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Paul und die Lippe

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Der linke obere Schneidezahn seines vorbildlichen Gebisses hatte sich in den letzten Monaten ein wenig seitlich gedreht. Minimal, etwa um einen Millimeter, vielleicht nicht ganz. Dieser kleine Millimeter Drehung verursachte eine kaum wahrnehmbar hervorstehende Ecke, und diese Zahnecke nagte verbissen an seiner Unterlippe, die sich währenddessen schief in den Mund lutschen ließ. Wieder, und immer wieder.

Die Ecke nagte mit Schwung, mal heftig, mal etwas sanfter, doch unaufhörlich, als sei sie zu ihrer wahren Bestimmung gelangt, als solle hier der Beginn des Aufzehrens seiner Person stattfinden, als könne diese winzige Ecke die ihr zugehörige Person vom Erdboden verschlucken!

In unerträglichen Momenten ersehnte Paul zwar sein spurloses Verschwinden, aber sich selbst zerfressen? Und warum sollte der Fraß an der Unterlippe beginnen, wäre die Zunge dafür nicht naheliegender, als nächst erreichbares Organ zum Zahn? Damit vielleicht zuerst die Worte verstummen? Damit ein Ende in Stummheit allem Ende näher wäre?

Nein, nicht die Zunge! Wenn dieser Gedanke von Paul schon unbedingt durchdacht werden wollte, müsste für ihn, dieses absonderliche Verlangen an anderer Stelle angesetzt werden. Vielleicht zuerst an den Fingerspitzen, um sich dann über die Knöchelchen zur Hand hinaufzuknabbern. Handfertigkeit benötigte er nicht, Handfertigkeit vermisste die Welt an Paul nicht mehr. Zumindest glaubte er das.

Er könnte mit diesem Bedürfnis auch bei den Zehen beginnen, dazu müsste sein Körper allerdings erheblich jünger sein, erheblich flexibler, wie bei einem Kleinkind. Ein jüngerer Sich-Auffresser?

Nein, jünger wollte er nicht sein, nicht um einen Tag jünger! Das hieße zurück! Und er müsste alles Erlebte noch einmal über sich ergehen lassen. Eine abscheuliche Vorstellung, die nur eine Schreckvorstellung sein konnte, denn wer oder was auch immer dieses Dasein eingerichtet hatte, der Rückwärtsgang war nicht mit eingebaut worden. Das hatte schon Kierkegaard in treffende Worte gekleidet. „Die Bewegung der Zeit ist eine unumkehrbare Richtung, wir leben vorwärts, können jedoch nur rückwärts verstehen.“

Paul verstand auch rückwärts nicht. Er wollte es nicht verstehen. Er eilte weiter, auch ohne jüngere Jugend und wurde in Gedanken, über die Zehen, zu seinen Füßen verwiesen, zu den Fußgelenken, Waden und so weiter. Amputation bis zum Herzen. Kein Zurück nötig. Das Herz als letzter Happen. Wie die Hoffnung. Man hoffte stark, man hoffte ein bisschen, oder man wollte dem, ganz aus dem Weg gehen, doch letztlich gelang es der Hoffnung immer wieder, sich überall einzumischen.

Wenn man dem Tod so nahe war wie Paul, wusste man, was Hoffnung bedeutet, welche Kraft sie hat, und was sie alles mit einem Menschen anstellen kann. Paul hoffte, auch wenn er sich das nicht eingestehen wollte, und obwohl ihn momentan die Hoffnung ekelte.

Tiere haben keine Hoffnung, das wird zumindest behauptet, sie sind demnach besser dran, da gibt es keine hoffnungsvollen Umwege zum Tod. Hoffnung kann so verwirrend sein, niederschmetternd. Sie kann schwächen, entehren und von den wahren Umständen ablenken, bis ins Verderben, um immer noch zu überleben. Aber kann sie nicht auch den Himmel öffnen und Wunder bewirken, wenn sie mit Glauben, mit reinem Glauben unterstützt wird?

Im Grunde ist jeder dem Tod nahe, das wusste Paul, obwohl sich die meisten Mitbewohner auf diesem Planeten sträuben das zu beachten. Trotzdem, Paul war überzeugt davon, dass er unfreiwillig den Vortritt erlebt und diesem gefräßigen und notwendigen Nimmersatt tief in das aufgerissene Maul geblickt hatte. Um ihm in letzter Sekunde von der Zunge zu springen. Vorerst einmal!

Schon wieder die Zunge! Beneidete er den Tod etwa um diesen wulstigen Lappen? Warum dichtete er ihm eine Zunge an. Diese Vorstellung erschien ihm doch recht unpassend für den visualisiert personifizierten Tod eines zungenlosen Mannes. Paul korrigierte sich. „Aus den triefenden Lefzen gekrochen.“ Es klang ein wenig wie aus dem Märchenbuch gegriffen. Es milderte den Schrecken. Fast konnte man lachen, aber Paul lachte nicht.

Zwei ihm nahestehende Menschen waren in kurzem Abstand gestorben, in erschreckend kurzem Abstand. Das Schicksal hatte nicht einmal den Anstand besessen, ihm eine Trauerzeit zu gewähren, ihn gebührend um seine Liebste trauern lassen, bevor es ihn erneut erfasst hatte, um ihn selbst vor die Pforten des Todes zu schleudern.

Die Drohung, über das bevorstehende Ende seines Lebens, hatte sich zügellos aufgebäumt, sie hauste in ihm mit allem Wenn und Aber ihres unfassbaren Umstandes, der in tausend verschiedene Mäntel gehüllt, täglich vor ihm abrollte.

Die Furcht vor dem Sprung in die Ewigkeit kündigte sich mit der Lippenknabberei an, unkontrollierbar. Seine Lippe wurde wenige Tage vor der nächsten Untersuchung, besonders strapaziert, nach jedem Chemoschub ebenfalls und auch in den endlos erscheinenden Tagen, bis das Ergebnis mit seinem Arzt besprochen werden konnte. Die Giftschübe waren im Rhythmus von achtundzwanzig Tagen angesagt, sie dauerten jeweils eine Woche.

Etwa ein Drittel der letzten sechs Monate schmeckte er Blut. So wie jetzt. Und es schmeckte nicht ganz so, wie es zu schmecken hatte. Es erschien ihm wie reine Chemie. In seiner Einbildung stank sein Blut sogar nach diesen einverleibten Laborerzeugnissen, ebenso wie seine Körperausdünstungen, Urin und Speichel. So wie der ganze Paul mit Haut und Haar. Wobei Letzteres sich schon lange von ihm gelöst hatte. Ein paar Haarinseln hatten sich in den ersten zwei Wochen der Therapie noch krampfhaft an ihm festgehalten, was dem Ganzen eine zusätzliche Trauer verliehen hatte. Jeden Tag hatte er sich vorgenommen endgültig eine Glatze vom Friseur zu fordern.

Und dann kam dieses, „Nein, heute geht nichts mehr, vielleicht morgen“. Aber das Morgen brachte nichts Neues. Er hatte sich verkriechen müssen. Dann hieß es im Bett bleiben, die Decke bis über die Augen ziehen und das Atmen dem Himmel überlassen. Übermorgen ebenfalls.

Nun fehlten ihm noch zwei Zyklen dieser Tortur, die beiden letzten, dann würde sich entscheiden, wer gesiegt hatte, die Statistik oder die Individualität seines Falles. Immerhin hatte man ihm nach dieser Statistik, den penibel erarbeiteten Auswertungen dieser erst wenige Jahre alten Therapie, eine achtzigprozentige Überlebenschance eröffnet.

Ziemlich hoch, meinte sein behandelnder Arzt. Paul fand das ganz und gar nicht. Wen erwischten denn die restlichen zwanzig Prozent, und vor allem warum?

