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Kapitel 5

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David Parker staunte nicht schlecht über die neuen Karriereambitionen seiner Pressechefin Sophie Lackmann. Er hatte sie von Anfang an für eine äußerst fähige Mitarbeiterin gehalten, doch die Affäre mit Felix Northeim hatte ihm zu denken gegeben. Er wußte von fast jedem seiner Angestellten aus der großen Gene-Dream-Gemeinde, was sich privat abspielte. Man mußte ja immer auf dem laufenden sein! Bei Sophie Lackmann und Felix Northeim hatte er stets befürchtet, in einer schwachen Stunde würden Betriebsgeheimnisse ausgeplaudert. Es wäre ja nicht das erstemal, daß im Bett heikle Informationen im Rausch der Hormone den Besitzer wechselten. Deshalb hatte er Sophie in letzter Zeit manchmal bewußt über einige Entwicklungen bei Gene Dream im unklaren gelassen. Professor Felix Northeim war ein wichtiger Mann für die Firma. Er testete oftmals als erster neue Anwendungen von gentechnisch hergestellten Produkten in Deutschland und besaß extrem gute Verbindungen zu anderen Pharmafirmen. Zudem galt seine Meinung auch im Ausland etwas. Da war Vorsicht geboten.

David Parker hatte das Northeim-Lackmann-Problem ausführlich mit Bodo Mertens, dem hauseigenen Patentanwalt, besprochen. Er wußte, wie gut sich Bodo und Sophie verstanden. Bodo hatte ihm zwar immer wieder versichert, daß Sophie Lackmann absolut vertrauenswürdig sei, aber sicher konnte man bei Frauen nie sein. Das war David Parkers unumstößliche Meinung, die durch seine Scheidung vor einigen Jahren nur noch gefestigt worden war.

Deshalb verzog der Herr über hundertfünfzig Mitarbeiter auch nur kurz den Mundwinkel, als ihm Sophie, wie immer bis aufs I-Tüpfelchen gestylt im dunkelblauen Kostüm mit heller Seidenweste, von ihrer Idee mit Walnut Creek erzählte. Er versprach, es sich zu überlegen und verabredete sich abends mit Bodo, um die Lage zu checken. Der klärte ihn über die neue Entwicklung auf. Natürlich erzählte er nicht, daß Sophie ein Kind wollte, aber immerhin, daß es definitiv aus sei zwischen der Pressesprecherin und dem prominenten Chefarzt.

Parker ließ Sophie noch zwei Wochen zappeln und teilte ihr erst Mitte November mit, nachdem der ›Tag der offenen Tür‹ bei Gene Dream gut über die Bühne gegangen war, daß er sich mit ihrer USA-Idee durchaus anfreunden könnte. Etwa fünfhundert Gäste, Schulklassen, Studenten, Politiker, Journalisten, auch Hausfrauen und Rentner, hatten sich, wie in jedem Jahr am ›Tag der offenen Tür‹, alle Labors ansehen und Fragen stellen dürfen. »Eine wichtige jährliche vertrauensbildende Maßnahme im gentechnikfeindlichen Deutschland«, mit diesen Worten hatte Parker auch in diesem Jahr für das Großereignis geworben. Bei den Mitarbeitern hielt sich die Freude in Grenzen, denn das Spektakel bedeutete zusätzliche Arbeit, die Parker natürlich nicht zu honorieren gedachte. Für Sophie hieß es, einen Tag lang unwillige Forscher zu beruhigen, tausend Hände zu schütteln, unzählige Fragen zu beantworten. Sie machte drei Kreuze, als der Tag vorbei war. Dann rief Parker sie um sieben Uhr abends, als der letzte Besucher die Tür hinter sich zugemacht hatte, zu sich ins Büro.

»Frau Lackmann, das mit Kalifornien geht in Ordnung, aber erst ab Mai. Bis dahin gibt es hier noch gut zu tun. Außerdem müssen Sie Ihre Vertretung einarbeiten.«

»Ohh, danke ... Herr Parker, das ist ja klasse.« Sophie atmete tief durch. Das wäre geschafft. Ihr Herz machte innerlich einen Freudenhüpfer. Ihr Plan schien zu funktionieren.

»Und mit der Vertretung, kein Problem ... ähh, an wen hatten Sie denn da gedacht?«

»Ich dachte an Claire Cortez.«

Sophie erschrak. Die Cortez war sehr wohl ein Problem. »Sicher, Herr Parker, das läßt sich einrichten«, stammelte sie.

»Sagen Sie doch mal«, fuhr Parker fort und lehnte sich genüßlich nach hinten in seinen breiten Ledersessel, »warum bewerten Sie denn plötzlich meinen Vorschlag, nach Walnut Creek zu gehen, so positiv? Ich hatte es Ihnen doch bereits im Frühjahr selbst vorgeschlagen.«

Jetzt galt es, Ruhe zu bewahren.

»Ich habe darüber nachgedacht, und es erscheint mir jetzt als der richtige Schritt, um weiterzukommen. Wissen Sie, meine Mutter war krank, und deshalb wollte ich damals nicht zwei Monate in den USA sein. Aber jetzt ist alles in Ordnung. Mich interessiert einfach, wie die Organisation mit der US-Firmen-Zeitschrift, die alle zwei Monate erscheint, klappt. Vielleicht könnten wir etwas Ähnliches auch für Deutschland oder Europa überlegen.« Sophie hatte geschickt reagiert. Gleich auf ein anderes Thema lenken, das war bei Parker immer die beste Strategie.

»Ja, ja, keine schlechte Idee«, murmelte Parker. »Und Ihrer Mutter geht es jetzt besser? Na gut, schöne Grüße! Aber Ihnen ist doch wohl klar, daß wir für eine eigene europäische Firmenpostille mit Hochglanzfotos einen Sponsor brauchen. Mehr Geld kann ich für die Pressestelle keinesfalls bewilligen, Frau Lackmann. Sie liegen in diesem Monat sowieso 20 Prozent über Ihrem Budget.«

Parker atmete tief durch und stand auf, um zu signalisieren, daß das Gespräch beendet sei. »Also gut, ich habe Deborah Meyers informiert, und sie freut sich darauf, Sie wiederzusehen. Bis dann.«

Sophie konnte gehen. Den dezenten Vorwurf überhörte Sophie geflissentlich. Sie freute sich zu sehr. Schade nur, daß Parker schon mit Deborah gesprochen hatte. Zu gerne hätte sie es ihr selbst erzählt. Aber Parker behielt eben gern die Fäden in der Hand. Sie bemühte sich um ein verbindliches Lächeln und verschwand. Mit Parker war sie in all den Jahren nie richtig warmgeworden. Während sich die meisten Mitarbeiter bei Gene Dream duzten, so wie in Amerika üblich, blieb es zwischen Sophie Lackmann und David Parker immer beim ›Sie‹. Die Sache mit Claire Cortez paßte ihr überhaupt nicht, und am liebsten wäre sie auch schon im Januar nach Kalifornien gegangen, aber sie wollte Parker nicht unnötig mißtrauisch machen. Schließlich war ein sicherer Job für sie im nächsten Jahr so wichtig wie noch nie. Mit Kind würde sie auf Parker angewiesen sein.

