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Sich Sehnen

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Sich erfolgreich zu sehnen, darin hatte Paul während seiner Krankheit eine spezielle Fähigkeit entwickelt, die er mit viel Mühe ergriffen und zu einer Art Meditation ausgefeilt hatte. Dadurch gelang es ihm manchmal ein Lebensgefühl zurückzufordern, sich darin wiederzufinden, bis hin zum Erleben zwar imaginärer aber trotzdem wahrnehmbarer Glücksmomente. Das Glück fühlte sich dann für ihn real an, es war da, nicht nur in Gedanken, und das konnte einen Sprung der Freude in ihm auslösen. Mitten in einem Chemoschub! Das hieß, besonders ein zwei Tage später, wenn dieser achttägige Schub beendet war und es ihm noch schlechter ging als ohnehin schon. Dann, wenn die Freude am nötigsten war, wenn die Therapie wirkte und ihr Unwesen in ihm trieb. Wenn er an Zweifeln zu ersticken drohte und glaubte, mit den wissenschaftlichen Hochglanzergebnissen der Medizin, auf die er sich hoffnungsvoll eingelassen hatte, in die falsche Richtung zu galoppieren. Wenn er zu spüren glaubte, wie sein Körper innerlich zerrissen wurde. Wenn er befürchtete, niemals die Kraft mobilisieren zu können, diesen geschundenen Leib wieder aufzubauen, aufbauen zu müssen, zur Alternative des Sterbens.

Dann, genau dann, wenn ebenfalls die Tabletten gegen die physischen Schmerzen versagten, aus unerfindlichen Gründen nicht wirkten, wenn dieser ihn zerreißende Schmerz im tiefsten Knochenmark fast unerträglich wurde, wenn er ein schreiendes Gurgeln von sich gab, ein Gurgeln, das keinem normalen Schmerzensschrei mehr glich, wenn er fühlte, ein winziger Schritt weiter und der Tod hätte gesiegt, dann zerrte er mit dem letzten kleinen Rest des verbliebenen Bewusstseins die Sehnsucht hervor. Ein winziger Strohhalm, der sich als rettende Fähre erwies und ihn in eine Art Hafen schiffte. Ein Hafen, der einer Bewusstlosigkeit zwar ähnelte, es aber nicht war, und der trotzdem den Schmerz draußen ließ.

Er hatte am Wendepunkt des Erträglichen den Schalter umgedreht und auf Sehnsucht geklickt, als wäre er von seinem Körper getrennt worden. Eine erwünschte Welt spielte sich nun in seinem Kopf so wahrnehmbar und deutlich ab, als erlebe er sie wahrhaftig. Sie wirkte nicht einfach nur wie eine ordinäre Ablenkung von Trauer, Schmerz und Angst, sie bescherte ihm auch das heilende Erleben der Freude.

Die gelungene Eigenproduktion des Ausstoßes einer gehörigen Dosis Serotonin, würde sein Arzt gesagt haben. Ähnlich, wie bei einem Unfallopfer, bei dem sich der Schmerz wegen eines verlorenen Körpergliedes erst dann einstellt, wenn die Schutzreaktion des Körpers seine Opiate zu produzieren, nachlässt. Nichts weiter!

Paul sah das anders. Er schloss dann die Augen, versuchte die kurze, beinahe aussetzende Schmerzatmung zu regulieren, um eine ausgeglichene Tiefenatmung hervorzuzaubern und begab sich in die Welt des Wunsches und des Willens um diesen Wunsch. Dieser Wille konnte ihn so stark erfassen, dass er aus ihm zu bestehen schien. Paul wünschte nicht mehr, er verkörperte den Wunsch. Seine Krankheit hatte etwas in ihm umgekrempelt, hatte etwas entblättert, hatte eine Fähigkeit und Sensibilität erscheinen lassen, die er nie zuvor wahrgenommen hatte.

