männliches aus: einen dunklen Lockenkopf mit hellen Augen, bartumschattetem Gesicht und Waschbrettbauch – und schon verzieht sich mein Mund wie von allein zu einem breiten Lächeln. Wenn ich jetzt sofort einschlafe und mich im Traum rasch ausziehe, wäre ich bereit für einen kleinen Jauchzer.

Als ich an diesem Mittwochmorgen erwache, kann ich mich nicht mehr erinnern, was ich alles mit dem jungen Mann getrieben habe. Aber es muss schön gewesen sein, denn ich fühle mich sehr entspannt. Schade nur, fällt mir ein, bevor ich mich aus der Decke schäle, dass zweckdienliche Modifikationen von einem Wesen in ein anderes nicht möglich sind – sonst würde ich Tom in einen Dinosaurier verwandeln und hoffen, dass er bald ausstirbt.

101 GEDANKEN AN TOM

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