Claire Cortez, in Frankreich geboren und aufgewachsen, war eine von Sophies Assistentinnen und vor einem Jahr bei Gene Dream eingestiegen. Eine verdammt kluge Mitarbeiterin, die sicher das Zeug zu mehr hatte. Allerdings war sie erst sechsundzwanzig und hatte beileibe noch nicht genügend Erfahrung mit Journalisten. Welchen man auch mal ein Wort mehr sagen konnte, als offiziell genehmigt war, welche man von vornherein abwimmeln mußte und wo sogar listige Tạktik angesagt war, das mußte sie erst noch lernen. Aber Claire sprach natürlich perfekt französisch, zudem spanisch, weil ihr Vater, so meinte sich Sophie erinnern zu können, Spanier war. Das war Sophie nur recht. Dafür sprach Claire Cortez ein grauenhaftes Englisch.

Trotzdem, Claire war der Typ ›Karrieresesselsäger‹ und zudem latent stutenbissig. Neben ihr kam keine andere Frau gut weg. Sie konnte perfekte Intrigen schmieden und verstand es ausgezeichnet, sich bei Parker beliebt zu machen. Für ein gutes Teamwork mit Frauen hatte Claire dagegen nichts übrig. Nur Sophie mußte sie bislang als Autorität anerkennen. Und das hatte auch gut funktioniert. Doch zwei Monate freie Hand würden der Cortez mächtigen Aufwind geben. Das war klar.

Immerhin konnte Sophie jetzt konkret mit der Planung für ihren ›Schwangerschaftstrip‹, wie sie die USA-Reise insgeheim nannte, beginnen. Die nächsten Monate würden wahrlich nicht langweilig werden. Erstens mußte die Zeit in der Mutterzentrale von Gene Dream organisiert werden – Sophie wollte ja tatsächlich ihr Knowhow erweitern –, und zweitens würde sie, wenn alles klappte, schwanger zurückkehren. Auch dafür mußten Vorbereitungen getroffen werden. Sie mußte sich überlegen, wie sie ihren Job organisieren wollte, was sie der Familie erzählen sollte, und außerdem mußte sie sicher die Cortez im Auge behalten. Doch jetzt stand erst mal Weihnachten vor der Tür.

Gerade als Sophie am 23. Dezember ihre Geschenke für die Familie liebevoll in knallrotes Weihnachtspapier mit grünen Schleifen verpacken wollte, klingelte es. Ein Bote kam mit einem Eilpäckchen. Absender: Frauenklinik Düsseldorf. Zitternd riß Sophie den Karton auf und hielt dann inne. Nein, sie wollte das Päckchen am Heiligabend allein in ihrem ehemaligen Mädchenzimmer zu Hause aufmachen – mit einem Glas Champagner, wenn unten die Bescherung mit der Familie vorbei wäre. Ein Geschenk von Felix, von ihrem Felix. Er hatte sie also doch nicht vergessen! Sophie erschrak über sich selbst, wie schnell sie in ihren Gedanken immer wieder bei Felix war, immer wieder bei der Frage ›Warum hatte es so kommen müssen?‹

Ihr war für Felix partout kein Geschenk eingefallen, und deshalb hatte sie bereits vor Tagen beschlossen, daß er eben in diesem Jahr kein Geschenk bekommen würde. Das war ja auch nur gerecht. Sie hatten sich getrennt und seit Oktober nur zweimal miteinander telefoniert. Einmal hatte Sophie angerufen, einmal Felix. Vordergründig ging es dabei um eine Veranstaltung an der Frauenklinik und die Absprachen über den Ablauf der einzelnen Reden.

Jetzt mußte sie sich aber sputen, um doch noch ein kleines Geschenk für Felix zu besorgen. Das war klar. Fast glücklich stürmte sie die Treppen hinunter und versuchte zehn Minuten lang krampfhaft ein Taxi in die Innenstadt zu erwischen. Doch am Tag vor Heiligabend war Hochbetrieb, außerdem lag ein grauer Schneematsch auf den Straßen, und offenbar hatte es jeder Düsseldorfer darauf angelegt, heute mit dem Taxi zu fahren. Also blieb ihr nur die Straßenbahn. Das konnte knapp werden. Als sie bei ihrem Lieblingsjuwelier ankam, war es gerade zehn vor acht, und die zwei Verkäuferinnen schauten nicht gerade begeistert, als Sophie hereinstürmte. Klar, die wollten auch Feierabend machen. Aber Sophie wußte genau, was sie wollte. Eine Krawattennadel aus Platin und Gold würde Felix sicher gefallen. Das schöne Schmuckstück hatte seinen Preis, doch Sophie zuckte mit keiner Wimper, als sie den Scheck über 690 Mark ausstellte. Es dauerte eine halbe Stunde zu Fuß bis zur Hauptpost, die bis neun Uhr abends geöffnet hatte. Per Eilpost würde das Päckchen am nächsten Morgen in der Klinik sein. Mit dem deutlichen Vermerk ›persönlich‹ bestand keine Gefahr, daß Felix’ Sekretärin das Päckchen öffnen würde. Sophie wußte, daß er am 24. noch in der Klinik arbeiten mußte. Darüber hatte er sich während des letzten Telefonats bitter beklagt. Hansemann hatte in diesem Jahr auf einen Weihnachtsurlaub bestanden, und deshalb mußte er wohl oder übel erreichbar bleiben. Babys wurden auch an Weihnachten geboren. Da mußte er als Chef der Klinik Gewehr bei Fuß stehen.

