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Bonn, Hollsteinkolleg

7. Kapitel

»Freu mich auf dich!«

Henrike sah die Buchstaben vor sich. Jeden einzelnen. Dahinter ein Ausrufezeichen und ein pinkfarbenes Herz.

»Freu mich auf dich!« Eigentlich ein harmloser Satz. Der jedoch auf ungebührliche Weise an Bedeutung gewinnt, wenn man ihn auf dem Handy seines Freundes liest. Und nicht weiß, wer sich da auf den Freund freute.

Die Nachricht hatte in Martins WhatsApp-Account gestanden. Unter einem Kontakt namens »Lina«. Ohne Foto. Es war die einzige Nachricht von Lina, aber es war ja keine Hexerei, einen Verlauf zu löschen. Vielleicht spielte diese Lina schon länger eine Rolle in Martins Leben und sie, Henrike, hatte das nicht mitbekommen.

»Freu mich auf dich!« Die Buchstaben begannen zu flimmern.

Wer könnte diese Lina bloß sein? Eine Kollegin? Eher nicht. Eine Schülerin? Nein, auf eine solche Stufe würde Martin sich nicht begeben, dafür kannte sie ihn zu gut. Das hoffte sie zumindest.

Vielleicht war sie dieser Lina sogar schon mal begegnet? Halt mal: Wie hieß die Kleine, Dunkelhaarige neulich, die Martin so stürmisch umarmt hatte, als sie sich zufällig in der Stadt begegneten? Und da gab es doch auch die langbeinige Blonde, die Martin in ihrer Stammkneipe hemmungslos angeflirtet hatte, und das in ihrem Beisein. Von der er lachend behauptete, sie noch nie gesehen zu haben. Und süffisant bemerkte: »Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?«

Klar hatte sie das lauthals abgestritten. Sie und eifersüchtig? Niemals! Beziehung hieß, dem anderen seinen Freiraum zu lassen. Ihn bloß nicht einengen. Diese Maxime hatte sie stets propagiert. Und im Grunde genommen auch fest daran geglaubt. Bis sie sich dabei ertappte, wie sie immer öfter Martins Handy checkte. Und siehe da: Wer sucht, der findet.

Mann, wo war sie bloß hingeraten? Machte sich wegen ein paar belangloser Worte einen derartigen Kopf. Dabei gab es doch wahrlich Wichtigeres, um das sie sich Gedanken machen sollte. Als sie Paul Behrends von den Aktenfunden auf dem Speicher berichtet hatte, war er völlig aus dem Häuschen und bat sie inständig, gezielt nach Unterlagen aus den 50er und 60er Jahren zu suchen. Das sei sein Schwerpunkt. Für den er unbedingt authentisches Material brauche.

Daraufhin war sie ein zweites Mal auf dem Dachboden gewesen und hatte nach den genannten Akten gesucht. Die der Nachkriegsjahre befanden sich in einem separaten Winkel des Raumes. Auch sie waren augenscheinlich sehr umfangreich.

In diesen Akten war vornehmlich von »Fürsorgeerziehung« die Rede, ein veralteter Begriff für die heutige Kinder- und Jugendhilfe des Jugendamtes. Als »Fürsorgezöglinge« wurden hauptsächlich Jugendliche ab zwölf Jahren bezeichnet, die in irgendeiner Weise aufgefallen waren und daraufhin ins Heim eingewiesen wurden, wo Erziehungskorrekturen vorgenommen werden sollten, wie es in einer Broschüre hieß. Die Gründe, weshalb die Jungen ins Heim gekommen waren, muteten jedoch fremd und nichtig an. Oftmals war angegeben: Unehelich geboren. Nichts weiter. Offenbar reichte dieser angebliche Makel, von der Gesellschaft ausgeschlossen und weggesperrt zu werden.

Gott sei Dank haben sich die Zeiten geändert, dachte Henrike. Heutzutage regte sich niemand mehr über ein uneheliches Kind oder über ein geschiedenes Paar auf. Höchstens ein paar ewig Gestrige.

Sie hatte dem Studenten versprochen, über ein Schüler-Projekt nachzudenken, denn alleine konnte sie unmöglich diese vielen Akten sichten. Doch jetzt kamen erst mal die Ferien. Zwei Wochen wollte sie zusammen mit Martin auf Lanzarote verbringen. Der Urlaub war bereits gebucht und sie freute sich darauf.