Sich nach seiner früheren fabelhaften Gesundheit zu sehnen, war in seinem Wunschprogramm nicht aufgelistet, er wollte nur menschenwürdig überleben, und er wollte seine Zunge zurück. Manchmal wünschte er sich auch in seinem Beruf wieder arbeiten zu können, nicht um die unvergleichliche Kraft des Erfolges aufzusaugen, sondern um endlich anderen Kranken zu helfen. Nun wusste er wie es sich anfühlte krank zu sein. Doch überwiegend sehnte er sich nach dem erregend tröstenden Griff der Liebe, nach ihrem Duft, nach den erhebenden Tönen ihrer verschiedenen Ebenen. Er hatte diesen Griff nur ansatzweise hautnah erlebt und durch den frühen Tod seiner Verlobten verloren. Die Sehnsucht nach ihr war so überwältigend, dass er in seinen weltabgewandten Willens- und Wunschmomenten ihre Anwesenheit im Diesseits nicht nur zu spüren glaubte, sondern wahrhaftig spürte. Ihr Tod war dann nicht nur unvorstellbar, er hatte ganz einfach den Zugang in Pauls innerstes Sein nicht erwirkt. In diesem Zustand war seine Liebste keinesfalls auferstanden, sondern quicklebendig, wie niemals tot gewesen.

Paul war nicht religiös im allgemein verständlichen Sinn, er war der Taufbescheinigung nach ein katholischer Christ. Seine Liebste hatte darauf bestanden, die gemeinsamen Kinder nach seinem Glauben und seinen Vorstellungen der Erziehung aufwachsen zu sehen. Ihm war das egal gewesen, er hätte niemals darauf bestanden. Er war sogar der Meinung, dass es für seine Kinder nur positiv sein könne, mit beiden Kulturen und somit auch beiden Religionen bekannt gemacht zu werden. Der islamischen und der christlichen Welt. Welcher sie dann angehören würden oder es später wollten, fand er nebensächlich.

Schon möglich, hatte Aisha behauptet, doch sähe sie es nicht als positiv, wenn ein Mädchen mit moslemischen Wurzeln, als bedauerte Minderheit unter ihren christlich erzogenen Klassenkameradinnen, täglich über unzählige Hürden stolpern müsste. Hürden, die nichts mit dem Lehrstoff zu tun hätten und den Stolz zu untergraben wüssten. Sie gestand ihm sogar den Wunsch, aus diesem Grunde am liebsten nur Söhne zu gebären.

Wie viele es werden sollten, darüber hatten sie sich noch nicht geeinigt. Zuerst galt es damals, aktuellere Probleme zu lösen.

Aishas Zweifel waren geweckt. Sie hatte zwar schon als junges Mädchen einiges an ihrer Religion zu hinterfragen versucht, unerlaubterweise, aber erst als sie Paul kennengelernt hatte, versuchte sie ihrem Glauben einen Todesstoß zu versetzen. Das begann recht harmlos, damit, dass sie beschloss, wenn sie erst einmal mit ihm verheiratet wäre, sich auch wie eine Frau dieses Landes zu kleiden. Sie wollte an seiner Seite so denken und lernen so zu leben wie er, der Christ. Das konnte doch nicht so schwierig sein, hier war sie schließlich geboren und aufgewachsen. Sie hatte die Regeln der Religion ihrer Väter zwar eingesogen, als sei sie damit verwachsen, hatte sie aber längst nicht mehr als Schutz, sondern auch als drohende Bürde erlebt. Nicht zuletzt, um ihrem Anpassungsbedürfnis an Paul und seiner Liebe gerecht zu werden.

Diesen Riesensprung, sich von ihrem Wurzelwerk zu distanzieren, hatte sie zwar beschlossen, aber es erwies sich dann doch nicht als einfach, ihn auch durchzusetzen. Sie steckte in einem verwirrenden Ungleichgewicht der Gemüter und Lebensauffassungen. Begründet durch die tief verwurzelte religiöse Überzeugung ihrer Familie zu Hause und die Andersheit ihres Alltags dort draußen, mit Paul. Einem Draußen, das sie nun sehnlichst zu ihrem Drinnen zu verwandeln wünschte.