Seine Augenlider hatten ihren geschwungenen Haarschmuck zuallerletzt abgeworfen. Die Brauen waren nicht einmal mehr spärlich, es gab sie nicht mehr. Das nackte pure Paul Gesicht war zum Vorschein gekommen, als hätte der frühere Haarbestand seine Durchschaubarkeit zuvor erschwert.

Dieser allerorts gefürchtete Haarverlust erschien ihm nebensächlich, nicht der Rede wert. Das war im Fall seines Überlebens eine sich erneuernde Kleinigkeit, die er als nichtssagend in Relation zum Ganzen wahrnahm. Doch diese Kleinigkeit leuchtete wie ein Ausrufer, saugte die Gedanken der Menschen ins Jenseits. Sie bemitleideten ihn nicht nur, falls sie durch seine Unachtsamkeit einen Blick auf das Nackte werfen konnten, sie hatten auch oft Angst ihn anzusehen, blickten betroffen in eine andere Richtung und machten eilends einen Schritt zur Seite, als sei sein Zustand ansteckend. Deshalb die Mütze, deshalb die lächerliche Sonnenbrille im Grau des ersten Schneegestöbers. Vielleicht war es ja ansteckend, wusste man das so genau? Allerdings, falls das zuträfe, dann sicherlich in einem früheren Stadium.

Vielleicht wurden die Menschen von Krebs befallen, weil sie sich gegenseitig mit dem jeweiligen Verlangen ihrer Zeit ansteckten. Weil sie sich infizierten mit Angst und Stress, mit Zukunftsfurcht, mit dem Mangel des Vergessenkönnens und dem Wahn der Lebensabsicherung. Mit Zukunftsvisionen materieller Sicherheit, den Irrläufern der Moral und krampfhafter Berechnung der Gefühlswelt, bis ins tausendste Jahr?

Das musste ja krank machen, musste etwas herbeirufen das alles zerfraß und mit seiner Wucht der Überwucherung erstickte, es auslöschte, um bei Null wieder anzufangen. Das ewige Verlangen der Zeit, Geburt, Wachstum, Ziel und Zerstörung.

Aber wieso Paul, warum ausgerechnet er? Er hatte noch kein Ziel erreicht, er war doch anders. Er hatte das Glück zu würdigen gewusst, hatte es bewusst gekostet und nicht wie selbstverständlich verschlungen. Er hatte sich in sein erstes Glück hineingetastet, sein Herz darin gebettet und die Freude begrüßt. Er war geliebt worden und er glaubte ebenfalls geliebt zu haben. Er hatte dem Schutz dieser Liebe vertraut, bis sich all diese zarte Heftigkeit der Gefühle plötzlich in einen riesigen Felsblock der Trauer verwandelt hatte, auf ihn gestürzt war und ihn zu erdrücken drohte. Und dann war er, in seiner erst kurzen Trauer, so einschneidend, so unpassend, und wie er meinte, unwürdig und brutal zu sich selbst hin abgelenkt worden.

Konnte seine Trauer diese Krankheit ausgelöst haben? Seine lebensverachtende Einstellung in diesen ersten Wochen nach Aishas Ableben? Sein oft durchdachter Wunsch der Geliebten in den Tod zu folgen? Konnte sich dieser destruktive Gedanke, einer verdrehten Solidarität, in ihm so wirksam festgefressen haben, dass seine Abwehrkräfte es als Befehl gedeutet und dadurch die unkontrollierte Zellteilung zugelassen hatten? Um dieses clevere, eigentliche Grundprinzip der Evolution, im Zeitraffer zu entfachen?

Nein, dachte Paul, so schnell funktionierte es wohl doch nicht. Er musste diese Pest der Menschheit, diesen gnadenlosen Zyklus der Mutation, Selektion und des Wucherns der Zellen, schon vorher in sich gehortet haben, vielleicht hatte seine Trauer sie nur zum Ausbruch gebracht.

Außerdem, hieß es nicht, wahre Liebe sei unsterblich? Und dass es letztlich, in einem vorgezogenen, wahrnehmbaren Letztlich, keine Rolle spiele, ob der geliebte Mensch noch unter den Lebenden weilte oder nicht?

Mit dieser Weisheit konnte Paul nichts anfangen, dieser Reichtum des Liebens hatte keine Zeit gefunden sich in ihm zu entfalten. Seine Liebe zu Aisha war nicht bis in seine Seele gelangt, sie war noch in der Verwirrung der Begierde, des stolzen Besitzens und der Reflexion seiner Zukunftswünsche steckengeblieben. Trotzdem, ohne seine Geliebte, ohne ihr lebendiges Dasein auf dieser Welt und an seiner Seite, war sein Leben nichts wert. Ohne sie, fühlte er sich seines Herzens entrissen, er schwelgte in dem Sog der Lebensverneinung und fühlte sich dort am rechten Platz.

Paul hatte nach ihrem Tod zunächst einmal die Aufnahme seiner Ernährung auf ein schmerzhaftes Maß minimiert. Ebenso das Trinken, das Schlafen und das Wachen. Er hatte seine Arbeit völlig gemieden und jeden Kontakt zu anderen Menschen abgeschnitten. Er hatte beschlossen die Askese herauszufordern, bis er hoffentlich auch starb. Aisha zur Liebe. Es hatte ihn nicht die geringste Mühe gekostet zu fasten, jeglicher Verzicht war ihm in diesem gefährlichen Sinnestaumel besonders leicht gefallen. Der Gedanke im Vergehen begriffen zu sein, noch von angenehmen Schmerz begleitet, hatte ihn berauscht und erfüllt.

Bis der Krebs ihm unerwartet zur Hilfe gekommen war und sein nekrophiles Verlangen mit realer Morbidität unterstützt und eilig vorangetrieben hatte. Der Krebs hatte sich höhnisch in das trotzige Spiel gemischt. Paul empfand ihn, wie ein Jemand, wie ein Individuum, das sich an die Spitze zur bitteren unausweichlichen Gegenwart gedrängt und ihm das Ruder plötzlich aus der Hand gerissen hatte. Genauso plötzlich war das Rad seiner Todessucht in pure, sich wild aufbäumende Lebensgier umgeschlagen.

Das Nagen an seiner Lippe stockte kurz, die Epidermis der linken Unterlippenseite war erschöpft, sie hatte zum hundertsten Mal nachgegeben und war wieder einmal aufgeplatzt. Er konnte das leicht salzige Süß seines Blutes nur ahnen, nicht schmecken, und der Geschmack von Ekel vor seinem vergifteten Blut hatte die Oberhand gewonnen.

Seine Oberlippe funktionierte fabelhaft, sie ortete die neue alte Wunde sofort und wischte eifrig darüber, als wolle sie die Zunge ersetzen. Es war nicht der geringe Schmerz, der ihr den Weg wies, die Oberlippe nahm die neue Wunde aus reiner Gewohnheit wahr, sie erkundete und streichelte diese Blessur und versorgte sie mit Speichel. Dieser kleine Reflex reihte sich zu den überlebensaktiven Automatismen, dagegen war Paul machtlos. Er konnte nichts gegen diese unerwünschte Streicheleinheit unternehmen, dafür reichte auch seine Kraft nicht. Das Bewusstsein stolperte letztlich dazu, worauf die eifrige Zahnecke ihre Tätigkeit einen Moment lang einstellte, und mit ihr, das willige Hineinsaugen der unteren Lippe in den Mund.

Paul erstarrte gelassen. Eine seiner Begabungen. Er witterte ein Gegenüber, einen Beobachter, abgesehen von sich selbst. Dieses weibliche Gegenüber entnahm aus der inneren Brusttasche eines taillierten, mit bunt besticktem Futter versehenen Mantels, ein Stofftaschentuch, entfaltete es flugs und tupfte damit behutsam seine Lippenblessur. Sie sprach ihn an.