Wahrscheinlich war die Sache mit dieser Lina ganz harmlos und löste sich in Wohlgefallen auf, wenn sie Martin danach fragte. Sie sollte endlich aufhören, die Dinge überzuinterpretieren. Unwillkürlich musste sie lächeln. Das war es doch, was sie ihren Schülern beizubringen versuchte: Die Sätze für sich sprechen lassen. Die Wirkungsabsichten herauslesen. Zusammenhänge erkennen. Sachlich bleiben. Und nicht über das Ziel hinausschießen.

Sie öffnete die Tür zum Klassenraum und trat ein. Aus ihrer Tasche nahm sie die Reclam-Ausgabe von Büchners Woyzeck und lehnte sich gegen ihr Pult. Ihr Blick fiel auf den von ihr angestrichenen Satz »Jeder Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.«

Glatt abergläubisch könnte man da werden.

Sie straffte die Schultern, bat um Ruhe.

»In der letzten Stunde haben wir über den historischen Ursprung des Stückes gesprochen. Wer kann dazu etwas sagen?«, forderte sie die Schüler auf.

Das Gemurmel legte sich. Ein Mädchen mit rötlichen blonden Locken und blasser Haut hob zaghaft die Hand. Sah unsicher nach rechts und nach links in grinsende oder gelangweilte Gesichter.

»Denise, bitte.«

»Das Stück geht auf ein wahres Verbrechen zurück. Der Perückenmacher Woyzeck hat seine ältere Geliebte erstochen. Büchner wollte daraus ein Drama machen, das jedoch ein Fragment geblieben ist«, rezitierte Denise. Die Zahnspange ließ ihre Aussprache ein wenig spuckig und verwaschen klingen. »Büchner hat mehrere Versionen hinterlassen. Die Szenenabfolge variiert in den verschiedenen Fassungen. Was uns heute vorliegt, sind Rekonstruktionsversuche.«

»Sehr schön«, lobte Henrike. »Büchners Woyzeck ist eins der meistgespielten Theaterstücke. Das auch noch heute seine Gültigkeit hat, obwohl es schon so alt ist. Könnt ihr euch vorstellen, warum das so ist?«

Die Tür ging auf, ein Mädchen, deren Kopf von einem weißen Tuch umhüllt war, betrat den Raum. »Entschuldigung. Mein Bus hatte Verspätung«, sagte sie und huschte auf ihren Platz.

Henrike wollte sich ihre Missbilligung nicht anmerken lassen. Dass der Bus Verspätung hatte, glaubte sie nie und nimmer. Dafür kam das viel zu oft vor. Nayla legte es einfach wieder einmal darauf an, zu provozieren. Beide Eltern stammten aus dem Iran, aber Nayla war in Deutschland geboren und aufgewachsen. Ihr Tuch sei keine religiöse Kopfbedeckung, sondern ein zur Schau getragener Protest, das hatten ihre Eltern Henrike gegenüber betont. Beide waren weltoffene und bestens integrierte Menschen und hätten es lieber gesehen, wenn ihre ausgesprochen intelligente Tochter sich ebenfalls mehr den weltlichen Gepflogenheiten anpassen würde. Das hatten sie Henrike bei der letzten Elternsprechstunde unmissverständlich mitgeteilt und sie um entsprechende Unterstützung gebeten. Doch so einfach war das nicht. Zumal Nayla sämtliche Manöver in dieser Hinsicht sofort durchschaute. Insofern zog Henrike es vor, die Schülerin nicht zurechtzuweisen und ignorierte sie einfach.

»Ja, Sebastian, du wolltest was sagen?«

Der schmale, picklige Junge antwortete mit brüchiger Stimme: »Weil es ein universelles Thema beinhaltet. Woyzeck ist ein einfacher Soldat und verdient nicht viel. Um seiner Freundin Marie und seinem Kind Unterhalt zahlen zu können, ist er gezwungen, noch andere Arbeiten anzunehmen. Er rasiert den Hauptmann und er nimmt an einem medizinischen Experiment teil. Doch auch das reicht nicht aus.« Seine Stimmbruchstimme klang wie das Quieken in diesen lächerlichen Zeichentrickfilmen und stand in völligem Kontrast zu der Ernsthaftigkeit des Gesagten. »Im Grunde geht es darin um einen einfachen, aufs Äußerste gedemütigten Menschen, der nur seine Pflicht erfüllen wollte – und scheiterte.«