Aufgewühlt fuhr Sophie mit dem Taxi zurück in die Berliner Straße nach Oberkassel. Jetzt ein heißes Bad. Das würde sie beruhigen. Und dann ab ins Bett. Sie stellte sich genüßlich vor, wie Felix am nächsten Tag die Krawattennadel auspacken würde und sie sein Geschenk. Welche Überraschung mochte er sich wohl für sie ausgedacht haben?

Gegen zwei Uhr am 24. Dezember war Sophies kleiner Fiat vollgepackt mit Geschenken, und sie machte sich auf den Weg nach Duisburg zum Lackmannschen Reihenhaus in der Nähe des Botanischen Gartens. Ein schmuckes Häuschen mit roten Klinkersteinen, nicht zu auffällig, aber auch nicht schäbig. Genau richtig für Duisburg. Ein kleiner Vorgarten, links die niedrige Buchsbaumhecke, daneben die Auffahrt zur Garage. Das Dachgeschoß hatten Sophies Eltern vor einigen Jahren als Gästezimmer ausgebaut. Das hatte sich Peter sofort unter den Nagel gerissen und war aus dem ehemaligen gemeinsamen Kinderzimmer ausgezogen. Er übernachtete zwar so gut wie nie bei seinen Eltern, aber in dem großzügigen Gästezimmer stapelte er jetzt seine gesammelten Asterix-und-Obelix-Hefte.

Normalerweise fuhr Sophie eine gute halbe Stunde zu ihren Eltern, aber heute bei dem schrecklichen Eisregen und dem vielen Verkehr, kam sie erst nach drei zu Hause an. Mit einer Mischung aus Traurigkeit, Angst und Vorfreude auf das Geschenk von Felix klingelte Sophie bei ihren Eltern. Das von ihrer Mutter handbemalte Keramikschild prangte groß über der Messingklingel. ›Familie Lackmann‹ stand dort in Schnörkelschrift, umrandet mit Blümchen. Damit jeder sehen konnte: In diesem Haus war die Welt in Ordnung.

Heiligabend traf sich die gesamte Familie Lackmann traditionell in Duisburg im Haus von Sophies Eltern: ihre Mutter Elisabeth, ihr Vater Kurt, mittlerweile pensioniert, ihr Bruder Peter, Tante Billie und natürlich Sophie.

In ihren kühnsten Träumen hatte Sophie noch vor wenigen Monaten gehofft, am Heiligabend endlich ihren Felix als zukünftigen Schwiegersohn präsentieren zu können. Das erste gemeinsame Weihnachtsfest! Im vergangenen Jahr hatte Felix natürlich mit seiner Frau in trauter Zweisamkeit unter dem Tannenbaum gesessen. Auch die Tatsache, daß er dreimal anrief, um Sophie mit tausend Schwüren zu beteuern, wie gerne er jetzt bei ihr wäre und wie sehr er sie vermißte, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie alleine bei ihrer Familie das Weihnachtsfest feiern mußte. Hinzu kam, daß er gleich am zweiten Weihnachtstag mit seiner Gattin Elke in die Schweiz zum Skifahren gereist war, was er Sophie genau zehn Stunden vorher kleinlaut mitgeteilt hatte. Nein, das letzte Weihnachtsfest war ein komplettes Desaster gewesen. Daß sie sich in diesem Jahr soviel besser fühlen würde, bezweifelte Sophie. Sie war zwar froh, eine Entscheidung getroffen zu haben, aber es machte sie dennoch nervös, auf die Umsetzung noch bis Mai warten zu müssen. Da blieb Zeit zum Nachdenken. Immer wieder qualvolle Gedanken.

Sophies Mutter öffnete die Tür mit einem vorwurfsvollen Blick. Sophie kam immerhin eine Stunde später als angekündigt.

»Kannst du nie pünktlich sein, Kind? Noch nicht einmal am Heiligen Abend?«

»Die Straßenverhältnisse sind nicht gerade optimal, Mutter«, bemühte sich Sophie um eine Entschuldigung.

Sophies Mutter hatte sich alle erdenkliche Mühe gegeben, das Haus weihnachtlich zu schmücken. An der Tür hing ein Adventskranz, und im Wohnzimmer leuchteten die Kerzen von mindestens zehn silbernen Leuchtern – eine Sammlung, der Billie immer noch Respekt zollte. Ein zwei Meter hohes Nadelmonster – der ganze Stolz von Sophies Vater, der es sich nicht nehmen ließ, mit seinen achtundsechzig Jahren den Tannenbaum jedes Jahr selbst aufzustellen – stand über und über mit dunkelrotem Lametta behangen im Wintergarten.

Tante Billie stolzierte auf hohen weinroten Stöckelschuhen und in ein weinrotes Samtkleid gehüllt auf dem Parkett herum, Elisabeth trug das dunkelblaue Kostüm vom letzten Jahr, der Vater den dunkelblauen Anzug. Die beiden waren immer noch ein schönes Paar.

Tante Billie erklärte gleich bei der Begrüßung seufzend, daß ihr Karl ja eigentlich hätte mitkommen wollen, was Sophies Mutter nur mit heftigem Augenrollen kommentierte, aber leider sei er wegen einer Prostata-Geschichte im Krankenhaus. Weder ihr Vater noch ihre Mutter schienen Lust zu haben, mehr über die Umstände zu erfahren. Sie waren es leid, sich immer wieder auf einen neuen Traumprinzen von Billie einzustellen.

Wer fehlte, war mal wieder Bruderherz Peter. Der kam eigentlich meistens zu spät, in der Regel noch später als Sophie. Aber mit seinem Charme würde er wahrscheinlich eine nette Erklärung auf den Tisch zaubern, und keiner konnte richtig böse sein, selbst Elisabeth nicht. Nachdem diese bereits dreimal nervös aus dem Küchenfenster gelinst hatte, quietschten endlich die Reifen von Peters rotem Sportflitzer. Elisabeth atmete auf, wenigstens war die Familie jetzt komplett, wobei von komplett keine Rede sein konnte, ohne Schwiegersohn und Schwiegertochter, ohne Enkelkinder. Sie würde heute abend noch mal ein ernstes Wort mit den beiden reden müssen, wenigstens für Sophie war es höchste Zeit.