„Moment mal, sorry, Sie sollten diesen Unsinn wirklich lassen!“ Ein starker, runder Akzent rollte über ihre Lippen. Eine Engländerin? Paul stieg vollends aus seinem Gedankenknäuel heraus und drehte sich ein wenig zur Seite, jedoch ohne ihre mitmenschliche Geste abzuwehren. Diese Frau stand dicht neben ihm im Bus und offenbarte flink, mit einigen weiteren Sätzen, einen Teil ihrer Gesinnung. Ein bleiernes Konglomerat aus erfolgreicher Geschäftsfrau, Managerin und Psychotherapeutin schwebte ihm entgegen. Gepflegter Geist und Belesenheit lugten aus den nächsten fünf Sätzen hervor. Er empfand diese Zusammensetzung als Zumutung, etwas passte nicht, etwas war klebrig unangenehm. Konnten Geist und Belesenheit unangenehm sein?

Ja, das konnten sie, in höchstem Maße. Paul empfand dieses Gerede nervig, überheblich, besserwisserisch und aufgesetzt. Ähnlich, als würde ein Onkologe in einem Sterne-Restaurant, bei Champagner und Kaviar über den letzten erfolglosen Fall reden. Überheblich, als sei dieser Sprecher mit dem amüsanten Tonfall, selber für immer und ewig in Sicherheit. In Sicherheit vor den Krankheiten, die er erfolglos behandelte.

Diese Art von Gesprächen hatte Paul oft genug mitanhören müssen. Er hatte diesen Zusammenkünften, in welchen man sich ausschließlich über die komplizierten Fälle zu unterhalten pflegte, immer äußerst ungern beigewohnt. Man traf sich in den exklusivsten Restaurants der Stadt. Doch seine Teilnahme war, in nicht allzu ferner Vergangenheit, von ihm erwartet worden. Paul hatte bei diesen Treffs immerhin den Haupteigner einer berühmten Privatklinik vertreten, als rechter Arm seines Vaters, dem diese Klinik gehört hatte.

Ja, Belesenheit konnte sehr lästig auf ein Gegenüber wirken, aber der Geist? Man konnte doch in wenigen Minuten nicht feststellen, ob ein Mensch diesen in sich hat erwachen lassen, oder ob er im Nebel schwamm.

Paul wägte neuerdings solche Dinge schnell ab. Eine Frage nach der Uhrzeit, und er glaubte bereits zu wissen wes Geistes Kind sie gestellt hatte. Diese Frau war außerdem für seinen Geschmack zu sorgfältig und offensichtlich kostspielig gekleidet. Sie war sehr auffällig geschminkt und übertrieben frisiert. Er dachte an eine Maskerade. Sie funkelte in diesem Bus, wie ein Stern im tiefsten Stollen eines Steinkohle Bergwerks. Was machte dieser Komet zur Zeit der zweiten, morgendlichen Rushhour in einem Linien Bus, warum saß diese Erscheinung nicht mindestens in einem Taxi?

Vielleicht hatte sie gerade ihren Chauffeur gefeuert. Vielleicht hatte er einen Unfall verursacht und ihren Jaguar zu Schrott gefahren, und sie war ärgerlich und ungehalten davongestürmt. Aber warum mit dem Bus? Dieser Chauffeur war bestimmt verletzt worden, und so wie er diese Frau einschätzte, hatte sie ihn seinem Schicksal überlassen. Möglicherweise ohne Krankenversicherung. Frauen wie diese zum Chef zu haben, war bestimmt kein Honigschlecken. Wahrscheinlich ein mieser Arbeitsvertrag oder gar keiner, und der alte Mann konnte nun sehen wo er blieb.

Paul lenkte sich in letzter Zeit oft in Gedanken von seinem Elend ab, indem er Situationen oder Gegebenheiten, die hätten sein können, es aber nicht waren, durchdachte. Seine Gedanken verließen den imaginären Chauffeur und wandten sich der über ihn schwappenden Hilfsbereitschaft der vermeintlichen Verächterin sozialer Gerechtigkeit zu. Er ordnete dieser Frau Überfluss zu, selbstverständlichen Überfluss, der von ihr ebenso selbstverständlich als Tugend an sich anerkannt wurde. Ihr Auftreten bewies ihm das. Sie gehörte zweifellos zu Jenen, die besaßen und sich sicher waren, zu Recht zu besitzen. Er kannte diesen Geruch. Das Geld zirkulierte beinahe sichtbar an der Oberfläche, so wie es seinen Vater gekleidet hatte. Obwohl sein Vater diese fragliche Tugend lieber wie einen Heiligenschein über sich hatte schweben lassen.

Ihre Unbefangenheit rundete sein Vorurteil ab, er hatte nicht das geringste Interesse an dieser Person. Paul brachte eher Verständnis oder Sympathie für zurückhaltende, bescheidene bis hilfsbedürftige und weniger kostspielig gekleidete Frauen auf, es konnten auch hoffnungslos verlorene Wesen sein.

Und dann gab es plötzlich einen gewaltigen Ruck in seinem Gedankenablauf. Etwas, das wie ein Riss in seine Herzgegend fegte. Er nahm erstaunt seine Sonnenbrille ab. Die erahnte Managerin hatte wiederholt seine Lippe von einigen erneut hervorquellenden Blutstropfen befreit und dabei zum ersten Mal den Augenkontakt bewerkstelligt, erzwungen, denn ihre andere Hand hielt mit zartem Griff sein Kinn fest. Seine Nasenflügel bebten, er nahm von dieser Hand einen undefinierbaren Geruch wahr, es war ein Geruch, der ihn beinahe zu Tränen rührte.

Paul war in den letzten Monaten ein echter Smeller geworden. Er roch nicht, er witterte, und er zerlegte das Gewitterte in von ihm erfundene Geruchssequenzen. Seine erzwungene Sprachlosigkeit hatte sich, zusammen mit der Wirkung der Chemieprodukte, zu einer unerhörten Schärfung seiner Sinne arrangiert, das war ihm größtenteils lästiger als dass es ihn bereicherte. Doch hier, an diesem späten Morgen in einem Linienbus, war es ausnahmsweise einmal bereichernd.

Ihre gepflegten Fingernägel robbten sanft über sein Babykinn, während er wie ein kleines erregtes Tier daran schnupperte. Seine Erregung war fast greifbar. Eine unbedingte Vertrautheit ohne Worte schwappte über ihn, ausgehend von ihrem Duft, ihrem Blick und dem leichten Schleifen über sein Kinn. Er verhielt sich ganz still, als sei er ein braves Kleinkind, dessen Mutter seinen Mundbereich von Essensresten säubert. Diese Vertrautheit schlich sich nicht ein, sie stürmte über sein Ganzes und nahm Besitz von ihm.

Nun hätte sie die Nebenfrau des Diktators eines afrikanischen Kleinstaates sein können, seine in den letzten Monaten selbst auferlegte Abneigung gegen Betrachter, besonders gegen weibliche, war für einige Sekunden zum Erliegen gekommen. Er reagierte, wie aus einer Lähmung heraus, wie ein Beutetier, das sich dem Blick der Schlange nicht entziehen kann. Er stand dort an die Haltestange geklemmt und starrte zurück. Ganz gegen seine Gewohnheit.

Der Zustand dieses plötzlichen Gedankenstillstandes wurde von einem Phänomen begleitet, in Form einer Nähe, die den Verstand ignorierte. Diese Nähe war direkt aus dem Unterbewusstsein hervorgestürmt, sie hatte alle Gedanken weggefegt und war ohne die geringste Bewegung des Zweifels in ihm. Diese Nähe ergriff alles und glühte in Paul. Er erlebte die Erlösung einer Vertrautheit, die in der Tiefe seines Anfangs ruhte, wie ein Luftsog aus seinem „Frühsten Sein“. Ein Zustand, der wie eine Lichtquelle in seinen grauenhaft kalten Morgen gehievt worden war. Eine Dimension, fern von Trauer oder Schmerz, eine Dimension des wunschlosen Angekommen-Seins.

