Читать книгу Versehrte Seelen - Gabriele Keiser - Страница 11
ОглавлениеBonn, Venusberg
6. Kapitel
Gute Luft, viel Wald und eine schöne Aussicht auf das Siebengebirge, das ist das Erste, was einem zum Venusberg einfällt. Und natürlich die Uni-Kliniken. Deren Gebäudekomplexe befinden sich genau an der Stelle, wo bis zum Kriegsende eine Flak-Kaserne der Wehrmacht stand, benannt nach dem Oberbefehlshaber Hermann Göring – eine historische Gegebenheit, auf die heute niemand mehr stolz ist. So hatte Helenas Chef diesen Bonner Bezirk beschrieben, wo es im Winter immer ein bisschen kälter ist als unten in der Stadt und wo der Schnee länger liegenblieb. Aber jetzt war Sommer und das Thermometer zeigte über dreißig Grad.
»Please be gentle with this heart of mine«, klang es aus dem Autoradio. Helena summte leise mit.
Etliche hochherrschaftliche Villen fielen ihr auf, inmitten weitläufiger Gärten, umgrenzt von exakt geschnittenen Heckenzäunen. Vor einem nüchtern wirkenden Mehrfamilienhaus, das nicht so recht zwischen die weitläufigen Villengrundstücke passen wollte, stellte sie ihr Fahrzeug ab.
Bereits im Flur kroch ihr eine widerlich verdorbene Süße entgegen, die sich auf Zunge und Gaumen legte. Unverkennbar Leichengeruch.
Das Innere der Wohnung überraschte sie. Der großzügig gehaltene Eingangsbereich war geschmackvoll, wenn auch ein wenig überladen eingerichtet. Der Gestank, der ihr jetzt entgegenschlug, war schier unerträglich. Sie versuchte, so flach wie möglich zu atmen und griff nach ihrem Fläschchen mit Japanöl – einem bewährten Mittel gegen Gestank jeglicher Art, das einigermaßen den Verwesungsgeruch überlagerte, den sie, das wusste sie von früheren Einsätzen her, so schnell nicht mehr loswerden würde. Da half nur mehrfaches Duschen, doch irgendwie schien das Gehirn den Geruch zu speichern und ihn auch dann noch abzurufen, wenn man eigentlich nichts mehr riechen konnte.
Die Latexhandschuhe verursachten ein schnalzendes Geräusch, als sie sie überzog, nachdem sie in den weißen Schutzanzug und die blauen Plastikfüßlinge geschlüpft war. Als letztes legte sie den Mundschutz an.
Kollegen in weißen Overalls, von denen sie die meisten noch nicht kannte, wuselten herum. Pinselten, fotografierten, vermaßen, klebten ab, hoben Gegenstände hoch, die sie begutachteten und in Asservatenbeutel steckten. Ihre Bewegungen waren ruhig und routiniert. Einer der Techniker mit einem Clipboard in der Hand signalisierte ihr, dass der Weg für sie frei war.
Mit Sezierblick nahm sie alles um sich herum auf. Die Wohnung wirkte insgesamt sehr gediegen und ordentlich. Eine geräumige Vier-Zimmer-Wohnung, wobei Wohn- und Arbeitszimmer ineinander übergingen und nur andeutungsweise voneinander getrennt waren. Ausgestattet mit etlichen Antiquitäten, die sicher einiges wert waren. Von der Decke hing ein kristallener Kronleuchter. Uhren in interessanten Gehäusen standen auf einem Sideboard. In klobigen Eichenvitrinen befanden sich viele Bücher. Bildbände. Sachbücher. Biografien. Auffallend waren Hermann Hesses gesammelte Werke, daneben standen andere Klassiker, aber auch moderne Literatur, wie sie auf den ersten Blick ausmachen konnte. Alle in edler Ausstattung. Keine billigen Taschenbücher. An den Wänden hingen Stiche von Städten und großformatige Ölbilder.