Dann ertönte ein spitzer Schrei aus der Küche. Peter kam nicht alleine. Im Schlepptau hatte er eine dralle Schönheit, die wie Cher in jungen Jahren aussah. Schwarz gefärbte Locken umrahmten ihr blasses Gesicht mit den schwarz ummalten Augen. Sophie erinnerte sich dunkel an die Bedienung aus dem Swimmingpool, die Peter in der denkwürdigen Samstagnacht mit Sabine und Annette angebaggert hatte. Kein Mensch hatte von dem Überraschungsgast gewußt, und die einzige, die praktisch reagierte und einen Teller zusätzlich auf dem Eßtisch drapierte, war Tante Billie. Alle anderen schauten sich verdutzt an. Peter hatte sich zur Feier des Abends einen Pferdeschwanz gebunden, was seine Mutter auf den Tod nicht ausstehen konnte. Er hatte sich in eine schwarze lässige Hose und ein stahlblaues Hemd geschmissen und sah mal wieder, objektiv betrachtet, umwerfend gut aus. Sophie hatte ein rotes Kleid angezogen, brav hochgeschlossen, aber dem Anlaß durchaus angemessen, wie sie fand. Sexy mußte sie an diesem Abend bei Gott nicht aussehen. Für wen auch?

»Hallöchen allerseits. Ich hab die Nicole mitgebracht, ne dufte Freundin.« Dabei klappste Peter ihr auf den Hintern, der in ein schwarzes Etwas mit Pailletten gepreßt war. Peter schob Nicole in die Diele.

»Schön, daß du auch schon kommst ...«, bemerkte Elisabeth hörbar spitz.

»Na klar doch, hab doch jesacht, daß ich komme. Leider, liebes Mütterchen, hatte ich noch nen echt wichtigen Kunden, der mit mir nen Fitneßplan für die Feiertage bequatschen wollte. Und außerdem«, dabei kniff er Nicole in die Backe, »mußt ich meiner süßen Weihnachtsbegleitung noch beim Anziehen helfen.«

Nicole kicherte, und jeder konnte sich denken, daß Peter nicht nur Zofendienste geleistet hatte. Dieser alte Sexprotz.

Tante Billie seufzte tief, was wohl im Gedenken an den nicht verfügbaren Karl geschah, den sie sicher auch gerne zu Anziehdiensten genötigt hätte, dachte sich Sophie. Das konnte eine feine Veranstaltung werden. Billie würde den ganzen Abend über den indisponierten Karl jammern; Peter würde vor aller Augen an Nicole herumtätscheln, die bereits verlegen grinste, und Sophie würde das Opfer von Elisabeths Wünschen für das kommende Jahr werden. Lieber Himmel! Der einzige Lichtblick war das Geschenk von Felix.

Kurt öffnete schnell die Flasche Champagner, die Sophie mitgebracht hatte, um keine weiteren Peinlichkeiten aufkommen zu lassen. Dann klingelte ihre Mutter mit einem Kristallglöckchen, so wie sie es immer getan hatte, als Peter und Sophie noch Kinder waren. Ihr Vater legte die alte Weihnachtsplatte auf und zündete die Bienenwachskerzen am Baum an. Eine feierliche Stimmung erfüllte das Lackmannsche Wohnzimmer.

Alle wünschten sich herzlich ›Frohe Weihnachten‹ und packten schnell die Geschenke aus. Elisabeth trieb ihre Gäste hysterisch zur Eile an, weil sie um ihre Gans im Ofen bangte. Alle setzten sich brav an den ovalen Eßtisch mit dem weißen Damasttischtuch. Wie mit dem Lineal abgemessen war für jeden das gute Silberbesteck aufgelegt. Steifgestärkte weiße Servietten, die guten Kristallgläser mit dem Goldrand und goldene Engelchen vor jedem Gedeck machten die Weihnachtstafel perfekt.

»Ach, wenn Karl nur hier wäre«, ereiferte sich Tante Billie, »wie würde er sich freuen. Es ist wirklich Pech ...«

»Billie, gegen Krankheiten kann man nichts machen«, fuhr ihr Elisabeth über den Mund, »außerdem muß man in dem Alter mit allem rechnen.«

»Karl ist im besten Mannesalter ...«, entrüstete sich Tante Billie und verstummte. Sie fühlte sich verlassen innerhalb dieser zur Schau gestellten Familienidylle. Ihr Bruder und ihre Schwägerin hatten noch nie viel Verständnis für sie aufgebracht. Sie waren ja auch seit ewigen Zeiten miteinander verheiratet, machten immer auf heile Welt, dabei wußte Billie ganz genau, wie sehr ihr Bruder manchmal unter seiner Frau litt.

»Dir ist doch sowieso viel lieber, daß Karl heute nicht mitkommen konnte. Gib es doch zu!« warf Tante Billie ihrer Schwägerin an den Kopf.

»Karl, Egon, Heinrich oder wie sie alle heißen, mir ist schon lange egal, wen du als deine Begleitung betrachtest. Aber der Heiligabend ist ein Familienfest. Was sollen unsere Nachbarn denken?« entgegnete Sophies Mutter wie aus der Pistole geschossen.

Sie hatte wirklich nur im Sinn, was die anderen dachten. Tante Billie kochte vor Wut.

»Elisabeth, nun laß doch gut sein«, versuchte Vater Lackmann seine Frau zu beruhigen. »Billie, du kannst doch mit Karl mal zu Besuch kommen, wenn er aus dem Krankenhaus entlassen ist.«

Billie nahm das Thema dankend auf. »Kurt, stell dir nur vor, gestern haben sie einen Laser durch seine Harnröhre geschoben, um dann den Tumor zu schmelzen. Er schrumpft quasi in einer Sekunde. Eine tolle Erfindung. Gottseidank muß bei Karl jetzt keine Operation mehr gemacht werden.« Elisabeth schluckte, und wenn Blicke töten könnten, wäre Tante Billie tot umgefallen. Doch Billie ignorierte die visuelle Attacke.

»Also die Medizin ist heute wirklich weit. Gerade für etwas ältere Männer sind ja diese neuen Methoden ein Segen. Bei einer Operation besteht nämlich die Gefahr, daß die Nerven verletzt werden und man impotent wird. Wußtest du das, Kurt?« fuhr Tante Billie fort.