Dieser Moment der Erfüllung dauerte nur wenige Sekunden. Dann platzte diese Blase einer wahren Wirklichkeit, und eine Art Hoffnung kam zurück, obwohl Paul zuvor jeder Hoffnung gedanklich vermeintliche Fußtritte verpasst hatte.

Der Anstoß eines Draußen, der ihn im innersten Drinnen des Seins getroffen hatte, war durch dieses Taschentuchwesen ausgelöst worden. Einer Person, die er, nach seinen so hastig erhaschten Vorurteilen, als akzeptables Mitglied, seines ohnehin sehr knappen Bekanntenkreises, normalerweise nicht zugelassen hätte.

Die erahnte Chauffeurtyrannin sah ihn immer noch schweigend an, Tränen unterstrichen ihren intensiven Blick, als sei er dadurch zusätzlich in Anführungsstriche gebettet worden. Pauls Lähmung löste sich, es blieb das Erstaunen.

Wie war das möglich? Etwas an dieser Person, die ihm wie aus einer Modezeitschrift entglitten schien, hatte den Sprung auf eine andere Seins-Ebene in ihm ausgelöst. Ein glückliches Kinderlachen wäre ihm für solch einen Sprung erklärbar gewesen und viel lieber. Oder ein schillernder Käfer, ein sich im Wind wiegender Blütenbaum, tausendmal lieber. Selbst ohne Blüten, einfach nur ein Baum, mit oder ohne Laub. Paul saß gerne unter Bäumen, dann lauschte er endlos und erhoffte sich die Lösung.

Die Frau brach erneut das Schweigen. Dieser Bruch transportierte unerwartet hilflose Schmeicheleien aus ihr hervor. Die glitzernden Tränen schrieb Paul ihrem Mitleid mit ihm zu. Schauerlich! Sie hatte seinen Zustand zweifellos erkannt.

Sie überschüttete ihn plötzlich, ganz im Gegensatz zu vorher, mit abgedroschenen Sätzen, mit süßlich verstellter Stimme und mit einem Eifer, als wollte sie etwas Billiges teuer an ihn verkaufen, oder auf Teufel komm heraus, diesen nadelöhrschmalen Kontakt festhalten und vernähen. Ihr gefiel seine Lederjacke, sie fragte nach seinem Rasierwasser, sie fand das Wetter fantastisch winterlich, und sie hatte, nach unzähligen weiteren Bekundungen, Lust auf einen Kaffee mit ihm.

Paul klapperten diese Bedeutungslosigkeiten vor die Füße. Rasierwasser? Lächerlich, er benutzte keins, es gab seit Monaten nichts zum Rasieren, und der Schneematsch war ekelhaft. Ihre jetzige Wortwahl gefiel ihm noch weniger als das hochtrabende Gerede zuvor.

Paul war lang, dürr und wenig mutig, ein kranker Ritter, sein Schwert war die Wollmütze. Trotzdem, er hatte den Eindruck, als erwartete sie, dass er sie ebenfalls mit Komplimenten überschütte. Wie Unrecht er hatte!

Er vernahm weiterhin ihr ununterbrochenes Klappern, als bemühe sie sich krampfhaft, ihn zu beeindrucken, um sein Vertrauen zu gewinnen. Er zeigte eine gequälte Mine mit einem Ausdruck der Bitte, ihn in Frieden zu lassen. Er bedauerte, das nicht sagen zu können. Verdammt, was ging ihn diese fremde Person überhaupt an!

Paul fühlte sich durch ihre übertriebene Aufmerksamkeit nicht nur belästigt, sondern auch bestürzt. Solches und ähnliches Gehabe um seine Person war immer wieder verletzend, da er wusste, dass all diese abgedroschenen und doch süßen Worte um eine erwünschte Bekanntschaft mit ihm, sich in betretenes Schweigen auflösen würden, sobald der fremde Ausrufer den Fehler erkannt hätte. Pauls Fehler!

Denn Paul war nicht in der Lage zu antworten. Zumindest nicht mit normal verständlichen Worten. Seine Blicke, Gesten, Mimik und Körperbewegungen, das war seine Sprache. Er konnte schreien, die Kehle funktionierte und er beherrschte die zungenlosen Buchstaben und Laute, Zustimmungen oder Verneinungen, die sich mit den Kehllauten zufrieden gaben. Auch wenn diese Laute gerne im Rachen steckenblieben, als hätte sich ein Wollfäustling darüber gefaltet. Laute, die keine Zunge benötigten, das waren seine Übergangsretter. Retter, die er inzwischen auf eine Art von sich zu geben wusste, ohne dass man auf ihn wie auf einen Schwachsinnigen reagierte oder ihn behandelte, als sei er im Zustand der Volltrunkenheit. Denn so erschien es dem Zuhörer, wenn Paul mit den Silben rang, wenn er versuchte verständliche Worte über seine Lippen zu würgen. Außerdem antwortete man ihm, wenn seine unstimmigen Laute erklangen, wenn man seinen „Fehler“ erkannt hatte, ungehörig laut. Dann wurde geschrien, als sei er zusätzlich gehörlos.

Niemals wieder würde er versuchen, gegenüber Unbekannten, das Wort als Mittel der Kommunikation zu wählen. Es gab allerdings auch Menschen, die sich mit ihm unterhielten und nicht einmal bemerkten, dass er nicht sprach. Dann nahm er an einem Gespräch nur mit dem Laut einer Zustimmung, Verneinung oder einem Hmhm teil. Ein Hmhm, mit dem fragenden Sound nach oben, reichte ihnen. Dann waren nicht einmal seine mühsam einstudierten Silben ohne Zungenlaute nötig.

Diesen Menschen galt er als besonders angenehmer Gesprächspartner. Die willkommene Wichtigkeit, eines weniger aufmerksamen als stummen Zuhörers, offenbarte sich ihm erstaunlich oft. Paul gab keine missionarisch gefärbten Ratschläge, nie protestierte er lauthals oder behauptete hartnäckig das Gegenteil, und niemals unterbrach er einen Redeschwall. Etwas, was ihn so ungeheuer köstlich für ein redefreudiges Gegenüber erscheinen ließ. Jene Wenigen, die wussten, dass er nicht sprach, brachten ihn erst gar nicht in die vermeintliche Verlegenheit einer erwartenden verbalen Antwort. Und Jene, die es weder wussten noch bemerkten, ereiferten sich genügend an ihren eigenen Worten.

Der auffallend attraktive und einst so sprachgewandte Paul entschied, meist schon nach den ersten Sekunden einer Begegnung, sein Lächeln aufzusetzen, während er in eine gedankliche Abgeschiedenheit floh. Diese Situationen, die er versuchte zu vermeiden wo immer es ihm möglich war, strengten ihn ungeheuer an. Er war sehr müde geworden, nur Laute, wie diese Ahs und Ohs oder auch Hms, mit oder ohne Fragezeichen, waren ihm im Notfall noch zu entlocken. Er isolierte sich vollends. Es sei denn, sein behandelnder Arzt saß ihm gegenüber.

Paul, der Schönheitschirurg, hatte keine Zunge mehr, sie war ihm gestohlen worden. Abgeschnitten und verschwunden! Er war ein junger, gutaussehender Mann gewesen, ein wenig leidenschaftlich engagierender Chirurg und ein flügelloser Vogel nun.

Paul hatte am späten Morgen, in der Nähe des Klinikgeländes, an einer Bus Haltestelle gestanden. Er hatte zuvor jede hilfreiche Begleitung energisch abgewiesen.

Es zeigte sich keine Richtung. Er drehte sich langsam ruckweise nach links, ohne bewussten Bedacht in dieser Bewegung, willenlos von seinem Körper vollzogen, wie in völliger Abwesenheit. Seine Füße begleiteten sich im Gleichruck und gaben zentimeterweise diesem abwesenden Wunsch der Drehung nach. Ohne seinen Standpunkt zu verändern drehte Paul sich langsam um sich selbst. Das symbolisierte seinen derzeitigen Lebenszustand. Einmal links herum und einmal rechts herum. Dreihundert zweiundsechzig Grad, zurück und im Kreis.