Ihrer Basis Schulausbildung hatte man wegen der bestehenden Schulpflicht zustimmen müssen, ihre weitere Ausbildung, in einer Schneiderei, hatte Aisha gegen den anfänglichen Willen ihrer Eltern durchgesetzt und mit Bravur absolviert. Eine Frau braucht keinen Beruf, hieß es in ihrem Elternhaus, eine Frau braucht nur einen Mann und dieser wird weniger nach ihrem jugendlichen Bedürfnis erwählt, als nach den Überzeugungen und Ansprüchen der Familie.

Dieser Wunsch, einen Beruf zu erlernen, war das äußerste Zugeständnis, das Aisha ihrem Clan mit viel Geduld und Tränen hatte abringen können. Ihr Monatsgehalt war höchst willkommen gewesen, man erwartete selbstverständlich, dass es in der Familienkasse verschwand. Ein Grund, warum sie noch nicht verheiratet worden war.

Aisha hatte sich an Fernkursen für die Hochschulreife eingeschrieben, zu diesem Schritt hatte Paul sie ermuntert. Niemand sonst wusste davon. Weitere Lügen, Schuldgefühle und Nervenkraft. Ihre Begegnungen mit Paul, die aus der Sicht ihrer Religion eine private Hölle der Leidenschaft war, hatten immer vor Sonnenuntergang und fast ausschließlich in seiner Wohnung, die im Haus der Schneiderwerkstatt lag, stattgefunden. Dort konnte sie auch in Ruhe lernen. Offiziell war sie beinahe eine gehorsame Tochter gewesen, man hätte für ihre Treue zur Familie sogar die Großmutter und ein kleines Stück der Mutter verpfändet, bis ihr Doppelleben aufgeflogen war.

Einer ihrer Brüder wollte sie von der Arbeit abholen, das war noch nie vorgekommen. Er musste dringend mit Aisha reden, allein, sie um einen Gefallen bitten. Er kam um die Ecke geeilt, sah ein verliebtes Paar im Hauseingang stehen und bremste seine Schritte ab. Dort wurde inniglich geküsst. Die Frau hatte ihre Haarpracht mit einem Kopftuch verdeckt, diese Tatsache hatte seine Aufmerksamkeit besonders erregt. Keine keusche Muslima küsst in der Öffentlichkeit einen Mann, und sei die Öffentlichkeit noch so versteckt wie dieser Hauseingang. Der Bruder verachtete solche Geschöpfe, ohne beim ersten Blick seine Schwester von hinten erkannt zu haben. Doch dann erstarrte er und rief ihren Namen. Erschrocken drehte Aisha sich um. Sein Blick traf sie wie ein Dolchstich und erinnerte sie daran, dass das, was sie dort tat, dieser kleine Kuss, dem Begriff der Unzucht unterlag, und dass sie mit dieser Liebe vielerlei unverzeihliche Vergehen auf sich zog.

Nach einer sehr kurzen Anhörung vor den fassungslosen Eltern, war die unerhört ungehorsame Tochter zunächst einmal eingesperrt worden. Sie hatte sich ohne die Zustimmung ihrer Familie verlobt! Heimlich verlobt! Ein Ungläubiger hatte sich ihr zwischen die Schenkel geschoben und die Familie befleckt. So drückten es die Brüder aus. Und das Schlimmste des Schlimmen erfuhren sie von Paul, diesem Verächter des wahren Glaubens, als er seine Braut aus den Fängen der Familie zurückforderte.

Aisha war nicht zu dem verabredeten Treff in seine Wohnung gekommen, Paul war besorgt gewesen. Als sie am nächsten Tag, ohne Nachricht, wieder nicht erschienen war, hatte er den Sprung in die Höhle des Löwen gewagt. Er schritt wie selbstverständlich in die Gemüter ein, stellte sich als Aishas Verlobter vor und sprach, als hätte er einen alleinigen Anspruch auf die Tochter des Hauses.

Er hatte die Familie bestohlen und wagte sich frech in deren Nähe? Man ließ ihn allerdings eintreten. Wie er sich das vorstelle, hatte der Vater ihn zuerst scheinheilig, doch unübersehbar feindselig gefragt.

