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ОглавлениеBonn, Hollsteinkolleg
4. Kapitel
Das Gespräch mit Paul Behrends ging Henrike Leipold nicht mehr aus dem Kopf. Erziehungswissenschaften und Psychologie habe er studiert und schreibe gerade an seiner Doktorarbeit. Nun benötige er ihre Hilfe. Sie sei doch Lehrerin für Geschichte.
»Hauptsächlich für Deutsch«, hatte sie geantwortet, »und ja, auch für Geschichte. Aber nur im Nebenfach.«
Es ginge um das Thema Heimerziehung. Ungefähr ab dem zweiten Weltkrieg bis in die Anfänge der siebziger Jahre.
Krieg und Nachkriegszeit. Das erschien ihr eine große und unterschiedlich geprägte Zeitspanne für eine Doktorarbeit. »Ich wüsste jetzt nicht, wie ich Ihnen da helfen könnte«, hatte sie etwas ratlos eingeworfen.
»Meine Recherchen haben ergeben, dass es dazu in Ihrer Schule höchstwahrscheinlich Unterlagen gibt.«
»Was für Unterlagen denn? Und warum wenden Sie sich nicht an den Direktor?«, hatte sie überrascht und gleichzeitig etwas abwehrend geantwortet.
Er habe bereits mit dem Direktor gesprochen, versicherte Paul Behrends. »Herr Novak blockt jedes Mal ab und zeigt kein großes Interesse, Licht in diese dunkle Angelegenheit zu bringen.« Obwohl er bereits mehrmals nachgehakt habe, sei er immer wieder vertröstet worden. Deshalb wende er sich jetzt an sie.
Henrike war erst seit einem Jahr Lehrerin am Hollsteinkolleg, ihr war bekannt, dass das Internat auf eine lange und nicht ganz lineare Geschichte zurückblickte. Doch Genaueres dazu wusste sie nicht.
»Ihr Haus hat eine sehr große Bedeutung für meine Recherchen«, sagte der Student eindringlich. »Es war eines der wenigen Kinderheime, das den Krieg unbeschadet überstanden hat.«
»Es ist immer ein christliches Haus gewesen, das früher von Diakonissen geleitet wurde«, sagte sie. »Was wollen Sie denn herausfinden?«
»Nun. Es geht darum, die Rolle der Heime im Kriegs- und Nachkriegs-Deutschland zu untersuchen«, begann er zu erläutern. »Was dort die Regel war, wurde lange Zeit als ein Randphänomen angesehen, nicht weiter bemerkenswert. Aber da liegt einiges im Argen. Das will ich in meiner Dissertation herausarbeiten.«
»Also, dass in unserem Haus was nicht mit rechten Dingen zuging, wie Sie andeuten, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen«, hatte sie widersprochen. »Das hätte man doch längst herausgefunden. Ständig hört man von runden und eckigen Tischen zu diesem Thema.« Ein leidiges Thema, gewiss. Das man nur allzu lange negiert hatte. Doch erst kürzlich hatte sie von einer Studie gehört, die die Kirche selbst in Auftrag gegeben hatte. An einem katholischen Internat in der Eifel waren über Jahrzehnte hinweg Jungen gequält und missbraucht worden. Doch der Kölner Kardinal war nicht auf Abwehrhaltung gegangen, sondern hatte sich schockiert und bestürzt gezeigt. Man werde alles daransetzen, die Vorfälle lückenlos aufzuarbeiten, hatte er erklärt. Die Opfer waren in aller Form um Vergebung gebeten worden.
»Was wissen Sie denn von der Vergangenheit Ihres Hauses?«, fragte Behrends.
»Nun … äh …«
»Sehen Sie. Wahrscheinlich hat man Ihnen gesagt, dass die kirchliche Leitung des Heims die Garantie dafür bot, bei Ihnen sei alles bestens gewesen. Dieses Argument höre ich leider immer öfter.«
Oh nein, hoffentlich war das nicht so ein Spinner und Quertreiber, die überall nach Ungemach suchten. »Und das Bewusstsein hierfür möchten Sie ändern?« Sie merkte, dass ihre Stimme leicht spöttisch klang. Was ihr augenblicklich leid tat. Aber der Student machte einen reichlich missionarischen Eindruck auf sie. Vielleicht hätte er besser Theologie studieren sollen.