Er schloss die Augen nicht, die Arme hatte er weit von sich gestreckt, es schien, als suche er Empfang, und er bohrte sich dabei unmerklich langsam in die Tiefe. Ein oberflächlicher Beobachter hätte ihn, seiner Bewegung und seinem glasigen Blick nach zu urteilen, für einen Geisteskranken halten können. Nur ein Geisteskranker verhielt sich so, oder ein Kind, ein abwesend spielendes Kind.

Unter seinen Füßen hatte sich ein perfekter Kreis in den Sand gescharrt, sich hinein geschraubt. Sandhäufchen, die sich wie längliche Dünen seitlich der Schuhsohlen gebildet hatten, wurden langsam fast unmerklich aus dem runden kleinen Feld hinauf geschoben. Sie verstärkten den äußeren Rand des Kreises, es entstand ein kleiner, runder Damm.

Das Unbekannte existiert überall, rundherum, in jedem Millimeter, undefiniert aber vorhanden verbirgt es sich in dem Bekannten. Paul roch es deutlich. Ein Schwarz, unendlich und doch ersehnt, und manchmal schnellte es hervor. Es gab Tage, da wurde er schon beim ersten Zeichen des Erwachens von diesem Schwarz und seinem Angstnebel geknebelt. Das Unbekannte lauerte dann wie ein Abgrund des Endes, als Unvorstellbarkeit, als Gewinner des Hohns. Sein Tagesablauf, seine Schritte, Atmung oder Hungergefühle, besonders die voluminöse Medikamenteneinnahme, all das erschien ihm dann völlig absurd. Dieser Zustand verwandelte ihn in einen Regenwurm, der versucht einen Schmetterling zu fangen.

An anderen Tagen konnte das Schwarz in ihm die Stimmung der Bewegung erzeugen, des Abenteuers, der unbedingten Aufforderung, dieses Schwarz mit Licht und Farben bekannt zu machen. Dann schien es alles beinhalten zu können und in seinem Dunkel sogar zu glänzen, ebenso wie in seinem erfundenen Duft des Lichtes. Dann war die Angst wie ein Freund, der zum Leben aufrief, zum Kampf. Gegensätze im allgemeinen Inhalt, der Hoffnung und des Abgrundes.

Kein Abgrund kann, konnte und wird jemals unendlich sein. Jede Tiefe erreicht unabänderlich, irgendwann ihren tiefsten Punkt als Ende. So wie jedes Wachstum für immer und ewig, am Ende jeder Höhe oder Schwere, seine Grenzen als Tod erfährt. Und genau dort, an einem dieser verschiedenen, unzähligen Möglichkeiten des Endes, ist ein Irgendetwas. Das wusste Paul, anders konnte es nicht sein. Nichts kann nicht das Ende des Abgrundes sein, keines Abgrundes, auch nicht Pauls. Und wenn es nur ein Sandkorn ist, eine Zelle, eine Spore oder die Hoffnung. Etwas wartet immer dort unten.

Aber er glaubte ebenfalls, dass es ein Immer nicht gibt. Weder ein Immer, noch ein Immer für Etwas. Diesen Gegensatz, zwischen der immer wartenden Spore und dem fehlenden Immer, spürte Paul ganz deutlich, als hätte er ihn schon durch den Tod seiner Liebsten gelebt. Und genau das gab ihm in diesen Momenten die Kraft, das Nicht-Immer an seinen Platz zu verweisen. Dann gelangte er meist hinaus aus diesem Zustand, zurück in das normale Leid, und die Lippenknabberei.

Er war schlotternd vor Kälte in den Bus gestiegen. Kein Sitzplatz frei. Seinen Wagen hatte er auf dem Parkplatz der Universitätsklinik zurückgelassen. An diesem Tag hatte er sich unfähig gefühlt, ihn selbst noch zu fahren. Die Muskeln seiner verlorenen Augenbrauen zogen sich leicht über der Nasenwurzel zusammen, die Stirn lag in Falten.

Menschen, viele Menschen, zu viele Menschen! Wenn er schon mit dem Bus fuhr, dann wollte er wenigstens sitzen können, er wollte das unangenehme Schaukeln lieber im Sitzen über sich ergehen lassen, um sich nicht bei jeder Bremsaktion oder Kurve dagegenstemmen zu müssen. Von der Infusion am frühen Morgen war ihm immer noch speiübel und schwindelig. Er fror erbärmlich und verbot sich das Zähneklappern.

Schneeregen. Zarte weiße Flocken wurden aus ihrem sanften Fall herausgerissen, wurden unwiderruflich von ihrem spielerischen Tanz abgeschnitten und gegen kaltglatte Busscheiben getrieben. Dort klebten sie in ihrer kristallenen Form fest, einen winzigen letzten Moment, um dann langsam, in Tränen verwandelt, hinabzurutschen. Hinab in den Straßengraben, um das Meer der grauen Tränen zu speisen und der öffentlichen Kanalisation entgegenzuplätschern. So fühle sich Paul, genau das drückte seine Stimmung aus, er war eine Schneeflocke gewesen und nun ein matschiger Tropf.

Zwei Finger seiner linken Hand waren beinahe zur Hälfte gefühllos und gelblich weiß. Leichenblass, als wollten sie schon bald nicht mehr zu ihm gehören, als wären sie im Abschiedsstadium, um dann für immer zu verschwinden. Wie seine Zunge. Dies und Das und das Nächste, er zerfiel in Stücke und wusste nicht was das nächste und das letzte Stück sein könnte.

Diese beinahe übersehbar kleine Hässlichkeit seiner bleichen Finger, sie schmerzten nicht einmal, sie waren nur bleich und taub, hatte er bei seinem heutigen Termin vor dem behandelnden Onkologen erwähnt. Der Arzt hatte ihn kurz, bestürzt lächelnd, angesehen und ihm eröffnet, dass sie im Glücksfall nur taub blieben. Und im Falle des Pechs?

Amputation, hatte der Stationsarzt gemurmelt und die Tastatur seines Computers traktiert. Ein Griff zum Handy.

„Wir müssen bei Herrn Paul von Schwanstein, Beacop Eskaliert, Patient Nr. 89C, für die nächsten Infusionen die Vinchristin Dosis herabsetzen“.

Ein zuständiger Kollege am anderen Ende der Leitung schien dagegen zu sein. Bei dem Gespräch konnte Paul verfolgen, dass die Besorgnis nicht seinen Fingern galt, sondern der anzuzweifelnden Statistik in Relation zur befürchteten Überdosis dieser Substanz, die nun in seinem Blut rumorte, die Taubheit und Todesvisionen in ihm hervorrief, ihn aber laut dieser Statistik, am Tod vorbeischrauben und somit letztlich retten sollte.

Vinchristin, ein romantischer Name für ein Teufelszeug, das dazu beitrug sein Lebensmark zu zersetzten und ihm diese scheußlichen Varianten des Todes in den vorderen Stirnlappen pflanzte.

Vinchristin könnte eine dieser Schneeflocken heißen, oder es könnte der Name eines edlen Weines sein. Paul schluckte den trockenen Speichel und stemmte sich in die nächste Kurve. Wie lange hatte er schon nicht mehr gemütlich, in angenehm erregender Begleitung, einen guten Tropfen genossen? Wie lange hatte er schon nicht mehr genossen, egal was. Einfach nur genossen!

Den Wein, das Schlafen, das Wachen, das Lieben, das Leben. Nicht einmal seine Musik brachte ihm den vermissten Frieden. Wie lange schon stocherten die Trauer, der Dorn der Zungenlosigkeit und zusätzlich die Hebel des Vinchristin und ihrer Konsorten in seiner Seele? Diese Hebelwirkung bestimmte nun sein Dasein. Er stolperte von Tag zu Tag, manchmal nur von Minute zu Minute. Würde er je wieder genießen können, ausgiebig genießen, bevor er in der Erde verrottete?