„Undenkbar für unsere Familie“, hörte Paul ihn auf die simple Rechtfertigung der Liebe antworten.

Aisha war die Erstgeborene. Drei ihrer wenig jüngeren Brüder konnten ihre Aggressionen kaum zügeln, sie schrien sich gegenseitig in ihrer Muttersprache an. Paul verstand kein Wort. Ein paar kleinere Kinder heulten. Die Mutter putzte sich alle fünf Sekunden die feuchte, lange Nase und gab fortwährende Schluchzer von sich. Ihre Leibesfülle, die Nasenlänge und gerötete dunkle Vogelaugen, war alles was Paul an diesem Gesicht in Erinnerung blieb.

Dann war das Geheimnis einer beinahe konvertierten Aisha über Pauls Zunge geglitten und zusätzlich auf die erhitzten Gemüter herabgestürzt. Eine teuflische Zunge, wie er erfuhr.

Aisha hätte schon vor einigen Monaten ihrem Glauben den Rücken gekehrt, ihm zu Liebe sei sie nun bald eine Christin, hatte Paul heraus trompetet. Sie würde von einem katholischen Priester darauf vorbereitet. Sie sei schließlich zweiundzwanzig Jahre alt und bräuchte für Nichts die Zustimmung ihrer Eltern. Selbstbewusst und ahnungslos hatte Paul diesen gewagten Schlusspunkt gesetzt.

Eine Verleumdung und doppelte Beleidigung. Man schrie ihm diese Worte entgegen. Obwohl die betroffene Familie ahnte, dass dieser Schmutzfink Paul die Wahrheit verkündet hatte, beschimpften sie ihn als elenden Lügner und drohten ihm mit der ewigen Verdammnis. Man wüsste, wie das zu rächen üblich wäre, man würde sich nicht scheuen, er würde nie wieder stehlen und lügen.

Paul hatte die jämmerlichen Schreie seiner Braut aus einem Nebenraum gehört. Sie hatte seine Stimme erkannt und verlangte stürmisch nach ihm. Ununterbrochen hatte sie seinen Namen gerufen und gegen eine Tür gehämmert, bis ein Bruder in ihr Zimmer gestürzt war und es danach erschreckend still wurde.

Paul hatte versucht an diese Zimmertür zu gelangen, was eine vorhersehbare Unmöglichkeit war. Er wurde von drei kraftstrotzenden Jugendlichen unsanft ergriffen und an dem aussichtslosen Befreiungsversuch gehindert. Der Vater war stumm, wie versteinert im Hintergrund geblieben, er hatte verachtend auf den protestierenden Paul gestarrt und es schien erstaunlich, dass er nicht das Feuer eröffnete oder ihn zumindest anspuckte. Dann fand sich Paul draußen im Rinnstein sitzend wieder. Ein Bruder Aishas, der sich ihm als Mehmed vorstellte, hatte ihm die Jacke nachgetragen und ihm, als Paul sich stöhnend aufrichtete, auf die Beine geholfen. Er hatte freundschaftlich gemurmelt, es täte ihm leid, aber das sei so üblich, zuerst einmal Widerstand, später würden die Wogen sich schon noch glätten. Über eine gerechte Strafe für Paul, müsste die Familie sich allerdings noch einigen, die ganze Gemeinde würde nämlich darauf bestehen.

„Eure alberne Strafe könnt ihr euch an den Hut stecken“, hatte Paul verächtlich geschrien. Er war sofort zur Polizeiwache gefahren. Dort hatte man ihn mitleidig angesehen und ihm versichert, dass es in diesem Land kein Recht gäbe in solch einem Fall einzugreifen. Man hatte ihm ja erstens, wie man sieht, nichts angetan, sondern ihn lediglich aus dem Haus befördert. Und zweitens, hätte er nicht gesehen, dass diese Frau misshandelt worden sei. Es sei nur seine Vermutung! Das seien innerfamiliäre Auseinandersetzungen. Das Problem hätte er wahrlich voraussehen können, er sei schließlich nicht der Erste, dem eine Braut aus diesen Kreisen entzogen würde. Das sei doch allgemein bekannt.