Sophies Vater schaute Tante Billie verständnislos an. Elisabeth stand ruckartig auf und warf dabei den Stuhl um. Sophie blickte erschrocken ihren Vater an. Tante Billie war heute zu nichts zu gebrauchen. Irgendwie hatte sie die Krankheit von Karl richtig mitgenommen. In der robusten Schale steckte offenbar doch ein ziemlich weicher Kern und ein großes Herz. Sie hing an Karl wohl mehr, als ihr selber bewußt war. Vielleicht würde aus der lockeren Tanzbekanntschaft doch noch mehr werden. Der Kummer ließ sie alle Konventionen, die im Lackmannschen Haus großgeschrieben wurden, vergessen. »Jetzt reicht’s, Brunhild«, war der einzige Kommentar von Sophies Vater.

So endete das Weihnachtsessen mit der knusprigen Gans, dem Rotkohl und den leckeren Kartoffelklößen ungewohnt still. Nur Nicki und Peter tuschelten ab und an und kniffen sich gegenseitig in die Seite. Nach dem Dessert, einer flockigen Bayerischen Creme, entschuldigte sich Sophie, mittlerweile gespannt wie ein Flitzebogen. Endlich würde sie ihr wichtigstes Geschenk auspacken: das von Felix. Ihr Highlight des Abends. Sie flitzte die Treppe hinauf in ihr altes Zimmer, während ihr Vater die Cognac-Flasche öffnete.

Felix hatte ihre Krawattennadel sicher schon ausgepackt. Er kannte ihre Schrift. Vielleicht trug er sie sogar gerade in diesem Moment.

Sobald Sophie außer Hörweite war, fragte ihre Mutter demonstrativ in die Runde: »Ist Sophie eigentlich zur Zeit liiert? Mir erzählt sie ja nichts.« Peter und Tante Billie schauten sich an. Was sollte man darauf antworten?

»Ach, Elisabeth, laß doch gut sein. Wenn es jemanden gäbe, würde sie es dir schon erzählen«, versuchte Sophies Vater die Inquisition abzubiegen. Aber seine Frau ließ sich nicht beirren.

»Sie hatte doch mal einen Professor, jemand Prominentes. Was Genaues hat mir ja niemand erzählt. Billie, du weißt doch sonst immer alles.« Tante Billie schluckte.

»Ja, ich glaub’, daraus ist nichts geworden.«

»Nein, nein, das ist vorbei«, bemerkte auch Peter.

»Wieso denn?« hakte Sophies Mutter interessiert nach.

»Ich weiß es nicht, Mutter, da mußt du sie selber fragen.«

»Selber fragen! Als ob Sophie mir jemals etwas erzählt hat. Ich war doch immer die letzte, die etwas erfahren hat.« Elisabeth redete sich in Rage. »Dabei bin ich ihre Mutter, aber man hält es ja nicht für nötig, mir ... Ich kann mir ja ruhig Sorgen machen. Schlaflose Nächte hatte ich schon! Die kann ich gar nicht mehr zählen. Aber das interessiert ja sowieso niemanden.«

Billie hatte ein wenig Mitleid – wenn auch begrenzt – mit Sophies Mutter und erbarmte sich. Sie war noch nie nachtragend gewesen. »Mach dir doch keine Sorgen, Sophie weiß, wo es lang geht. Die geht ihren Weg. Sie ist ein cleveres Mädchen.«

»Clever, wenn ich das schon höre! Mit Vierunddreißig keinen Mann, kein Kind. Was soll denn aus Sophie werden? Irgendwie ist sie heute auch so nervös. Ich spüre doch, daß da was in der Luft liegt.«

»Sie hat ihren Beruf, Mutter, mit dem ist sie verheiratet. Außerdem hat sie ja noch Achim ...« Kaum hatte Peter den Namen gesagt, hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Aber jetzt war es raus. Sozusagen ein Happen Frischfleisch, dem Löwen zum Fraß vorgeworfen.

Elisabeth stutzte. Achim. Der war doch ein Freund der Familie. Peter und Sophie kannten Achim seit Jahren. Ein angehender Mediziner, immerhin.

»Ja, warum hat sie Achim denn nicht mitgebracht, heute abend? Wir haben doch immer ein Haus der offenen Tür«, fragte Sophies Mutter in die Runde. Tante Billie biß die Zähne zusammen. So eine Unverschämtheit, Karl war ihrer Schwägerin nicht gut genug gewesen, aber Achim!

»Das ist nur so ein guter Freund, mehr nicht«, zischte Tante Billie.

»Daraus kann eine gute Ehe werden«, meinte Elisabeth mit fester Stimme, »hoffentlich will er auch Kinder, wo Sophie doch so versessen auf Babys ist?«

»Ich muß mal eben zur Toilette, Elisabeth.« Das Gespräch nahm einen ungünstigen Verlauf, und Billie zog es vor, zeitweilig zu verduften.

Daraufhin schaute Elisabeth Peter fragend an.

»Ja, also Kinder will Sophie, das steht fest«, begann Peter. »Also, ähh, Achim, tja, also ... Mensch, da fällt mir ein Witz ein, den mir Achim neulich erzählt hat ...«

»Ihr verschweigt mir doch was!« unterbrach ihn seine Mutter, aber niemand schien Lust zu haben, weiter über Sophies Liebschaften zu reden.

Das Päckchen von Felix stand auf Sophies Bett, das wie eh und je mit der geblümten Steppdecke überzogen war. Darauf lagen kunstvoll drapiert ihr zerfledderter rosa Kuschelbär Muck und Zottel, ein braunes Ungetüm, das ihr Vater vor fünfundzwanzig Jahren auf der Cranger Kirmes geschossen hatte. An der Decke hing ein Mobile aus Glasfiguren, das ihr Hansi – ihr guter Freund und Schulkamerad Hans Klein – zum siebenten Geburtstag gebastelt hatte. Es sah eigentlich immer noch so aus, als würde sie in diesem Zimmer leben, dabei waren die glücklichen Jugendtage so weit weg.

Mit zittrigen Fingern schälte Sophie das Geschenk aus dem braunen Packpapier. Alle Erinnerungen an Felix wurden schlagartig wach. Er konnte sie auch nicht vergessen, das war der Beweis! Er hatte an sie gedacht. Vielleicht würde doch noch alles gut werden. Zwei Lagen Seidenpapier umhüllten einen geheimnisvollen Gegenstand, etwa so groß wie eine Tasse. Was mochte das nur sein? Felix hatte ja immer witzige Ideen. Vielleicht eine Einladung zu einem ›Dinner for two‹, vielleicht ein außergewöhnlich verpacktes Schmuckstück?