Im Arbeitszimmer beherrschte ein schwerer Schreibtisch den Raum. Darauf lag ein aufgeschlagener Tischkalender neben einer Stifte-Ablageschale aus Meißner Porzellan. Auffallend war eine altmodische Herrenbrille, die mit offenen Bügeln platziert war, als ob sie jemand vergessen hätte.
Der Tote lag verkrümmt hinter dem Schreibtisch auf einem wertvoll aussehenden Perserteppich. An einem Fuß hing ein braun-beige-karierter Pantoffel. Der andere lag etwas weiter entfernt. Der Mann trug eine graue Stoffhose, ein ehemals weißes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln, unter dem sich die Umrisse eines Achselhemds abzeichneten. Auf dem hellen Hemd waren getrocknete Blutflecken, die von mehreren Kopfwunden herrührten. Das blutüberströmte Gesicht des Mannes war kein menschliches Gesicht mehr, es glich eher einer Horrormaske, so wie man sie sich an Karneval zum Spaß überzog, um andere damit zu erschrecken.
Neben dem wuchtigen Schreibtisch lag ein umgekippter Bürostuhl aus schwarzem Leder. Hier hatte offensichtlich ein Kampf stattgefunden.
Mit vorsichtigen Schritten ging sie um den Schreibtisch herum und wäre fast auf das am Boden liegende Telefon getreten. Sie blätterte in dem Tischkalender. Darin waren kaum Einträge enthalten. Ein Termin zur Fußpflege war vermerkt für kommenden Mittwoch. Ein Name stach immer wieder hervor: In regelmäßigen Abständen stand da: Monika. Mit Ausrufezeichen.
Laut brummende Schmeißfliegen umschwirrten die Leiche. In den Augenhöhlen und in den Wunden kringelten sich reiskörnergroße Maden.
Für Schmeißfliegen ist eine frische Leiche besonders interessant, hatte ihr ein Rechtsmediziner am Anfang ihrer Ausbildung erklärt. Sie riechen den Verwesungsprozess lange bevor der Mensch ihn wahrnimmt. Sie kommen schon wenige Minuten nach dem Tod und suchen sich die Bereiche aus, an denen ihr Nachwuchs am einfachsten in den Körper gelangen kann: Augen, Nase, Mund. Am liebsten sind ihnen blutige Wunden, wo es warm und feucht ist. Dort legen sie Unmengen von Eiern ab, aus denen schon am nächsten Tag gefräßige Maden schlüpfen.
Sie spürte, wie ihr Schweißtropfen den Rücken hinabrollten. Neben dem Toten lag ein aufwendig geschliffener Kristallaschenbecher, an dem Blut und Haare hafteten.
Der flüchtige Schatten einer unangenehmen Erinnerung streifte sie. So ein Monstrum von Aschenbecher hatte bei ihrer Mutter zuhause stets irgendwo herumgestanden. Auf dem fleckigen Wohnzimmertisch. Oder neben dem Sofa auf dem abgetretenen Teppichboden. Immer randvoll mit Kippen. Sie wusste, wie schwer so ein Teil wog.
Ihr Blick streifte weiter durch den Raum. In der Wohnzimmernische stand ein gemütlich aussehendes Zwei-Sitzer-Plüsch-Sofa, daneben lag umgekippt ein samtbezogenes Schemelchen. In einer Ecke wucherte eine Grünpflanze, die Helena als Gummibaum identifizierte, aber sie war sich nicht sicher. Mit Topfblumen kannte sie sich nicht aus.
Über dem Sofa hing in einem schweren Barockrahmen ein naturalistisch aussehendes Gemälde vom Meer, windgepeitschte Wellen, auf denen auf bedenkliche Weise ein Segelschiff schaukelte.