„Wie naiv sind Sie eigentlich? Sie können doch nicht ohne Zustimmung der Familie, ungeschoren eine Moslem- Frau entjungfern und zusätzlich einen herzlichen Empfang erwarten. Gehen Sie besser in Zukunft dieser Sippe aus dem Weg, sonst kann Ihnen eine Kastration blühen.“

Die Beamten lachten über diese Drohung, und Paul sah sie erschrocken an.

„Das ist ein Scherz, Mann, aber seien Sie vorsichtig und vergessen Sie diese Braut.“

Paul konnte seine Aisha nicht vergessen. Wenige Tage später musste er, durch den verräterischen Bruder, dem Auslöser des Übels, vom Tod seiner Liebsten erfahren. Sie sei angeblich aus dem Fenster gesprungen. Zu dieser grausigen Nachricht bekam er einen Abschiedsbrief überreicht. Dieses Stückchen liniertes Papier zerschnitt seine Trauer in tausend stechende Splitter, welche Tag und Nacht im ganzen Paul aktiv waren. Die tote Aisha erklärte ihm darin, dass sie alles bereue und sich schäme für das, was sie getan habe, dass er sich zum Teufel scheren solle und dass sie den einzigen Ausweg wähle, der in diesem Fall zu wählen ihr übrig bliebe, nämlich ihrem Leben ein Ende zu setzen. Nur so könne sie vor Allah und ihren Eltern wieder rein werden.

Wieder rein werden? Sie war das reinste Wesen, das er sich vorstellen konnte. Und „getan“ nannte sie ihre Liebe zueinander? Ist sie etwa gefoltert worden? Warum hatte er das nicht verhindern können! Warum hatte er diesen Tod nicht verhindern können!

Er hatte den Islam wie eine philosophische Kuriosität angesehen und nun erfahren müssen, dass es sich um eine quicklebendige Macht handelte, die in sein Leben gegriffen hatte. Er hatte nicht mehr die Zeit gehabt einen Plan zu schmieden, um seine Braut aus den Fängen dieser Familie herauszerren zu können. Nun war es zu spät, er war zu langsam gewesen, zu zögerlich. Er wusste nicht einmal wo und wie sie beerdigt worden war. Er hatte den Ernst der ganzen Angelegenheit unterschätzt, er hatte versagt und er glaubte für ihren Tod verantwortlich zu sein.

Paul hatte diesen Brief beinahe bis zur Unkenntlichkeit oft zur Hand genommen, ihn mit seinen Fingern abgewetzt und immer wieder gelesen, bis ihm klar wurde, dass es zwar ihre Handschrift war, aber nicht ihr Stil mit ihm zu sprechen. Obwohl, wenn man sich umbringen wollte, wählte man dann den normalen Ton?

Sie hatte ihn nie bei seinem Namen genannt, von Anfang an nicht, schon vom ersten Tag ihrer Bekanntschaft an hatte sie ihn Pal genannt, nicht Paul. Und wenn sie zärtlich wurde, Pali.

Kein attraktives Kosewort, aber es gab dümmere, und Paul mochte es, wenn sie ihn so genannt hatte. Denn genau dann hatte er in den schönsten Momenten seines bisherigen Lebens gesteckt. Ohne dabei in die Verlegenheit zu geraten, entscheiden zu müssen, ob man den Zustand nach einem gelungenem Liebesakt mit biblischer Stille betiteln durfte, oder ihn in bester Koranpoesie beschreiben sollte.

In diesem letzten Brief nannte sie ihn Paul. Der Text war sehr unbeholfen, er zeigte wenig von der Art, wie sie sich auszudrücken pflegte. Auch erschien ihm das letzte Wort fremd.