»Ich kann Ihnen versichern, dass ich fast täglich auf Ungeheuerliches stoße. Die Rolle der Kinderheime ist noch lange nicht aufgearbeitet. Auch nicht mehr als siebzig Jahre nach dem Krieg«, sagte er. »Wie heikel das Thema immer noch ist, merkt man ja auch an der Reaktion Ihres Direktors.«
»Und was erwarten Sie von mir?«, fragte sie leicht ungehalten.
»Nun, was ich bis jetzt herausgefunden habe, ist ziemlich schlimm. Und ich nehme mal an, Ihr Direktor möchte ungern an das erinnert werden, was seine Schule mit der damaligen Zeit verbindet. Wie so viele in seiner Lage, leider. Dabei können wir doch nur aus unserer Vergangenheit lernen und es nützt niemandem, wenn wir sie verleugnen.«
»Was meinen Sie denn konkret?«, fragte sie irritiert.
Er zögerte einen Moment. »Ich habe unter anderem herausgefunden, dass mit ziemlicher Sicherheit während des Krieges im Hollsteinhof Tötungen im Rahmen der ›Aktion T4‹ durchgeführt wurden.«
»Was sagen Sie da?«, rief sie entsetzt aus. Ihr Herz begann Blut in ihr Hirn zu pumpen. Der Zeit des Nationalsozialismus mit all seinen Grausamkeiten und Auswüchsen hatte sie sich während des Studiums in besonderem Maße gewidmet. So auch der »Aktion T4«, wie die Nazis ihr »Euthanasieprogramm« bezeichneten, diese unvorstellbare systematische Ausrottung so genannten »unwerten Lebens«. All dies war jedoch sehr weit weg gewesen, war theoretisches Wissen, das an einen anderen Ort und in eine andere Zeit gehörte. Und nun sollte dies so nah gerückt sein, dass sie sich an einem Ort befand, wo solche Verbrechen ausgeführt wurden? Sie konnte es nicht fassen.
»Hauptsächlich war der Hollsteinhof eine so genannte Zwischenanstalt. Die meisten Kinder wurden in die Tötungsanstalt Hadamar weiter transportiert, da war dann Endstation. Aber es gibt Hinweise, dass auch an Ort und Stelle getötet worden ist. Dazu genügte ein Giftcocktail aus Hustensaft und Luminal. Das zumindest haben meine Recherchen ergeben. Als Todesursache wurde dann Lungenentzündung oder sowas Ähnliches angegeben.« Er hielt einen Moment inne. »Sie wussten nichts davon?«
»Nein. Und ich kann das auch nicht glauben. Unsere Schule ist sehr modern …«
»Heute ja«, fiel er ihr ins Wort. »Doch das war nun mal nicht immer so. Aber nicht die Kriegsjahre sind mein eigentliches Thema, sondern die Nachkriegsjahre der so genannten Fürsorgeheime, wie der Hollsteinhof eines war. Nach dem Krieg hatte sich kaum etwas in Bezug auf die Pädagogik geändert. Noch immer lehrte man nach den Prinzipien Gehorchen und Bestrafen. Die Kinder wurden systematisch entrechtet.«
»Das mag ja sein«, räumte sie ein. »Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass dies am Hollsteinhof der Fall war. Das Heim galt als vorbildlich.«
»Sehen Sie. Deshalb wäre es doch wichtig, die Originalakten einzusehen und zu prüfen, ob meine Mutmaßungen stimmen. Und dazu bräuchte ich Ihre Hilfe.«
»Ich habe keine Ahnung, wo diese Akten lagern könnten«, rief sie aus.
»Nun, das dürfte doch nicht allzu schwer herauszufinden sein«, meinte er. »Sie sind vor Ort. Und wenn Sie Ihren Direktor danach fragen, hat das eine andere Gewichtung als wenn ich das tue. Sie können ja einfach behaupten, es handele sich um ein Schülerprojekt. Vielleicht ist er dann mitteilsamer. Wissen Sie, das Schlimme ist, dass meine Recherchen ständig dadurch behindert werden, weil Akten angeblich nicht mehr auffindbar sind. Vieles mag ja tatsächlich vernichtet worden sein, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass man meine Forschung absichtlich blockiert.«
Sie schluckte und schwieg.