Inzwischen war auch der Arzt eingetroffen. Sie beobachtete, wie er den Toten vorsichtig umdrehte, ihm Oberhemd und Unterhemd auszog. Der behaarte Körper darunter war aufgebläht und von Flecken übersät. Grau, grün ins Lilafarbene changierend.
Jetzt öffnete der Arzt Gürtel und Reißverschluss und zog Hose und Unterhose herunter. Offensichtlich ein junger, eifriger, der alles richtig machen wollte.
»Und? Wie lang liegt er schon so da?«, fragte sie.
Der junge Arzt sah auf. Kleine Schweißperlen standen auf seiner Stirn. »Die Verwesung hat ziemlich früh eingesetzt. Wegen der hohen Außentemperaturen.«
Helena reagierte ungeduldig. »Das ist mir schon klar, beantwortet aber nicht meine Frage.«
Er schaute irritiert. »Ich würde sagen, achtundvierzig bis sechzig Stunden in etwa. Aber ich will mich da nicht festlegen.«
Hätte mich auch gewundert, wenn mal einer von deiner Zunft auf Anhieb präzise Angaben machen könnte, dachte sie.
»Wahrscheinlich hat er noch eine ganze Weile gelebt, nachdem er niedergeschlagen wurde«, fügte der Mediziner an. »Sieht so aus, als ob er versucht habe, zu telefonieren.«
»An Schloss und Tür sind keine Einbruchspuren. Der Mann muss seinem Mörder die Tür geöffnet haben«, sagte einer der Spurensicherer, ein schlanker, großgewachsener, durchaus gutaussehender Mann, der sich Helena als Marco Baumgart vorstellte. Seiner tiefbraun gebrannten Haut nach zu urteilen, kam er frisch aus dem Urlaub.
»Da hat einer ziemlich brutal zugeschlagen. Geklaut wurde nichts, wie ich das einschätze. Jedenfalls nichts Wesentliches. Brieftasche ist vollständig da. Auch eine Geldkassette ist unberührt. Die hätte der Täter mühelos mitgehen lassen können.«
Helena bemerkte die unregelmäßig herausgezogenen Schreibtischschubladen, deren Inhalt einer der Techniker inspizierte.
»Hier was Interessantes drin?«
Er schüttelte den Kopf. »Das Übliche halt.«
Sie umrundete den Schreibtisch und inspizierte die wohlgefüllte Büchervitrine. Zog eins der ledergebundenen Bände ohne Aufschrift heraus. Schlug es auf. Schwarze Handschrift auf weißen, unlinierten Blättern. Ein Tagebuch. Zehn Bände insgesamt. Fleißiger Mann. Hat wohl sein Leben akribisch festgehalten. »Können Sie das bitte mitnehmen?«, fragte sie einen der Männer im weißen Overall und zeigte auf die Bände.
»Alle?«
Sie nickte. »Alle.«
Marco Baumgart hielt die Taschenlampe mit dem Forensischen Licht über den Schreibtisch, streifte an der Kante entlang. »Ich glaub, hier ist was«, sagte er, öffnete eins der Plastikröhrchen und entnahm ihm ein Wattestäbchen. Forensik-Abstrichtupfer hießen die Dinger. Er rieb ein paar Mal damit über die Schreibtischkante, steckte den Tupfer in das Röhrchen zurück und schraubte es zu. »Kleine Blutantragungen. Vielleicht haben wir Glück und es handelt sich um das Blut des Täters.«
Dann ein Treffer in der bundesweiten Gendatei und der Fall ist gelöst. Tja, schön wär’s.
»Also wenn Sie mich fragen, das sieht schwer nach Affekt aus«, sagte Marco Baumgart, der offensichtlich der Chef war.
Sie fragt aber keiner! Es lag ihr auf der Zunge. Glücklicherweise hatte sie es nicht laut ausgesprochen. Es war nicht gut, wenn sie sich gleich zu Beginn an ihrem neuen Wirkungsort wegen ihrer angeblich schroffen Art Feinde machte. Obwohl sie fand, dass sie lediglich ehrlich war. Oder auch nur gradeheraus. Jedenfalls nicht so verlogen wie manche ihrer Zeitgenossen.