Nachdem er ihr einmal die Geschichte vom Aschenputtel erzählt hatte, bezeichnete sie sich scherzhaft als Aschemädchen. Dieses Wort hatte sich zwischen ihnen eingespielt, er benutzte es auch in besonderen Momenten ihrer verbotenen Zweisamkeit, und wenn sie ihm eine Nachricht im Briefkasten hinterlassen hatte, fehlte niemals am Ende des letzten Satzes, „dein Aschemädchen“

Paul war damals fassungslos gewesen. Er hatte keinen Zweifel mehr daran gehabt, dass man Aisha gezwungen hatte diesen Brief zu schreiben. Man hatte ihn ihr höchstwahrscheinlich diktiert und sie dann aus dem Fenster gestoßen. Unfassbar, wie konnte die eigene Familie so etwas fertigbringen. Nur um die idiotische Ehre zu retten. Dieses zweifelhafte Gefüge, das über so vielen Begriffen und Vorstellungen herrschte und sein Unwesen auf der Welt an Leib und Seele trieb.

Er machte sich immer wieder schmerzliche Vorwürfe. Er hätte sie beschützen müssen, sie von diesen Mördern fernhalten, mit ihr verschwinden müssen. Er hätte, hätte, hätte, aber er hatte nicht! Paul vergoss viele Tränen und bald darauf wurde er sprachlos.

Aisha hatte in einem scheinbar unlösbaren Zwist gelebt, unerlaubt geliebt, und sie war diesem Zwist zum Opfer gefallen. Paul dachte endlos darüber nach. Wiederholt hatte sie ihm erklärt, dass sie sich sehnlichst wünsche ihre geplanten Kinder nicht in diesem Zwist aufwachsen zu lassen, aber auch, dass sie ihre Eltern nicht verlieren wolle. Was sollte sie tun, wie sollte sie das jemals lösen, um Allahs Willen, wie?

Das hatte sie gesagt, ja, er erinnerte sich jetzt deutlich, sie hatte natürlich Allah um Hilfe gebeten. Es war nicht so einfach seinen Glauben zu verleugnen.

Er lud alle Schuld auf sich, eine schwere Last, die er ganz alleine tragen wollte. Schließlich hatte er sie damals angesprochen, sie war sehr zurückhaltend gewesen und scheu. Er war ihr absichtlich öfter, aber wie zufällig, im Treppenhaus über den Weg gelaufen, hatte seinen Charme spielen lassen und ihr Vertrauen ergaunert. Und dann ihre Liebe. Eine tödliche Liebe.

Aisha war eine junge Muslimin gewesen, die für die okzidentale Zukunft ihrer Kinder einen unverzeihlichen Sprung getan hatte. Sie hatte zu früh, sehr weit in die Ferne geblickt und für diese Ferne, danach gestrebt eine andere Religion anzunehmen. Dazu die heimlich geplante Ehe und Zukunft mit Paul. All das waren nicht nur schwer überwindbare Hürden für ihre Familie, sondern auch Bestrafung fordernde Vergehen. Ihr offizieller Verrat an der Religion, an der Tradition, an den Vätern und ihrer Unschuld, hatte die Ehre ihrer Familie in den Grundfesten erschüttert. Die ganze moslemische Gemeinde erfuhr von diesem Umstand, man war betroffen und lauerte gespannt auf Rache.

Diese Bande hatte seine Zunge gefordert. Davon war Paul überzeugt, für ihn gab es keine andere Erklärung dieser kriminellen Tat. Das war mittelalterlich, und wie er in Erfahrung gebracht hatte, sehr wirksam gegen künftig ausgesprochene Lügen. Er hatte sich den Recherchen über Rachepraktiken vergangener Weltzivilisationen gewidmet, demnach hätte er tatsächlich auch seine Hoden verlieren können und wegen des Diebstahlvorwurfs, eine Hand oder je nach Wert des Diebesgutes, beide Hände.

