Читать книгу 101 GEDANKEN AN TOM - Gabriele Hasmann - Страница 9
Tag 14: Körbchengröße Fingerhütchen und ein Pudding
ОглавлениеAls ich erwache, sticht die Sonne ihre Strahlen durchs Fenster direkt in mein Gesicht. Scheiße, kann bitte jemand diese Helligkeit abstellen! Depressive Menschen bevorzugen die Dunkelheit, lieben den Geruch nach Moder und hassen Knoblauch. Um Himmels willen, ich bin zum Vampir mutiert! Danke, Tom!
Was ist denn heute überhaupt für ein Tag, wissen Sie das vielleicht?
Ich stehe schnell auf, wobei der Vorgang dank instabilen Kreislaufs und schlafsteifer Glieder dann doch gut zwei Minuten dauert, und schlingere Richtung Küche. Kaffee, bitte! Und es ist Montag, wie ich bei einem Blick auf meinen Kalender eruiere, an dem ich jeden Tag seit der Trennung durchstreiche. Mit Augenlidern auf halbmast greife ich nach dem schwarzen Stift und zeichne mit quietschenden Linien ein weiteres großes X aufs Papier. Es steht für: Nix ist es geworden mit der großen Liebe und glücklichen Zweisamkeit bis ans Lebensende – weil mein Ex-Freund sich benehmen musste wie ein hormongesteuerter Neandertaler, der seine familiären Gene ausstreut wie der Landwirt die Saat. Na, hoffentlich fällt die nicht auf unfruchtbaren Boden, denke ich gehässig (Tom wünscht sich eine große Familie).
Bei einer lustlosen Inspektion des Kühlschranks stelle ich fest, dass er dringend wieder einmal gefüllt werden sollte. Da Verhungern nicht auf meiner Liste der fünfzig möglichen Varianten, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, steht, werde ich einkaufen gehen müssen.
Nach einer Stunde und unzähligen vergeblichen Versuchen, wie eine Frau auszusehen, die nicht vor dreizehn Tagen von ihrem Freund verlassen wurde, befinde ich mich auf dem Weg zum Supermarkt. Ob die Leute um mich herum wohl ahnen, dass ich ein Vampir bin? Ich halte mein Gesicht in den aufkommenden Wind und hoffe, damit einen gewissen Straffungseffekt hinsichtlich meiner Zornesfalten erzielen zu können.
Unheil naht! Da die Nervenzellen in meinem Körper in der Lage sind, drohenden Ärger seismografisch zu erfassen, bin ich vorgewarnt, als sich ein Beben ankündigt.
Und tatsächlich, ich entdecke meinen Ex-Freund in der Menge der Fußgänger, die mir mit muffeligen Montagsgesichtern und Wochenbeginn-Stress im Blick entgegenkommen. Zum Glück ist er allein, die blonde Tussi hat er daheim gelassen. Schlagartig fühle ich mich wie eine brillentragende, pickelgesichtige Pfadfinderin mit dicken Zöpfen und Körbchengröße Fingerhütchen, die zum ersten Mal ohne Streichholz Feuer gemacht hat: hässlich, aber stolz! Doch dem relativen Hochgefühl folgt in Sekundenschnelle ein tiefer Sturz in ein vollgeschissenes Plumpsklo – so jedenfalls fühlt es sich an.
Toms Blick ruht erkennend in meinem, bevor er mich lächelnd begrüßt. Ich stemme mich gegen den Wind und lausche seinen Worten, bevor die nächste Böe sie sich greifen und forttragen kann.
»Hallo, Jerry! … Ich … es … wie geht es dir?«, beendet er sein Gestammel mit einer trivialen Frage, in der sich Mitleid, Beschwichtigung und die Bitte um Verständnis mischen. Arschloch, du brauchst dich nicht nach meinem Befinden erkundigen, du nicht. Du elender Hurensohn, ich hasse dich aus tiefstem Herzen, ich wünschte, du würdest verrecken, jetzt gleich, hier auf der Straße, vor meinen Füßen.