Henrike horchte auf. Das klang ja fast wie eine Anklage. Wenn man von der comic-haften Tonlage absah, schwang völlige Verzweiflung in dem Gesagten. Sie hatte durchaus mitbekommen, dass Sebastian permanent gehänselt wurde. Wegen seiner schmalen Statur, wegen seiner schlimmen Akne. Wegen seiner altmodischen Kleidung. Und wahrscheinlich auch, weil er ein guter Schüler war. Kinder fanden immer einen Grund zur Ausgrenzung, wenn einer anders war als die Masse. Das war auch zu ihrer Schulzeit so gewesen. Vielleicht sollte sie ihn irgendwann zu einem Gespräch unter vier Augen bitten. Ihn zu mehr Selbstbewusstsein ermuntern.

»Sehr gut, Sebastian«, lobte sie. »Und warum, glaubt ihr, bringt Woyzeck am Ende Marie um?«

Denise hob die Hand. Henrike sah über sie hinweg. »Was ist mit den anderen?« Ihr Blick wanderte in Naylas Richtung, doch die saß apathisch da und hatte den Kopf gesenkt.

Auch die anderen Schüler starrten mit unbeteiligten Mienen vor sich hin, fläzten an ihren Tischen, scharrten mit den Füßen. Maik und Luis, zwei schlaksige Sitzenbleiber, die regelmäßig den Unterricht störten, redeten wieder einmal ungeniert miteinander. Obwohl sie wusste, was folgen würde, musste sie dem Einhalt gebieten.

Kurz dachte sie an das, was oben auf dem Dachboden lagerte. Von solchen Schülern hätte man sich früher nicht auf der Nase herumtanzen lassen, sondern man hätte ihnen drakonische Strafen auferlegt. Doch die Zeiten hatten sich geändert und das war auch gut so. Obwohl ein wenig Disziplin nicht schaden würde, ein Begriff, der in den Ohren dieser Schüler jedoch ein Fremdwort sein dürfte.

»Maik, du unterhältst dich gerade so angeregt mit deinem Nachbarn. Willst du uns nicht an deinen Erkenntnissen teilhaben lassen?«

Der Angesprochene sah sie provozierend mit halb geschlossenen Lidern an. Legte den Arm auf die Tischplatte, stützte sein Kinn auf die Faust. Sein Blick drückte unverhohlen seine Scheiß-drauf-Haltung aus. »We don’t need no education«, rief er theatralisch aus. »We don’t need no thought control

Sein Sitznachbar fühlte sich angestachelt. »Hey, teacher, leave them kids alone«, fuhr er fort.

Die Klasse lachte. Die beiden Klassenclowns wandten sich nach rechts und nach links, Triumph in den Augen. Hatten sie es der Alten da vorn mal wieder gezeigt!

In Situationen wie diesen ruhig und gelassen bleiben, kostete furchtbar viel Kraft. Sie dachte an das letzte Gespräch mit Maiks Mutter. Sie hatte mit beiden Eltern sprechen wollen. Doch Maiks Vater, ein viel beschäftigter Geschäftsmann, war wieder einmal unterwegs. Die Mutter, eine künstlich wirkende Frau mit Wespentaille und viel Make-up im Gesicht begann sofort ihr Leid zu klagen. Maik sei nach wie vor renitent, es werde immer schlimmer mit ihm, er gehorche einfach nicht, sie käme nicht an ihn heran. Ob sie, Henrike, als seine Vertrauenslehrerin nicht härter durchgreifen könne?

Ein Gespräch, wie sie schon etliche geführt hatte. Henrike kam es jedes Mal vor, als sei die Mutter so sehr in ihre eigenen Schwierigkeiten verstrickt, dass sie für die Probleme ihres Sohnes kein Gespür mehr hatte. Von ihr als Lehrerin wurde – wie so oft – erwartet, dass sie die Erziehungsdefizite ausgleichen und den Nachwuchs in die richtigen Bahnen lenken sollte. Eines dieser Defizite war unzweifelhaft mangelnder Respekt, doch wenn man solches diesen Kindern nicht unmissverständlich von klein auf beibrachte, hatten es die Pädagogen schwer mit ihnen.