Und dann hielt Sophie einen Keramikbecher in den Händen – weiß mit zwei kleinen rosa Schweinchen darauf. Das eine flüsterte dem anderen in einer Sprechblase zu: »Alle Männer sind Schweine!« Darauf sagte das andere Schweinchen: »Na und?« Eine Karte lag nicht dabei. Kein Gruß. Nichts. Kein sonstiges Präsent, nur diese Schweinchen-Tasse.

So geschmacklos konnte Felix doch nicht sein! Sophies Gedanken wirbelten durcheinander. Sie setzte sich fassungslos neben Muck und Zottel und starrte den Kaffeebecher an, wie einen vom Himmel gefallenen Außerirdischen. Völlig konsterniert drehte sie das so heiß ersehnte Geschenk ihres Ex-Lovers immer wieder herum. Hatte sich etwa Hansemann einen üblen Scherz mit ihr erlaubt? Sie hatte immer vermutet, daß er über sie und Felix Bescheid wußte.

Alle Männer sind Schweine? Das durfte nicht wahr sein. Ihr schössen die Tränen in die Augen. Sollte sie Felix anrufen? Sollte sie sich in ihrem Zimmer einsperren? Litt Felix an einer schleichenden Gehirnerweichung? Dann fiel ihr die Krawattennadel ein. Wie schrecklich! Sie rannte auch noch abends durch die Gegend, um ihm ein Geschenk zu kaufen, und er schenkte ihr eine geschmacklose Witztasse?

Sophie hatte das Gefühl, vor ihr tue sich ein großes schwarzes Loch auf. Die Enttäuschung war zu groß gewesen. Aber sie schwor sich, daß sie heute zum letztenmal auf diesen Felix Northeim hereingefallen war, der offenbar nichts Besseres zu tun hatte, als sich über sie lustig zu machen.

Erst nach einer halben Stunde hatte sie sich soweit beruhigt und ihr Make-up notdürftig restauriert, daß sie daran denken konnte, wieder nach unten ins Wohnzimmer zu gehen. Wie sollte sie den Rest des Abends überstehen? Die anderen würden sie sicher schon vermissen. Da klingelte ihr Handy.

Nein, es war nicht Felix wie im letzten Jahr. Auf dem Display erschien die Nummer von Sabine aus München. Philipp und Lena wollten sich artig für die Geschenke bedanken, die Sophie ihren Patenkindern bereits vor einigen Tagen nach München geschickt hatte, aber nach einem knappen ›Danke, Tante Sophie‹ flitzten die beiden wieder zurück zu ihrer Geschenkesammlung, und Sabine war am anderen Ende der Leitung.

»Frohe Weihnachten«, brachte Sophie mit Mühe und Not hervor. Aber Sabine bemerkte den traurigen Unterton nicht, sondern plapperte pausenlos von einem Goldarmband, dem Geschenk von Heinz-Herbert, und von einer Designer-Jeans, die zwar knapp sitzen würde, aber sicher genial paßte, wenn sie nach den Feiertagen einige Obsttage eingelegt hätte. Sabine redete wie ein Wasserfall und erkundigte sich nach dem Weihnachtsfest. Ob Peter auch da sei, und Tante Billie, und was Sophie denn geschenkt bekommen hätte. Sophie beantwortete alle Fragen ruhig und vermied es, an die Tasse zu denken, deren Anblick ihr fast körperlich weh tat.

»Habt ihr Achim auch eingeladen?« wollte Sabine wissen.

»Nein, wieso?«

»Na, ich dachte nur, äh, schließlich ist er doch alleine, und ihr mögt euch doch ganz gern.«

»Sabine, der wird irgendwo mit Freunden feiern.«

»Wo denn?« Sabine ließ nicht locker.

»Ich weiß nicht, wo er ist. Irgendwann hat er mir erzählt, daß er mit Freunden auf eine Skihütte fährt. Wieso fragst du denn?«

»Ach, nur so. Na, dann feier schön weiter. Tschüs.«

Damit endete das kurze Telefonat, und Sophie machte sich auf den Weg zurück in die Höhle der Löwen. Bereits auf der Treppe hörte sie das laute Lachen von Tante Billie und das helle Kichern von Nicole. Peter testete am Heiligabend offenbar seine neuesten Witze, die ihm seine Jogging-Kunden im Dutzend erzählten.

»Endlich, da biste ja wieder. Wir dachten schon, du hättes dich abgesetzt«, quittierte Peter lachend ihr Erscheinen. Er verfiel schon wieder in seinen Ruhrpott-Slang. Keinem schien aufzufallen, in welch desolater Verfassung Sophie war.

»Also wißter, warum de meisten Manta-Fahrer montags heiraten?« Peter blickte fragend in die Runde, selbstsicher schmunzelnd, weil er sicher sein konnte, daß niemand die richtige Antwort wußte. Höchstens Nicki, und die würde ihm den Spaß sicher nicht verderben.

»Na, weil montags alle Friseure zuhaben.«

Alle lachten, was einzig und allein dem guten Rotwein zuzuschreiben war. Da war sich Sophie sicher. Ihr Vater hatte zur Feier des Tages einen St. Emilion Grand Crue, Jahrgang 86, aus dem Keller geholt. Peter kamen die Worte bereits nicht mehr ganz flüssig über die Lippen. Er hatte die Leber immer schon an der Sonnenseite, was zumindest zum Teil seine permanente Ebbe im Portemonnaie erklärte. »Kennt ihr den denn schon?« fragte Tante Billie, mittlerweile auch mit leicht geröteten Wangen.

»Erzähl schon, Billiemaus«, beeilte sich Peter, sie zu ermutigen. Für einen neuen Witz war er schnell zu begeistern.

»Opa und Oma feiern goldene Hochzeit und wollen es noch mal miteinander treiben. Nach Jahren ohne Sex. Also zieht sich Oma ihr bestes Flanellnachthemd an.«

Bei diesem Satz rümpfte Billie mißbilligend die Nase. Wie konnte man nur Flanellnachthemden tragen!