»Hallo, Tom. Mir geht es großartig!«, sage ich mit halbem Lächeln und überlege einen Schweißausbruch lang, wie wohl die angemessene Begrüßung eines Paars aussieht, das sich vor dreizehn Tagen getrennt hat. Er nimmt mir die Entscheidung ab und umarmt mich so vorsichtig, als wäre ich aus Glas. Vor zwei Wochen bist du noch ohne jede Hemmung auf mir herumgeritten wie auf einem Rodeo-Pferd, du Drecksack.
Ich befehle meinen Mundwinkeln, sich noch weiter zu heben – die Blöße, auch nur ansatzweise traurig auszusehen, gebe ich mir sicher nicht; auch wenn das Lächeln nicht einmal mit Kompass den Weg zu meinem Herzen finden würde.
»Mir geht es großartig«, wiederhole ich und hoffe, dass sich diese Redensart in meinem Geist nicht als Mantra manifestiert und dort hängen bleibt. »Nenn mich bitte nicht Jerry, das dürfen nur meine Freunde!«, setze ich hinzu, klopfe ihm beiläufig kumpelhaft auf den Oberarm und gehe mit hocherhobenem Haupt davon.
Bin ich froh, dass ich den los bin, stelle ich fest, während meine Augen geflutet werden wie die Titanic nach dem Zusammenstoß mit dem Eisberg. Bevor ich zu lecken beginne, denke ich an Rache, das hilft meist ein bisschen. Heute funktioniert es jedenfalls tadellos: In einer laienmedizinischen post-mortem-Fantasie stelle ich mir vor, wie ich Toms leblosen Körper in einen pinken Gummianzug stecke, bevor er in den Sarg gelegt wird, damit die austretenden Leichengase dafür sorgen, dass er bis in alle Ewigkeit in einem rosafarbenen Luftballon gefangen ist.
Dieser Gedanke an meinen Ex-Freund gilt übrigens nicht und darf nicht hinzuaddiert werden, da er aus der Begegnung mit dem Scheißkerl resultiert, beschließe ich.
Stumm lalalalala singend, um weitere Erinnerungen an den Verräter … hoppla … abzuschmettern, gehe ich mit hoffentlich neutralem Gesichtsausdruck weiter, Schritt für Schritt. Hinter der Monotonie des Gehens duckt sich der Schmerz, der immer genau dann »Hier!« schreit, wenn ich es am wenigsten gebrauchen kann.
Am Platz vor dem Supermarkt schaue ich rasch in das Wasser des dort befindlichen Brunnens, in dem honiggelb die Spätsommersonne schwimmt, um anhand des Spiegelbilds meine Miene zu justieren und die Züge zu ordnen, falls nötig. Ja, ist nötig! Ich schaue zum Kotzen aus, stelle ich fest: hängende Wangen, bleichgeweinte Haut mit riesigen Fledermausschatten unter den Augen. Ich tauche meine Hände ein und klatsche mir das kalte Nass ins Gesicht, um etwas frischer auszusehen. Als ich mir anschließend mit der Zunge über die Lippen fahre und die dort befindlichen Tropfen einsammle, stelle ich fest, dass sie wie Kukucksspucke schmecken.
Im Geschäft angekommen, hat sich wieder einmal alles gegen mich verschworen: der rechtsdrallige Einkaufswagen, der alle paar Meter bockt wie ein einjähriger Mustang, meine Lieblingspizza, die sich so weit oben auf dem Regal befindet, dass ich sie nur auf den Zehennägeln stehend erreiche, und die alte Dame vor mir an der Kasse, die einen meteorologischen Lagebericht abgibt, während sie passendes Kleingeld abzählt. Als dann auch noch das Kind auf dem Arm der Frau vor mir zu brüllen beginnt, woraufhin die Münzenoma den Bezahlvorgang unterbricht und strahlend »Na, warum tut er denn jetzt weini, weini?« säuselt, will ich auch nur mehr weini, weini.