»Ihr wollt mir doch jetzt nicht mit diesem alten Käse kommen?«, trumpfte sie auf. »Das Lied bezieht sich auf eine völlig andere Zeit und völlig andere Lehrmethoden.« Sie hörte selbst, wie lehrerhaft sie klang. So konnte man Typen wie diese beiden Störer nicht beeindrucken, das wusste sie. Zurück provozieren war das Einzige, was ihr in diesem Moment einfiel: »Ihr zieht es also vor, dumm zu sterben. Nun, das ist euer Problem, nicht meins. Also haltet jetzt einfach mal die Klappe und stört die anderen nicht.«

Die beiden verzogen die Mundwinkel und rollten genervt mit den Augen. Immerhin blieben sie still.

Sie hatte sich schon manches Mal gefragt, was aus Schülern wie diesen beiden Sitzenbleibern später mal werden würde. Und was sie dagegen tun könnte, damit sie selbst erkannten, wie sehr sie sich mit ihrem Gehabe schadeten. Ihren Einfluss schätzte sie jedoch denkbar gering ein. Learning by doing, diese Methode war noch immer erfolgversprechender als Vorhaltungen zu machen. Ob sie einfach ihre Erfahrungen machen mussten und sehen, wo sie blieben? Erfahrungen kann einem niemand anders abnehmen, klar. Aber man brauchte Menschen, Verbündete, die man respektierte und die einem die richtige Richtung aufzeigten. Lehrer konnten durchaus solche Verbündete sein. Wenn man es denn zuließ. Sie hatte jedoch viel damit zu tun, diese Dinge immer wieder abzufedern.

»Büchner, der sehr jung starb, hätte dieses Stück wahrscheinlich nicht ohne fundiertes Medizinstudium schreiben können. Es geht darin auch um die Frage der Zurechnungsfähigkeit. Der wahre Woyzeck ist aufgrund medizinischer Gutachten für zurechnungsfähig erklärt worden. In seinem Stück jedoch lässt Büchner diese Frage offen«, fuhr sie mit dem Unterrichtsstoff fort.

Äußerlich mimte sie weiterhin die überlegene Lehrerin, innerlich seufzte Henrike. Sie gestand sich – wieder einmal – ein, dass sie sich Deutschunterricht so nicht vorgestellt hatte. So vieles scheiterte an der Interesselosigkeit ihrer Schüler. Gut, sie waren alle mitten in der Pubertät. Und in dieser Phase der heftigen Hormonschübe und der allgemeinen Verunsicherung musste man sich irgendwie auflehnen, auch ihre eigene Pubertät war ihr noch recht lebendig vor Augen. Aber mein Gott, musste das alles so anstrengend sein? Und musste sich das immer wiederholen?

Mit Denise und Sebastian machte der Unterricht Spaß, aber für ihre konstruktiven Bemerkungen wurden sie von vielen anderen als Streber abgeurteilt. Über Nayla wunderte sie sich oft. Ausgesprochen klugen Beiträgen ihrerseits konnten manchmal höchst dümmliche Aussagen folgen, die verdeutlichten, dass sie irgendetwas Provokantes nachplapperte, das sie irgendwo gelesen hatte. Zu Woyzeck hatte sie bis jetzt noch nichts Differenziertes beitragen können.

Henrike war sich sicher, dass die meisten ihrer Schüler noch nicht einmal das Stück gelesen hatten. Obwohl das ihre Hausaufgabe gewesen war. Und obwohl es ziemlich kurz war.

Gut, Büchners Drama war 180 Jahre alt. Aber gleichzeitig hochmodern, weil es so viel über soziale Konstellationen und zwischenmenschliche Kommunikation aussagte. Und über das Wesen des Menschen. Büchner, der wie viele gute Schriftsteller, seiner Zeit voraus gewesen war, hat den Finger in offene Wunden gelegt. Natürlich ist die Sprache altbacken und gewöhnungsbedürftig. Aber es ist ein Stück Literaturwissenschaft. Ein wichtiges Stück Literaturwissenschaft. Und das Fragmentarische setzt viel Phantasie frei. Darauf hatte sie eigentlich gesetzt.

»Wer kann was über den Inhalt wiedergeben?«, forschte sie weiter.

Stille. Nur ihre beiden Lieblingsschüler hoben wieder die Hände.