Paul war jung, er hatte um wenige Jahre die Dreißig überschritten und schon stand sein Verrotten vor der Tür. Sein Körper sei stark, hatte man ihm immer wieder bestätigt. Zu stark zum Sterben? Er hatte Angst und Ekel, Schmerz und Wut, er war sterbenskrank und fühlte sich in manchen Momenten trotzdem widersinnig, lächerlich lebendig. Abseits seines Körpers, fühlte er ein starkes intaktes Ich. Ein Sein, für das ein ewiger Untergang einfach undenkbar war, als berührte ihn seine Krankheit nur peripher, als sei er nur ein Zuschauer dessen, was mit ihm geschah. Das verlieh ihm sogar die Arroganz, Mitleid mit den Schneeflocken zu empfinden. Kurze Momente, die von ihm selbst ablenkten.

In Gedanken versuchte er den Schnee aus dem ewigen Verfall herauszuheben, einige noch tanzende Flocken verfolgend und in seinen Blick saugend, als wollte er jedem einzelnen Schneekristall Mut zusprechen.

Es sei doch, genau besehen, nur ein kurzer Moment des Schmerzes, nur ein Wechsel des Aggregatzustandes. Kein Grund zur Traurigkeit, kein Grund zur Panik. Wenn man dieses kleine und doch so enorme Nur, als solches erkennen könnte, es in sein innerstes Verständnis aufnähme, wäre das Geschehen leichter zu ertragen und vielleicht, irgendwann, auch zu verstehen.

Er starrte durch das schlierige Glas der Busscheiben in das sanfte Schneegestöber hinaus und lächelte. Wieder ein wenig irre. Einige Geschmacksdrüsen waren ihm geblieben, zusammen mit einem kleinen Seitenlappen seiner Zunge. Außerdem die bestürzende Ziffer, Null Komma Null zwei auf der Tabelle der Leukozyten. Wobei vier Komma Null, das Minimum gewesen wäre, welches ein Mensch an Abwehrkräften benötigt, um dem Untergang durch Ansteckung jeglicher Art halbwegs zu widerstehen. Mit den Thrombozyten sah es ebenfalls recht bedenklich aus. Er war übersät mit kleinen Blutergüssen. An allen Ecken und Enden seines Körpers blühten sie auf, ohne dass er sich erwähnenswert gestoßen hätte, doch als sei er gründlich und zielbewusst mit einem Knüppel verprügelt worden. Allerdings wies sein Gesicht diese blauen Flecken nicht auf, dort konnte man nur die dunklen Ringe um seine Augen bewundern. Ein erstaunlich stumpfes, tief dunkles Blauviolett, von mattem Gelb umrandet. Man hatte ihm eine ordentliche Portion Spenderblut einverleiben müssen, das mischte sich nun hilfreich zwischen die überhand genommenen weißen Blutkörperchen. Er hatte danach, der angeordnet stationären Obhut für die nächsten drei Tage widersprochen und auf eigene Verantwortung das Hospital verlassen.

Paul blickte aus dem Fenster in die spritzend graue Pampe am Straßenrand und zerrte seine Wollmütze zum hundertsten Mal über die Ohren. Einige Menschen husteten. Irgendjemand hustete immer, egal wo man sich befand. Eine Gewohnheit, als sei das Husten wie das Atemholen, wie das Pinkeln, Essen und Schlafen, immerzu nötig. Paul wandte seinen Kopf aus der Hustenrichtung. Sein Mundschutz war draußen an der Bushaltestelle nass geworden, er hatte ihn zusammengeknüllt in der Jackentasche kleben. Nun konnten Viren und ihre gierigen winzigen Helfer sein desolates Abwehrsystem belächeln, zusätzlich an ihm nagen und ihn vollends zu Fall bringen.

Die inneren Enden der Wölbungen, seiner zu besseren Zeiten stark und perfekt geformten Brauen, verstärkten nun gemeinsam ihren Knick des Zweifels nach oben. Eine nackte, winzige Parallele entstand. Sein Mund war weich, er drückte beim ersten Hinsehen Verletzlichkeit, Enttäuschung und Trotz aus. Der feuchte Mundschutz blieb in der Tasche. Er hatte den Hustenden den Rücken zugewandt, als könnte ihn das mitten in dem dampfenden Businhalt schützen. Das untere Drittel der Fensterscheiben war beschlagen, nur die Stehenden sahen das leichte Schneetreiben und vielleicht auch sein Spiel in der winterlich grauen Helligkeit.

Pauls weicher Mund wirkte erstaunlich zugehörig zu seinem kantigen Kinn, seinem schmalen langen Gesicht, dem Blick und seiner ganzen Haltung, die eine deutliche Unnahbarkeit zeigte. Während seiner Verdunklung, im stark fröstelnden Zustand, war die kleine Zahnecke eifrig am Werk.

Und dann war die besorgte Taschentuchdame in Aktion getreten. Sie hatte dem leuchtenden Blutstropfen ihres Busnachbarn offensichtlich nicht mehr widerstehen können, hatte seine zitternde Unterlippe mit der Aufmerksamkeit eines Diamantenschleifers berührt und erst beim wiederholten Tupfen sein Kinn energisch in ihre Hand genommen, und losgeplappert.

Bei ihrer Berührung waren die silbergrün lackierten Fingernägel mit einem fühlbar sanften Geräusch über sein Kinn geknirscht. Doch eigentlich war es kein Knirschen gewesen, er hatte sich dieses kleine Geräusch nur eingebildet, da er es vermisste. Es gab keine Bartstoppeln, die dieses feine Knirschen der Erinnerung hätten hervorzaubern können, und es hatte lange keine Frau gegeben, die mit ihren Fingernägeln an ihm entlang geschlendert war. Bis jetzt, bis zu diesem Moment.

Paul hatte in schnellen, unhörbar kurzen Stößen die Luft eingesogen und langsam wieder ausgeatmet. Dieser unerhörte Duft hatte seine Übelkeit vertrieben, hatte Paul, den dürren Ritter ohne Orden gestreift und ein Gefühl von Ankunft hervorgerufen. Ihr besorgter Blick auf ihn, hatte sogar den Ansatz eines spöttischen Lächelns in seine abweisende Grimasse zaubern können.

Wie lächerlich unnötig war diese kleine Besorgnis einer Unbekannten um seine Lippe, um einen kleinen vergifteten Blutstropfen, oder zwei. In Relation zu der Situation, in der er feststeckte, war es wirklich absurd. Sein Geruchssinn schlich um diesen besonderen Duft. Paul schnupperte wie an einen Notbremshebel, der seine flüssigen Gedankengänge über das Verderben ins Stocken gebracht hatte und ihm einen Hauch von Frühling schenkte. Der Duft war es und ihr Blick, auf den Rest konnte er verzichten.

Das war ein äußerst unsinniger Gedanke, eine Frau konnte man nicht wie durch ein Sieb pressen und sich die Rosinen herauspicken. Paul forschte, wie er trotzdem diese beiden Annehmlichkeiten in Anspruch nehmen könnte, ohne die ganze schillernde Person ertragen zu müssen. Annehmlichkeiten, die sein Leid einige Momente lang verdrängt und ihn so ungewohnt und unerwartet erwärmt hatten.