»Sie wartet im Bett auf Opa, aber der kommt nicht. Sie ruft: ›Opa, wo bleibst du denn? Wir wollten es heute doch noch mal versuchen.‹ ›Warte‹, ruft Opa aus der Küche, ›ich komme gleich.‹ Oma wartet eine halbe Stunde, aber nichts passiert. Dann ruft sie ihn wieder, und er verspricht, gleich zur Stelle zur sein. Nur einen Moment Geduld müsse sie noch haben. Nach weiteren fünfzehn Minuten wird es ihr zu bunt. Sie geht in die Küche und findet Opa oben auf dem Küchenschrank sitzend. ›Was machst du da oben?‹ fragt Oma ihn erschrocken. Opa druckst ein wenig herum und meint dann trotzig: ›Du stellst doch auch immer den Pudding auf den Schrank, wenn er steif werden soll!‹«

Elisabeth und Kurt schauten sich wortlos an, lächelten höflich. Sophie konnte sich denken, was den beiden durch den Kopf ging. Peter war mäßig amüsiert, nur Nicki rief, »der ist ja niedlich«. Von Peter war sie derbere Kaliber gewöhnt.

»Apropos goldene Hochzeit. Wann ist es bei euch eigentlich soweit?« Diese Frage richtete Tante Billie an Elisabeth, die wie aus der Pistole geschossen antwortete: »Da mußt du noch knapp zehn Jahre warten.« Sophie konnte sich denken, daß ihre Mutter die Frage ihrer Schwägerin, so kurz nach dem ihrer Meinung nach sicher etwas geschmacklosen Witz, nicht allzu passend fand.

»Gott, jetzt fällt mir eine Neuigkeit ein, die ich euch ja noch gar nicht erzählt habe. Annegret heiratet.« Tante Billie blickte triumphierend in die Runde. »Was sagt ihr dazu?«

Sophie schaute ihre Lieblingstante erstaunt an. »Du hast mir doch neulich erst erzählt, daß Annegret einen Selbstmordversuch unternommen hat, weil sie das Leben mit ihrem verheirateten Freund nicht mehr ertragen konnte?«

»Da siehst du es, manchmal hilft ein Schuß vor den Bug. Jetzt ist sie verheiratet.« Und dabei zwinkerte ihr Tante Billie rotweinschwanger zu. Gott sei Dank verstand nur Sophie Tante Billies Anspielung, weil die Sache mit Felix ja quasi ein Geheimnis war. Sophies Eltern hatten zwar den Namen Professor Northeim mal gehört, aber wußten nichts Genaues. Sophie hatte in den letzten zwei Jahren zu Hause nur grobe Andeutungen über ihr Liebesleben gemacht.

Riet Tante Billie ihr etwa, vor Felix’ Klinik eine Handvoll Schlaftabletten zu nehmen? Was sollte diese Story von Annegret? Vielleicht könnte sie das Wasser, um die Tabletten herunterzuschlucken, aus der Schweinchen-Tasse trinken, dachte Sophie verbittert.

Ihre Mutter packte die Gelegenheit, die ihr Billie wie auf einem Silbertablett serviert hatte, beim Schopf.

»Brunhild, diese Annegret ist furchtbar. Ich mochte sie noch nie. Zerstört so mir nichts dir nichts eine Familie. Ihr Freund ist doch sicher seit Jahrzehnten glücklich verheiratet, und dann gerät er in die Fänge dieser Ehebrecherin. Mir tut nur seine Frau leid – und er auch!«

»Nun hab dich doch nicht so, Elisabeth, so glücklich kann er ja wohl nicht gewesen sein«, meinte Billie.

»Aber so unglücklich doch wohl auch nicht. Ich verabscheue diese Weiber, die sich an verheiratete Männer heranmachen.«

Tante Billie blickte achselzuckend in Sophies Richtung, quasi eine Aufforderung, auch mal was Substantielles zu der Unterhaltung beizutragen. Sozusagen aus eigener Erfahrung.

»Ach, Mutti. Das Leben ist doch manchmal komplizierter, als Du das gerne hättest«, sagte Sophie in einem besänftigenden Ton, »vielleicht lieben sich Annegret und ihr Freund wirklich.«

»Papperlapapp. Es gibt ja noch so was wie Anstand. Ich bin nur froh, daß Du Dich dazu nie herablassen würdest.«

Sophie schluckte. »Ja, sicher, Mutti.«

Sophies Mutter würde den Zwiespalt in ihr nie verstehen. Es hätte keinen Sinn gemacht, eine Erklärung auch nur zu versuchen. Sicherlich hatte auch Sophie zu Beginn ihrer Beziehung mit Felix ein schlechtes Gewissen gehabt. Aber dann mit der Zeit, nachdem Felix ihr oft und eindringlich versichert hatte, daß seine Ehe bereits bevor sie sich kennengelernt hatten, am Ende gewesen war, hatte sie weder Schuld noch Reue gefühlt, vielleicht Mitleid, später nur noch Haß.

»Tja, Sophie, hoffentlich heiratest du nicht erst mit fünfundfünfzig. Du möchtest doch auf jeden Fall mal Kinder haben. An dieser Annegret solltest du dir kein Beispiel nehmen ... Was ist denn eigentlich mit Achim?« riß ihre Mutter sie aus ihren Gedanken.

»Wie, Achim? Jetzt fängst du auch noch damit an. Was ist denn mit Achim?« Der Kloß in Sophies Hals wurde spürbar sperriger. Jetzt ging es los.

Peter räusperte sich vernehmlich.

»Ich meine ja immer, man sollte früh heiraten, um die schönen Jahre miteinander genießen zu können, und damit man sich noch anpassen kann. Kurt und ich haben es genau richtig gemacht.«

»Sophie lecht de Latte einfach zu hoch, Leute, so hoch, datt se se selbs nich mehr sieht, datt is datt Problem. Definitiv«, begann Peter seine Erklärung.

Sophie war empört. Ihr Bruder quasselte den größten Mist des Jahrhunderts.

»Wenn ihr mich fraacht, die will watt janz Besonderes. Und am Ende kriecht se nämlich gar nischt. Als alte Juffer wird se ja wahrscheinlich nich sterben, so ne Nonne isse ja nu auch wieder nich, aber nen Macker für den Traualter, datt könnt ihr euch alle abschminken, alle wie ihr da seid! Datt is gegesseen! Putz et euch vonne Backe! Datt sach ich euch als ihr Bruder, und da geh ich jede Wette ein, ne Magnum-Pulle, von mir aus. Die macht jeden Mann unglücklich ...« Peter lehnte sich nach dem Monolog genüßlich zurück. Er hatte wirklich mehr in den Beinen, vielleicht noch dazwischen, als im Kopf.