Jetzt schon von einer Affekttat zu sprechen, schien ihr reichlich verfrüht. Das versperrte den Blick. Gerade am Anfang einer Ermittlung hieß es offen bleiben für alle möglichen und vielleicht auch unmöglich erscheinenden Erklärungen.
Sie durchschritt die anderen Räume. Das Schlafzimmer machte einen ebenso gediegenen Eindruck wie Wohn- und Arbeitszimmer. Auf dem schmalen Bett lag eine altmodische Tagesdecke. An der Wand hingen Tierfotos. Ein Panther kurz vor dem Sprung. Eine Elefantenherde mit einem Kleinen, das sich eng an die Mutter drückte.
Auch in der Küche gab es keinerlei Auffälligkeiten. Jedenfalls nicht auf den ersten Blick.
»Irgend was Verwertbares?«, fragte sie einen weiteren Techniker, der prüfend ein Wasserglas hochhielt, das er zuvor mit Rußpulver bepinselt hatte.
»Das wird sich zeigen«, antwortete er ausweichend.
Sie warf einen letzten Blick auf die Szenerie. Bieder, gutbürgerlich, so würde man eine solche Wohnung beschreiben. Der alte Herr hatte hier offensichtlich alleine gelebt. Jedenfalls gab es keine Anzeichen von einem Mitbewohner oder einer Mitbewohnerin. Im Bad standen einige wenige Toilettenartikel, wie Männer sie benutzten. Und es gab nur eine Zahnbürste. Einige wässrige Blutspritzer im Waschbecken zeugten davon, dass der Täter sich gereinigt haben musste. Das Handtuch hatte er offensichtlich nicht benutzt, es hing sauber und ordentlich über dem Handtuchhalter.
Was war mit den Angehörigen? Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass in der gesamten Wohnung Fotos von Menschen fehlten. Weshalb hatte sich dieser Mann lediglich mit Reproduktionen von Städten, Landschaften und Tieren umgeben? Hatte er keine Familie? Hatte er sich mit ihr überworfen? Oder war sie ihm nicht wichtig genug?
Sie dachte an das Büro ihres Chefs. Auf seinem Schreibtisch standen mehrere Fotos von seiner Familie. Frau, Kinder, Schwiegerkinder, Enkel. Alles so, wie es sich für einen braven deutschen Mann gehörte. In ihrem eigenen Büro gab es kein einziges Foto von Menschen, genau wie in ihrer Wohnung. Aber sie war ja auch keine brave deutsche Frau. Und ihre Familienverhältnisse waren geklärt. Zumindest für sie.
Sie schob die Kapuze nach hinten und öffnete ein wenig den Reißverschluss. Langsam wurde die Hitze unter dem Overall unerträglich. Beim Hinausgehen blieb ihr Blick an dem Ölbild über dem Plüschsofa haften. Das Meer war äußerst naturalistisch gemalt. Das Schiff zwischen den hohen Wellen hatte ordentlich Schlagseite. Als ob es kurz vorm Umkippen wäre. Sie hörte die Wellen heranrollen, spürte die Gischt, sah die Schaumkronen, die Lichtreflexe. Ein Wellenklangbild, das in voller Schönheit den möglichen Untergang zeigte. Beim Betrachten fühlte sie sich für den Bruchteil einer Sekunde, als sei sie mittendrin im Geschehen.
Schiffe ruhig weiter, wenn der Mast auch bricht. Gott ist dein Begleiter, er verlässt dich nicht.
Merkwürdig, dass sie jetzt an diesen alten Spruch denken musste. Sie wusste nicht einmal mehr, wo sie den aufgeschnappt hatte. Und gottesfürchtig war sie schon gar nicht.