Seine Libido war durch die gelobten Errungenschaften der medizinisch pharmazeutischen Wissenschaft und durch seine erlebte Liebestragödie in den Tiefschlaf versetzt worden. Wobei Paul nicht zu sagen wusste, was erstrangig zuständig war für dieses Schlafbedürfnis. Doch sein Geruchssinn hatte nun einen winzigen Zipfel dieser Libido ergriffen und sanft an ihr gerüttelt. Was sollte es sonst gewesen sein? Woran sonst konnte sein Geruchssinn gerüttelt haben? Wonach roch diese Frau so ungewohnt und wohltuend? Es war nicht einmal ein nennenswert guter Geruch, es war einfach „ihr“ Geruch. Vielleicht war es nur dieser lächerliche, von Spitzen umsäumte Lappen in ihrer behandschuhten Hand. Wie und woher zauberte sie außerdem, hier in dem trüben Busgetümmel, diese Glut in ihren Blick. Glut vermischt mit unerwarteter Güte.

Sie hatte nun ihren fein gelöcherten Lederhandschuh mit den Zähnen abgestreift und wenige Millimeter dieses Leders immer noch lässig, zwischen höchstens drei ihrer gepflegten Zähne eingeklemmt. Der Handschuh hing seitlich an ihrem Kinn, während sie ihn betupfte! Paul ließ sie gewähren.

Der zweite Handschuh, der mit dem Taschentuch, war an ihrer Hand geblieben. Was Paul zu ungläubigem und gleichzeitig spöttischem Grinsen veranlasst hatte, war nicht nur der Handschuh, der wie apportiert an ihrem Kinn hing oder die alberne Mühe um seine aufgesprungene Lippe, sondern auch ihre plötzlich veränderte Sprechweise mit diesem Stückchen Leder zwischen den Eckzähnen. Sie brachte zwar noch verständliche Worte hervor, trotzdem hatten diese Worte eine unbestreitbare Ähnlichkeit mit Pauls Sprechversuchen. Das rief eine weit greifbarere, eine verständlichere Zugehörigkeit in Paul hervor als diese Art gemeinsamer Zeitstillstand des Momentes zuvor.

Der Busfahrer lenkte seine hustende Fracht durch einen Stadttunnel. In diesem gedämpften Licht schätzte Paul sie auf etwa Mitte oder Ende Dreißig.

Was sollte das? Warum strebte sein Gehirn zu einer Altersschätzung. Flink und unkontrollierbar forschte es nach dem Alter dieser Frau. An der Tunnelausfahrt, etwa Mitte Vierzig, und als sie zurück in das Licht des späten Schneevormittages tauchten, hätte diese Dame, nach Pauls Schätzung, auch die Fünfzig schon erreicht haben können. Das änderte nichts an ihrem Duft, dem Hauch von Etwas, das in Paul hineingestürmt war und ihn belebte.

Im Koordinatensystem seiner Wahrnehmung gab es offensichtlich einen Schnittpunkt, an dem sich das äußere Geschehen mit seinem Inneren, seinem Unbewussten spürbar traf. Der geheimnisvolle Duft hatte diesen Punkt ergriffen. Zahlreiche Töne beider Welten trafen in Paul aufeinander, sie wurden von ihm intensiv und gleichzeitig empfunden.

Dann, ein plötzliches Verstummen, ein Wimpernschlag lang noch bebten die Töne in ihm nach, dann fielen sie in sich zusammen, wie ein feinster Aschehügel über einem kleineren Erdloch. Und es schien Paul, als polterten sie in ihrer Lautlosigkeit. Und schon hatte er sich von einer frühesten, unbewussten Erinnerung abgewandt und sich für die gegenwärtige Außenwelt entschieden.

Der Bus stoppte. Paul entdeckte winzige Fältchen am mittleren Ohransatz, haarfeine Hautrillen die ihm entgegen lächelten. Sie hatten sich mit Hilfe der Zeit genau dort gebildet, wo der äußere Teil des Gehörorgans, der kleine muschelförmige Knorpel, seinen konkaven Bogen ansetzte. Die zugehörig berühmten Läppchen wurden von schwerem Ohrschmuck ein wenig heruntergezogen. Kein silbriges Haar ließ sich blicken. Dann bemerkte Paul, auf seiner kurzen Entdeckungsreise über dieses Gesicht, feine, strahlenförmige Linien über der stark geschminkten Oberlippe.

Sie lachte, und Pauls Aufmerksamkeit erheischte eine Lippenstiftspur auf einem ihrer Vorderzähne. Er zog seinen zerknitterten feuchten Mundschutz aus der Tasche, suchte einen trockenen Zipfel und beugte sich ein wenig zu ihr hinab. Dann bleckte er unmissverständlich seine Zähne vor ihr und näherte sich mit dem Mundschutz umwickelten Zeigefinger ihrem Gesicht. Sie hatte verstanden, gehorchte wie ein folgsames Kind, dem man die Nase putzen will, reckte ihm ihr Gesicht entgegen und zeigte ebenfalls ihre Zahnreihe. Paul entfernte das leuchtend fettige Rot von ihrem Zahnschmelz und zeigte ihr den kleinen Fleck wie eine Trophäe.

„Jetzt sind wir quitt“, meinte sie lachend. Es kam keine Peinlichkeit auf, als hätten sie sich seit Ewigkeiten unpassende Tropfen gegenseitig aus dem Weg gewischt.

Endstation Flughafen, Paul hatte seine Station verpasst, schon längst. Er nahm ihre Einladung zu einem Kaffee mit Mittagessen an, obwohl er befürchtete keinen Bissen schlucken zu können, ohne dass er kotzen müsse. Außerdem wäre es nicht einfach, etwas Geeignetes für ihn auf der Speisekarte zu finden, denn seine Mundschleimhaut lag in Fetzen. Sie war durch einen hartnäckigen Pilzbefall an ihre Grenzen gelangt. Ein weiteres Übel der vielfältigen Nebenwirkungen seiner Chemotherapie.

Alternd, dieser Begriff kam Paul noch kurz durch den Sinn, bevor er ihr beim Aussteigen spöttisch galant behilflich war. Schwindelerregend hohe Absätze zierten ihr gebrechlich zart wirkendes Schuhwerk, das ein wenig bis über ihre Fußgelenke reichte und im salzigen Schneematsch zu versinken drohte.

Alternd? Wie abwegig dieser Gedanke, alles ist alternd, nicht nur eine Frau, die versucht durch ihre Aufmachung davon abzulenken. Und dann bemerkte Paul, dass er sie um dieses Alter beneidete. Ein Alter, das er wahrscheinlich, so wie es im Moment aussah, nicht erreichen würde. Wie lebendig sie wirkte, sie verkörperte beneidenswerte Gesundheit. Sie gingen nebeneinander her. Paul fühlte sich plötzlich hilflos, er hatte schnell beide Hände tief in seine Jackentaschen geschoben und wusste nicht, was ihn an ihre Seite fesselte. Seine Schultern waren hochgezogen, bis zum Ansatz seiner Mütze. Seine zierliche Begleiterin hakte sich bei ihm ein und tänzelte neben ihm her. Dabei hing sie fast an ihm, und Paul sah sich gezwungen seinen Schritt zu drosseln.

Was machte er plötzlich am Flughafen? Was wollte er von dieser Frau? Er sollte schleunigst nach Hause, sich in seinem Bett verkriechen, bevor ihn die heutige Verabreichung seiner Chemoinfusion umhauen würde. Er fror immer noch erbärmlich, aber er blieb und beugte sich statt-dessen ein wenig zu ihr hinunter und schnüffelte an ihrem Haar. Und wieder dieser Duft! Er sog tief und gierig dieses Sonderbare ein, etwas, das nach Leben und gleichzeitig nach Geborgenheit duftete.

Sie hatten sich nebeneinander in die Sitzbank eines der Flughafen Bistros geklemmt. Sie plauderte, und Paul erfuhr einiges über ihr Leben. Sie war oft in Marrakesch und besaß dort ein Haus, mitten in einem parkähnlichen Garten von einer hohen Mauer umsäumt. Paul sah sich ein paar Fotos an, hohe Mauern um Irgendetwas gefielen ihm gar nicht. Diese Mauer aber, in ihrem dunklen Rosa, wirkte nicht bedrohlich, sie erweckte in ihm eher das Gefühl etwas Märchenhaftes zu verbergen. Er erkannte Palmen, exotisches Gewächs und ein Gebäude, das ihn überraschte. Kein Pseudopalast wie erwartet, überladen und mit Kitsch verziert. Das Haus war eine architektonische Sonderheit, hochmodern und trotzdem passte es in dieses Märchen. Moderne Architektur interessierte ihn, das gab er zum Ausdruck. Er wurde eingeladen mitzukommen. Mit ihr zu fliegen. Heute, jetzt, sofort!