»So eine schlimme Sache aufzudecken, müsste doch auch in Ihrem Sinne sein«, appellierte er an ihr Gewissen. »Und zwar möglichst, bevor jemand auf die Idee kommt, alles durch den Schredder zu jagen.«
Seitdem wurde Henrike von einer diffusen Beklommenheit beherrscht. Sie hatte viel über die Worte des Studenten nachgedacht. Hatte Bücher hervorgeholt über diese Naziaktionen, in denen Wörter wie »Menschenmaterial« und »Ballastexistenzen« vorkamen, die man »ausmerzen« müsse. Auch von »Auslöschungsakten« war die Rede. Begriffe, die zum damaligen offiziellen Sprachgebrauch gehörten und an denen sich offenbar niemand störte. Immerhin ging es hier um Menschenleben. Sie hatte redlich versucht, sich in diese Denkweise hineinzuversetzen, doch sie war immer wieder an Grenzen gestoßen.
»Euthanasie« war eine aus dem Griechischen stammende Bezeichnung und bedeutete ursprünglich einen guten, angenehmen und leichten Tod, jedoch die Nazis hatten dieses Wort für ihre Zwecke umgedeutet und ihm eine schlimme, eine furchtbare Bedeutung verliehen. Hilflose Kinder waren nach fragwürdigen Diagnosen aussortiert und getötet worden – und niemand gebot Einhalt. Gab es Schlimmeres?
Seit sie wusste, dass ihre Schule damit in irgendeiner Verbindung stand, war sie bestrebt, den Dingen weiter auf den Grund zu gehen.
Es war nicht allzu schwer gewesen, herauszufinden, dass die gesuchten Akten in einer der Kammern auf dem Dachboden zu finden sein müssten.
Sie erbat sich die Schlüssel vom Hausmeister und stieg die Treppen nach oben bis unters Dach, dorthin, wohin sich normalerweise kein Mensch verirrte. Etliche der oberen Räume standen leer. In manchen fanden sich einige ausgediente Möbelstücke. Metallbetten mit dreiteiligen, durchgelegenen und verfleckten Matratzen zeugten davon, dass hier einstmals Schlafzimmer untergebracht waren. Fadenscheinige Vorhänge hingen an Fetzen herunter. Auf wackeligen Holzschemeln standen abgeplatzte Emailleschüsseln, offenbar frühere Waschgelegenheiten. Fließend Wasser gab es hier oben nicht.
Schließlich hatte sie das Archiv gefunden.
Ein Gefühl von Unwirklichkeit umgab sie, als sie nun etwas ratlos in einem riesigen verwinkelten Raum voller verstaubter und von Spinnweben durchzogener Regale stand, die mit ausgeblichenen grauen Kartons und Schriftstücken jeglicher Art überladen waren. Durch die blinden Fenster drang ein diffuses Licht. Die Luft roch muffig. Hier oben war offensichtlich schon Jahre niemand mehr gewesen. Sie lief an Regalen voller Schuber und aufeinandergestapelter Ordner entlang und wusste nicht, wo in diesem Sammelsurium sie zu suchen anfangen sollte. Ein wenig hatte sie auch Angst davor, auf was sie da womöglich stoßen könnte.
Um sie herum tanzten Staubteilchen und sie musste husten, als sie den erstbesten Pappkarton herauszog, den Deckel öffnete und hineinsah.
Akten aus der Nachkriegszeit befanden sich darin. Eine der an den Ecken abgestoßenen beigen Meldekarten wies als Einweisungsdatum den Januar 1962 auf. Die Unterlagen aus der Nazizeit mussten folglich woanders lagern. Sie schob den Karton zurück ins Regal.
Beim genaueren Hinsehen sah sie ab und an Vermerke, die auf Jahreszahlen hindeuteten. Doch sehr geordnet schien das alles nicht zu sein. Einzelfallakten mit persönlichen Angaben und Berichten lagen neben Sammelakten, offenbar nach dem Zufallsprinzip archiviert.