Nach der nervenaufreibenden Lebensmittelbesorgung beschließe ich, meine Eltern in ihrer Spießersiedlung, in die sie vor Kurzem gezogen sind, zu besuchen. Meine Mutter nervt mich seit Tagen, dass sie mich sehen will, und irgendwann muss ich diesen Drachen ja töten. Natürlich nur im übertragenen Sinn. Tatsächlich umbringen will ich nur einen … Sie wissen schon, wen ich meine, oder?
Mama öffnet die Tür und knipst gleich darauf ein Strahlen in ihrem Gesicht an, während ich ihr mein schönstes Kumbaya-Lächeln entgegenwerfe. Sie zieht mich ins Haus und beginnt sofort damit, meinen Gehörgang zu malträtieren, indem sie mir mit vor Freude kieksender Stimme dasselbe erzählt wie gestern am Telefon: Tante Elisabeth getroffen, Laub gerecht, Vater zum Arzt gefahren …
»Ist Papa da?«, unterbreche ich sie in der Hoffnung, mit dem sonoren Bass meines Erzeugers meine mittlerweile sich taub anfühlenden Ohren beruhigen zu können.
»Er ist mit dem Fahrrad unterwegs«, entgegnet meine Mutter lächelnd, drückt mich in der Küche auf einen Stuhl und stellt mir einen Pudding vor die Nase.
In dem Moment höre ich durch das gekippte Fenster meinen Vater auf seiner Rostmarie durch die Heile-Welt-Gassen klingeln – so kündigt er meiner Mutter sein Kommen an, damit sie unverzüglich das Mittagessen auf den Tisch bringt.
»Bin zu Hause!«, kräht der Geradelte nach seinem Eintreten. Er freut sich ebenfalls, mich zu sehen, wie ich aus der festen Umarmung und einem genuschelten »Gott sei Dank, es geht dir gut!« schließe. Na ja … gut … reine Definitionssache. So ein Wochenende, wie ich es hinter mir habe, müsste er erst einmal überleben.
»Liebes«, sagt meine Mutter, »du musst wieder mehr unter Menschen gehen, damit du nicht vereinsamst.« In deinem Kopf mag das ja logisch sein, aber ich bin hier draußen, denke ich, halte aber den Mund.
Anschließend werde ich bekocht, befragt und weiter beratschlagt, sodass ich das Haus meiner Eltern zwei Stunden später satt, aber genervt verlasse. So wie eigentlich immer.
Ich schlendere mit leichter Übelkeit im Magen, die ich wohl dem Pudding vor der Hauptspeise zu verdanken habe, stadteinwärts. Im Garten nebenan schneidet der Nachbar in Zeitlupentempo einen Stock mit den letzten Rosen des Jahres zurück. Er sieht mich direkt an, lässt es aber wie einen versehentlichen Blickkontakt wirken, nickt grüßend und ringt sich ein zähflüssiges Lächeln ab. Aus einem der Häuser jault ein Schlager – ich bin nicht sicher, ob sich der Interpret innerhalb oder außerhalb des Radios befindet –, in einem anderen explodiert Kindergeschrei. Na, da ist wohl jemand gerade übellaunig aus dem Schlaf erwacht … so wie ich seit dreizehn Tagen jeden Morgen. Nur, dass ich dabei nicht kreische wie eine Stichsäge mit Soundverstärker. Sollte ich vielleicht einmal ausprobieren. Allerdings würde mir wohl niemand die Tränen von den Wangen wischen, mich füttern oder wickeln (wobei Letzteres auch ein wenig seltsam wäre).
Ich selbst wollte nie Nachwuchs, Tom jedoch mindestens zwei Jungen und zwei Mädchen – das hat er mir bereits am Tag unseres Kennenlernens gestanden. Und mir wurde das bei jedem Blick in seine grünen Augen immer gleichgültiger.
Ich ändere meine Gangart auf doppelt so schnell, um dieser Siedlung, durch die ein Geruch nach Essen, geheuchelter Freundlichkeit und Scheinharmonie weht, so rasch wie möglich den Rücken zu kehren.