Sophie hätte ihren Bruder erwürgen können. Zwar wußte kein Mensch mit diesem blöden Geschwafel etwas anzufangen. Aber seine dämliche Meinung über Sophie, die zudem, wie sie fand, völlig falsch war, am Heiligabend mit zwei Promille hinauszuposaunen, das war trotzdem das Letzte. Sie würde mit ihrem Bruder, diesem sonnengebräunten Lackaffen, kein Wort mehr reden! Jetzt war es endgültig vorbei mit der Geschwisterliebe.

Peter war schon lange ziemlich sauer auf seine Schwester gewesen. Erstens fand er es unmöglich, daß sie seinen Freund Achim immer als Tröster hernahm und nicht merkte, wie sehr der arme Kerl darunter litt. Immer bemühte er sich, sich nichts anmerken zu lassen, aber Peter wußte, wie es in ihm aussah. Jetzt machte er sich natürlich wieder Hoffnungen, nachdem es mit Felix aus war. Logisch! Und zweitens hatte Peter eine undefinierbare Angst, daß Sophie Achim noch zu einem Kind überreden würde. Er wußte, Sophie liebte Achim nicht. Aber wenn sie was wollte, dann bekam sie es auch. Das war schon immer so gewesen. Die Schlappe mit ihrem Herrn Professor verpackte sie wahrscheinlich nur, wenn sie jetzt ohne Rücksicht auf Verluste ihr Ding durchzog. Im Zweifelsfall ein Kind von Achim. Das wäre für Achim der Untergang.

»Elisabeth, nun sei doch nicht so altmodisch. Sophie ist eine moderne junge Frau, die braucht keinen Ehemann, und wenn sie ein Baby will, dann braucht sie dazu im Zweifelsfall auch noch nicht mal einen Mann«, bemerkte Billie in der entstandenen Denkpause.

Sophie erstarrte. Tante Billie war wohl nicht ganz bei Trost. Nur ihr hatte Sophie von ihren Plänen und der neuen Entwicklung erzählt. Ihr mußte doch klar sein, daß das sonst niemand erfahren durfte.

Bei Sophies Mutter fiel der Groschen pfennigweise. Man hörte es förmlich in ihrem Kopf klickern.

»Wieso Baby?« fragte sie mit großen Augen in die Runde. »Was soll das denn bedeuten?«

Sophie schoß alles Blut, das irgendwo abkömmlich war, in den Kopf. Sie lief knallrot an und versuchte, Billie unter dem Tisch auf den Fuß zu treten, erwischte aber den von Nicki, die laut ›aua‹ rief und sich bückte.

»Mein Gott, Billie, daß du immer so billige Lore-Romane lesen mußt«, rang sich Sophie unter einem gequälten Kichern ab.

»Datt iss ja sowieso alles Quatsch mit dem Heiraten. Vögeln geht auch ohne Trauring«, meldete sich Peter zurück, der daraufhin einen heftigen Tritt von Nicole verpaßt bekam.

»Was für ein Baby?« beharrte Elisabeth und unterzog den Bauchumfang ihrer Tochter einem prüfenden Blick, konnte aber nichts entdecken. Die ganze Sache kam ihr mittlerweile spanisch vor.

»Mutter, das war doch nur ein Beispiel, du weißt doch, wie Billie manchmal ist.«

Damit gab sich Elisabeth zufrieden. Manche Äußerungen ihrer Schwägerin waren ihr tatsächlich immer ein Rätsel gewesen. Da hatte Sophie vollkommen recht.

»Ach, liebes Kind, Sophie, ich meine doch nur, daß zu zweit alles leichter ist. Ein Mann kann doch eine Stütze sein. Wenn ich sehe, wie schwer du arbeitest. Du wirst immer dünner, und du siehst doch nicht glücklich aus. Das kannst Du mir nicht erzählen. Ich bin deine Mutter und merke das ganz genau.«

»Mutter, das ist doch Quatsch.«

»Nein, nein. Was ist das für ein Leben? Immer nur arbeiten, und abends gehst Du mit deinem schwulen Freund aus der Firma einen trinken.«

»Sicher Mutter, zu zweit ist es wunderbar, aber man muß ja erst mal den Richtigen finden.« Nie wieder würde sie Hand an einen verheirateten Mann legen, da war sich Sophie hundertprozentig sicher; vielleicht überhaupt nie mehr wieder an einen Mann. Na ja, vielleicht an Achim, der war pflegeleicht. Aber ansonsten hatte für Sophie Lackmann eine neue Männer-Zeitrechnung begonnen.

»Also, da hat Peter recht, Sophie, allzu wählerisch kannst Du jetzt wirklich nicht mehr sein«, meinte ihre Mutter abschließend. Da platzte Sophie der Kragen.

»Jetzt behandle mich doch nicht wie eine sitzengebliebene Aussätzige mit Pest. Ich kann sehr gut alleine leben und komme schon nicht zu kurz. Keine Angst. Ihr werdet Euch noch wundern. Hab’ ich Euch übrigens schon erzählt, daß ich für zwei Monate in die USA gehe?« Wütend knallte Sophie ihr leeres Glas auf den Tisch. Heftiger, als sie es eigentlich beabsichtigt hatte. Zumindest zeigte das Wirkung. Das Gespräch schien beendet.

Peter und Nicole nutzten die Gelegenheit, um sich zu verabschieden. Nicole versprach Sophies Mutter, Peters Wagen eigenhändig nach Düsseldorf zurückzuchauffieren. Peter ergab sich in sein Schicksal. Sophie folgte ihrer Mutter in die Küche. Sie hatte den Abend immerhin überstanden. Und ihre Mutter würde sich, wenn es soweit war, schon mit einem unehelichen Kind ihrer Tochter abfinden. Sie würde einfach lernen müssen, daß ihre traditionellen Wünsche mit Sophie nicht in Erfüllung gingen. Sophie mußte einen eigenen Weg gehen. Nur das mit der Samenbank, das durfte ihre Mutter nie erfahren. Das würde sie Sophie nie verzeihen.

In der Küche fiel Sophie zum erstenmal der kleine Kalender-Spruch auf, der wahrscheinlich schon Jahre über dem Kühlschrank hin: »Immer wenn du meinst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.«

Frohe Weihnachten. Ab Mai würde alles anders werden.

Liebe on the rocks

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