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Bonn, Venusberg

3. Kapitel

Mühsam setzte die alte Dame einen Fuß vor den anderen. Keuchte. Stieg Stufe um Stufe die Treppe hinauf. Sicher, sie hätte den Aufzug nehmen können. Doch sie mied ihn, so lange es ging. Dieser schwebende Käfig bereitete ihr Platzangst, auch wenn er eigentlich eine Erleichterung sein sollte. Doch sie fürchtete stets, die Tür könne sich nicht mehr öffnen und sie wäre eingesperrt wie damals im Bunker. Außerdem wollte sie in Bewegung bleiben. So verordnete sie sich selbst Treppenstufengehen, auch wenn ihr dies zunehmend schwerer fiel.

Die Dame mit den weißen ondulierten Löckchen trug eine Seidenbluse mit gebundener Schleife, einen dunklen Rock und nicht ganz passende braune Schnürschuhe. Ihre Füße hatten sich im Lauf der Jahre verformt. Angefangen hatte dies mit viel zu kleinen Schuhen im Krieg, als man alles verloren hatte und nahm, was andere übrig ließen. Und sich auch noch dankbar dafür erweisen musste.

Einige Orthopäden hatten sich an ihr abgearbeitet. Doch Füße, die sich im Kindesalter verformt hatten, wurden nie mehr so wie sie sein sollten. Auch wenn man sie zu richten versuchte. Das kann man auch auf den Charakter übertragen, dachte sie oft, wenn sie heutigen Kindern begegnete. So ohne Respekt vor dem Alter. Ohne Rücksicht. Und mit einer Ausdrucksweise, die einem die Röte ins Gesicht trieb. Ganz anders als wir früher waren. Wir haben gehorcht und gekuscht. So verkehrt war das nicht, wie uns das alle einreden wollen. Wir wussten wenigstens, was sich gehört.

Nur noch zwei Stufen. Dennoch verharrte sie einen Moment. Sie atmete schwer. Sie musste zugeben, dass das Treppensteigen ihr unsägliche Mühe bereitete. Vielleicht sollte sie ihre Angst überwinden und doch den Aufzug benutzen. Wenigstens ab und zu.

Von oben kamen leichte Schritte die Treppe herunter. Eine junge Frau im luftigen Sommerkleid tänzelte ihr entgegen. »Hallo Frau Schellenbrink.«

Sie grüßte höflich zurück. Der Name der jungen Hausbewohnerin, die noch nicht allzu lange hier wohnte, fiel ihr nicht auf Anhieb ein.

Die junge Frau blieb auf dem Treppenabsatz stehen. »Also, jetzt sagen Sie mal ehrlich, das ist doch nicht mehr normal, wie das hier stinkt.«

»Wie bitte?«

»Hier stinkt’s bestialisch.« Die junge Frau deutete auf die Wohnungstür von Herrn Blankenhain.

»Also, ich rieche nichts.«

»Wirklich nicht?« Ungläubiger Gesichtsausdruck. Die junge Frau schluckte. Suchte nach einem Taschentuch, drückte es auf die Nase. »Das kann man nicht mehr aushalten. So schlimm ist das. Und Sie riechen wirklich gar nichts?«

Die ältere Dame zierte sich ein wenig. Sie dachte daran, wie ihre fünfzehnjährige Enkelin, die sie in vielem nicht mehr verstand, letztens respektlos geäußert hatte: Also bei dir stinkt’s vielleicht, Oma. Das war ihr furchtbar unangenehm gewesen.

»Haben Sie den Herrn Blankenhain in den letzten Tagen gesehen?«, fragte die junge Frau.

Ach ja, Heribert. Sie hatte sich schon öfter gefragt, weshalb er sich so rar machte. Im Alter sollte man doch zusammenhalten. Schließlich war niemand davor gefeit, alt zu werden. Auch wenn er so tat, als könne er noch immer Bäume ausreißen.

Frau Schellenbrink schüttelte den Kopf. »Er ist nicht mehr besonders gesellig. Früher ja, da blieb er immer mal stehen für ein Schwätzchen. Aber in letzter Zeit …« Das Alter veränderte die Menschen. Sie wusste schließlich, wovon sie sprach. »Womöglich hat er nur vergessen zu lüften«, meinte sie halbherzig.

»Also ungelüftet riecht anders«, erwiderte die junge Frau und blickte vielsagend.

»Sie meinen doch nicht …?« Frau Schellenbrink schlug entsetzt die Hand vor den Mund.

»Ich denke, da sollte sich mal einer kümmern.«

»Sie glauben …?« Frau Schellenbrink wagte nicht weiterzusprechen. Blitzartig fielen ihr Schlagzeilen ein, die von älteren Menschen berichteten, die tagelang, gar wochenlang tot in ihrer Wohnung lagen, ohne dass es jemand bemerkte. Und sie dachte an den anklagenden Tenor solcher Artikel: Unsere Gesellschaft droht zu vereinsamen. Niemand kümmert sich mehr um die Alten und Alleinlebenden.

Aber nein, nicht in ihrem Haus. Da passierte so etwas nicht. In ihrem Haus achtete man aufeinander.

»Haben Sie denn schon mal bei ihm geklingelt?«, stammelte sie.

»Geklingelt. Geklopft. Da tut sich nix. Ich ruf jetzt die 110.«

Versehrte Seelen

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