»Ich bin sicher, Denise und Sebastian können das. Was ist mit euch anderen?«

Wie sie da saßen. Coolness vortäuschend. Sich vor lauter demonstrierter Lässigkeit auf ihren Stühlen fläzten, das Gesicht in die Hände gestützt. Dabei blasiert in die Gegend schauen. Langeweile aussendend. Für einen kurzen Moment wünschte sie sich die Pädagogik früherer Jahre zurück. Als man einfach nach einem Stock griff und sich dadurch Respekt verschaffte. Wer nicht hören will, muss fühlen. Damals hatte man gehört!

Was denk ich bloß für einen Blödsinn, ging es ihr durch den Kopf. Als ob man die Zeit zurückdrehen könnte.

»Gut, dann lesen wir jetzt einige Dialoge. Vielleicht wird euch da manches klarer. Tobias, du bist der Tambourmajor. Sven ist der Hauptmann, Nayla liest die Marie. Und du, Sebastian, bist der Woyzeck.« Sie verteilte sämtliche Rollen aus dem Stück.

Die meisten der angesprochenen Schüler murrten. Schließlich begannen sie, auf äußerst gelangweilte Weise ihren jeweiligen Text herunterzuleiern.

Henrike hörte der Litanei eine Weile zu. Als Sven den Satz des Hauptmanns stotterte: »Es wird mir ganz angst um die Welt, wenn ich an die Ewigkeit denke«, reichte es ihr.

»Och, Leute!«, rief sie genervt aus. »Das klingt ja grauenhaft.« Sie wiederholte den Absatz in einer angemessenen Intonation. »So, und jetzt erzählt euch Denise, worum es in diesem Stück geht.«

Nachdem Denise den Inhalt strukturiert und treffend wiedergegeben hatte, entspann sich eine lebhafte Diskussion.

»Der Woyzeck ist eifersüchtig auf den Tambourmajor«, sagte jemand. »Deshalb ermordet der später die Marie.« – »Der ist doch nicht ganz klar im Kopf, das merkt man daran, dass der Stimmen hört.« – »Auf dem trampeln alle herum.« – »Was soll das eigentlich mit den Erbsen? Hab ich nicht verstanden.« – »Na, der gibt sich doch als Versuchskaninchen her. Auf so ne blöde Idee muss man erst mal kommen.« – »Vielleicht kommt man auf solche Ideen, wenn man arm ist und kein Geld hat!« – »Also ich hab immer noch nicht richtig verstanden, warum der die Marie umgebracht hat. Und nicht den Tambourmajor oder den Doktor.«

Henrike war erstaunt. Sogar Maik und Luis hatten sich an der lebhaften Diskussion beteiligt. Auch Vanessa, das Alphaweibchen mit der honigblonden Mähne und dem lässigen Outfit, die gern im Schulhof die lautstarke Anführerin herauskehrte, aber im Unterricht eher mit Schweigsamkeit glänzte, hatte einen Beitrag geleistet, der noch nicht mal so verkehrt war.

Mit einem Mal war es still. Alle Augen waren auf Henrike gerichtet.

»Sehr gut!«, nickte sie anerkennend. »Ich glaube, ihr habt verstanden, dass Woyzeck nicht einfach mal so die Marie umgebracht hat, sondern dass seiner Tat ein vielschichtiger Prozess vorausgegangen ist.«

»Sie meinen also, ein Mord sei zu entschuldigen? Weil die anderen dran schuld sind?« Nayla hatte diese Frage gestellt. So wie sie sie anschaute, war sie wirklich an ihrer Antwort interessiert.

»Das ist nicht so einfach zu beantworten. Was wir hier im Unterricht tun, ist die Tat vom Ende her beurteilen. Und das, was dazu führte, herauszuarbeiten. Und da gibt uns Büchner einiges an die Hand.«

Sie freute sich über die Lebhaftigkeit ihrer vorher so trägen Schüler.

»Das nächste Mal schauen wir uns genauer die Sache mit dem medizinischen Experiment an.« Sie klappte das gelbe Reclam-Heftchen zu. Wenn die Schüler dann genauso gut mitarbeiteten, konnte sie sich auf die nächste Stunde freuen.

Ein Gedanke kam plötzlich wie aus dem Nichts angeflogen: Sie ertappte sich dabei, dass sie sich fragte, wie sich wohl ein Leben ohne Martin anfühlte.

Versehrte Seelen

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