Sie begann zu schwitzen. Hier auf diesem Dachboden war es unerträglich heiß. Sie ging in die Hocke und zog aus dem unteren Regalboden einen Schuber heraus. Auf dem bräunlich verblichenen Kartondeckel war mit Frakturschrift ein Name vermerkt. Staub flog auf, der in der Nase kitzelte. Sie schlug die zuoberst liegende Akte auf. Auf der ersten Seite die üblichen Nazi-Insignien: Hakenkreuz und Reichsadler. Auf bröseligem, vergilbtem Papier standen Namen, Geburtsort und Geburtsdatum eines Jungen, der 1941 geboren war. Dahinter war eine Nummer vermerkt. Als Dreijähriger war er in das Kinderheim Hollsteinhof eingewiesen worden. Kopfschüttelnd las sie einen Antrag auf Pflegschaft, der abgelehnt wurde, da das Kind geistig nicht gesund sei und als minderbegabt angesehen werden müsse. Deshalb sei es nicht vermittelbar.
Es war eine dünne Akte. Als Todesdatum war der 14. April 1944 vermerkt. Todesursache: »Lungenentzündung«. Er war auf der Krankenstation des Heims verstorben.
Sie nahm eine weitere Akte zur Hand. Dieser Junge war bei seiner Einweisung etwas älter gewesen. Auf dünnen Durchschlägen mit der Schreibmaschine getippt wurde über die Entwicklung des Kindes und angeordnete Erziehungsmaßnahmen berichtet. Von Umerziehung war die Rede und von einem angeforderten Ariernachweis. Dazwischen viel handgeschriebener Schriftverkehr. Gestorben war er im Mai 1944. Auch seine Todesursache lautete »Lungenentzündung«. Ähnliches fand sich auch in den anderen Akten, die sie durchblätterte.
Ihre Kehle wurde eng. Der Student hatte die Wahrheit gesagt! Aber Beweise für herbeigeführte Tötungen fanden sich nicht.
Ein muffiger Geruch entströmte all diesen Akten, die sie nacheinander aufschlug. Zusammengepappte, vom Alter verkrustete Seiten trennte sie vorsichtig voneinander. Manche Blätter trugen deutliche Spuren von Silberfischchen.
Sie suchte weiter, las Namen und persönliche Angaben der sogenannten Zöglinge oder Pfleglinge. Jeweils mit Aktenzeichen versehen. Da waren neben Amtsschreiben im schönsten Bürokratendeutsch Meldekarten, Geburtsurkunden und auch schulische Unterlagen abgeheftet.
Überall stieß sie auf ähnliche Beschreibungen und Vermerke. Auffallend oft las sie Worte wie »Aussonderung«, »lebensunwert«, »unbildbar«, »arbeitsscheu«. Ab und an war »angeborener Schwachsinn« vermerkt.
Furchtbar, diese Sprache. Und so entlarvend. Ihr Unbehagen wuchs, je mehr Akten sie zur Hand nahm.
In einer Mappe befanden sich Schwarz-Weiß-Fotos mit gezackten Rändern, die das ehemalige Hauptgebäude des Hollsteinhofes zeigten, davor wehende Hakenkreuzfahnen. Eine Gruppe Jungen stand vor der hohen Mauer, die Rechte zum Hitlergruß erhoben.
Auch Broschüren und zugestaubte Bücher lagen in den Regalen.
In einer Druckschrift waren Aufnahmerichtlinien zur Vorsortierung und Erziehungsprognose von Heimkindern genannt. Psychiater wiesen darauf hin, dass Kinder und Jugendliche häufig erblich vorbelastet seien, deshalb seien im Vorfeld Diagnosen und Prognosen zu stellen, um »kindliche Psychopathen« oder »notorisch vorbelastete Schulschwänzer« auszusortieren. Diese sollten in halbgeschlossene oder ganz geschlossene Abteilungen weitergeleitet werden oder auch in eine »Idiotenanstalt«. Es gelte »durch Sichten und Sieben« die »erbgesunden« herauszufiltern und die anderen in entsprechend dafür geeignete Heime einzuweisen.
Sie richtete sich auf. Ihr Rücken tat weh. Ihre Augen brannten. Das T-Shirt klebte an ihrem Körper, ihre Kehle war gereizt und sie musste ständig husten. Doch offenbar hatte sie gefunden, wonach der Student suchte. Hier lagen die Nachweise für seine Vermutungen. Aber wie sollte sie all diese Unterlagen sichten? Das konnte sie unmöglich allein schaffen. Vielleicht sollte sie tatsächlich ein Projekt daraus machen. Sie würde es sich nochmal durch den Kopf gehen lassen. Diese Vergangenheit musste aufgearbeitet werden. Unbedingt.