Der Flug war ausgebucht. Paul dachte gar nicht nach, er wollte plötzlich nach Marrakesch. Und zwar genauso, wie sie es vorgeschlagen hatte. Heute! Er hatte mehr als eine Stunde lang seine Pein vergessen, er fühlte sich wiederbelebt, und er hatte einen erfüllbaren Wunsch vor Augen. Marrakesch und die Nähe dieser Frau.

Sie war nicht erstaunt, als er ihrer Aufforderung mitzukommen zustimmte, jedoch hocherfreut. Sie war ebenso wenig erstaunt, als er sie mit einer schriftlichen Zeile auf seinem Smartphone, von der Existenz eines eigenen Privatjets informierte. Ein Spielzeug seines Vaters, mit welchem er hinüberfliegen könnte. Falls ein Pilot, den er im Visier hatte, sich einverstanden erklärte. Paul besaß keine Flugerlaubnis.

Sie nannte ihm ihre private Handynummer. Paul tippte die Zahlen ein und drückte automatisch auf aktivieren, um zu kontrollieren, ob er die richtigen Ziffern eingegeben hatte. Ihr Smartphone lag vor ihnen auf dem Tisch, der Klingelton ertönte, und im selben Moment erstrahlte auf dem Display Pauls Gesicht. Er hatte dicht neben ihr gesessen und sich erkannt, samt einem Fenster seines Elternhauses im Hintergrund.

Das war nicht vorgesehen gewesen, sie bedeckte hastig ihr Handy, bis die etwa zehn Jahre alte Aufnahme mit dem Paul Portrait in der Dunkelheit des Displays verschwand. Der letzte Aufruf, Flug nach Marrakesch, die Passagiere sollten sich sofort zum Gate begeben. Sie umarmte ihn kurz und überraschend heftig und eilte durch die Sicherheitskontrolle davon.

„Wir sehen uns heute Abend in Marrakesch, ich warte auf Sie“, rief sie ihm noch zu.

Schon war sie aus seinem Blickfeld verschwunden, lange, bevor er seine Fragen hätte schreiben können. Wie kam sie an dieses Foto, wieso, warum und überhaupt, was war hier los? Auch die Frage, ob sie nicht lieber im Privat Jet mit ihm fliegen wolle, blieb in ihm hängen.

Sie reiste viel und niemals mit Gepäck. Sie besaß alles dreifach, Nötiges und Unnötiges, hier in Deutschland und dort in Marokko. Außerdem hatte sie eine Wohnung in London. Sie war Witwe, erfolgreiche Modedesignerin, war gesund und wirkte, als hätte sie keine Zweifel.

Erst dann war Paul aufgefallen, dass sie ebenfalls seine Sprachlosigkeit als selbstverständlich hingenommen hatte. Sie hatte nicht mit der Wimper gezuckt, als er für einige Sekunden seine Glatze entblößt hatte. Sie zog ihn an, wie ein Magnet, und gleichzeitig war sie ihm auf eine seltsame Art unheimlich. Und, sie schien ihn zu kennen!

Dieses Geheimnis brachte Leben in ihn, er wollte es lüften, und er fühlte sich ungewohnt motiviert. Und wenn es die letzte Tat in seinem Leben sein sollte, er musste diese Frau wiedersehen, seine Atemwege mit ihrem Duft verwöhnen und Kraft aus ihrem Blick empfangen. Jetzt erst betrachtete er die Visitenkarte mit ihrem Logo. Mi Mi Fa. Miriam Miller Fashion, London-Berlin-Marrakesch.

MiMi, das klang in Pauls Ohren nicht gerade seriös, er assoziierte es mit einer Katze. Katzenmode? Gab es so etwas? Paul fand, dass Mimi allerdings zu ihr passe, zu dieser zarten, und wie ihm schien ebenso zähen Frauengestalt mit ihren grünen Krallen. Diese Dame versprach höchst problematisch und unbeirrbar zu sein, wenig gefügig und schon gar nicht erpressbar. Er irrte sich.

Zu dem Gedanken einer Unbeirrbarkeit mischte sich Aisha, seine verstorbene Geliebte. Sie hatte für ihre Standfestigkeit ihr Leben gelassen. War es das wert gewesen? War er, Paul, das wert gewesen?

Er erinnerte sich an einen Film, in dem er von dem Schlachtruf der Republikaner des spanischen Bürgerkrieges erfahren hatte: „Lieber stehend sterben, als kniend leben“. Das schien ihm paradox, denn ein Leben zählte mehr als der Stolz, mehr als Prinzipien, politische oder religiöse Vermächtnisse oder sogar mehr als die Liebe.

Paul hätte sich gerne mit dieser MiMi darüber unterhalten, er hätte gerne von ihrem Stolz und ihrer Liebe erfahren, aber das Programm seines Smartphones spuckte für seine Bedürfnisse die benötigten Worte zu langsam heraus, um mit getippten Sätzen eine richtige Unterhaltung führen zu können. Wer brachte außerdem die Geduld auf, zu warten, was er von sich zu geben wünschte und dieses, verdammt noch mal, im Telegrammstil. Wenn er tippte, war ihm ein Augenkontakt kaum möglich. Also blieb er das was er war, ein stummer Mann.

„Der weise Mann hört zu, beobachtet und schweigt.“ Diese chinesischen Weisheiten, der pure Hohn! Paul hatte nie die Weisheit als Ziel vor Augen gehabt, nun war ihm unfreiwillig die Möglichkeit gegeben, weise zu werden. Ob ihm noch die Zeit dazu blieb?

Er fuhr mit dem Taxi zu Vaters Privat Jet, dessen Lieblingsspielzeug, das nun Paul gehörte. Ohne Gepäck und ohne vorher in der Apotheke seine bestellten Chemie cocktails abzuholen, seine dringend benötigten Nebendosen für die nächsten acht Tage.

Schleimhäute in Mund und After lösten sich von ihm. Falls er etwas aß, konnte es momentan nur unter Schmerzen und als Brei geschluckt werden, er bemühte sich also gar nicht erst um Proviant. Zu seinem Pilzbefall im Mund hatte sich ein neuer, gefährlicherer Pilz eingeschlichen, durch heißes Duschen war er mit dem Wasserdampf in die Atemwege eingedrungen. Das könnte eine Lungenentzündung hervorrufen, in seinem Falle tödlich. Seine Nieren bräuchten sehr bald künstliche Verstärkung, sein Herz protestierte mit starken Rhythmus-Störungen, seine Leber war übermäßig vergrößert. Er schluckte täglich morgens und abends eine Handvoll Pillen, begleitend zu der Chemotherapie. Zusätzlich Pillen der wichtigsten Mineralien, Zink, Selen, Magnesium. Zudem, Pillen gegen den Brechreiz, Pillen gegen die Schlaflosigkeit und Pillen gegen die Schmerzen. Rote, weiße, blaue, gelbe, rund oder in länglichen Kapseln. Das Einnehmen zog sich manchmal über Stunden hin. Der Schluckreflex streikte. Außerdem war er unfruchtbar geworden. Er hatte es abgelehnt vor dem ersten Chemoschub eine Portion Sperma einfrieren zu lassen. Danach hatte ihm wirklich nicht der Sinn gestanden. Was, in Teufels Namen, hatte er noch zu verlieren? Also, auf nach Marokko, vielleicht sein letztes Abenteuer in diesem Leben.

Kein und Aber oder die gestohlene Zunge

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