Er hatte damals seine Peiniger nicht erkannt. Vier vermummte Personen hatten ihn überfallen, mit acht Händen festgehalten und ihm eine Betäubungsspritze verpasst. Bevor Paul bewusstlos geworden war, entsetzte ihn ein mittelgroßes, modernes Seziermesser, in einer von Latex behandschuhten Hand einer fünften Person. Diese Person hatte sich langsam, beinahe zögernd und trotzdem drohend, ganz nahe über ihn gebeugt. Die weißen Handschuhe und das stählerne Blinken begleiteten ihn in den schwarzen Tunnel der Narkose. Er war nach vollbrachter Tat wie ein Müllsack vor den Toren eines Krankenhauses abgeladen worden, und er hatte drei Tage lang Blut gekackt.

Paul konnte nur eine hoffnungslose Anzeige gegen Unbekannt starten, doch es bestand für ihn kein Zweifel daran, wer ihm diese Verstümmlung angetan hatte. Er verstrickte sich zunächst in der Furcht vor weiteren Attacken auf ihn, hatte seine Wohnung gekündigt und sich von Verfolgungsangst getrieben, einige Wochen in dem Jagdhaus seines Vaters in der Lüneburger Heide versteckt. Kurze Zeit danach zog es ihn in das luxuriöse Haus seiner Kindheit zurück, als suche er Schutz, und als würde er ihn ausgerechnet in den Dünsten des verstorbenen Vaters finden. In genau jenen Dünsten der erstickenden, lebenslangen Erwartung, Anklage und Schuldzuweisung seines Vaters an ihn, aus welchen er vor erst wenigen Monaten geflohen war. Doch mit der Wucht seiner brutal erwachten Erlebniswelt, überrumpelte er diesen Geist der väterlichen Anweisungen und Gebote. Ein Geist, der stets dürstend nach dem Sohn des Hauses durch die modern eingerichteten Räume gestreift war.

Sein Leben war durch die Nachricht von Aishas Suizid in ein Vorher und ein Nachher zerteilt worden. Vom Tod des Vaters eingeläutet, war diese Tragödie, zusammen mit dem Rest seines Elends, wie ein einziges Erdbeben über ihn hereingebrochen. Auch wenn viele Wochen dazwischen lagen. Das Ableben des Vaters, ihr Tod, die gestohlene Zunge und dann die Krebserkrankung. Er erinnerte sich nicht mehr an ruhevolle Zwischenphasen.

Man konnte nicht behaupten, dass Paul zuvor wie besessen an seiner Vergangenheit gehangen hatte, er hatte sie sogar gehasst, aber sie war immer präsent gewesen und hatte ihn beschwert. Es war ihm letztlich gelungen diese Vergangenheit in verstaubte Winkel zu schieben, behutsam und doch energisch, um sich entschlossen auf sein Dasein mit Aisha zu konzentrieren. Er hatte begonnen sich an der Liebe zu orientieren, mit einem freudvollen Blick auf das Morgen und einem seltenen Blick zurück.

Nun hauste wieder Vergangenes in ihm, allerdings, jüngst Vergangenes. Seine Gesundheit war Vergangenheit, Aisha war Vergangenheit, seine Zunge war Vergangenheit. Diese unleugbaren Gegebenheiten waren zu seiner weltbewegenden Dreieinigkeit geworden.

Die Spannung der Erinnerung, aus der erwünschten Nähe mit der Toten und seine bewusste Erwartung an ein eigenes Weiterleben, zerrten an ihm. Er schämte sich für seinen verbliebenen Lebenswunsch, der sich vermutlich aus diesem Grund vorbehielt sporadisch einzuknicken. Er empfand sich, als ein nur eventuell künftig Weiterlebender, als ein Jemand, der im Moment kaum glaubte zu leben. Er hing auf dem Warteposten zwischen Nichts und ein wenig von Etwas. Was genau dieses Etwas beinhaltete, war ihm nicht klar, doch falls es ihm noch beschert werden sollte, wünschte er es sich in Einsamkeit.

Was würde aus seinem Beruf werden und aus der Klinik seines Vaters, die nun seine war? Paul bezweifelte, jemals dort wieder aktiv werden zu können, außerdem ließ sich das schlecht mit seinem Wunsch nach Einsamkeit vereinen. Einsamkeit, danach verlangte, danach schrie sein Herz unaufhörlich, als ein Zustand seiner Reue und Zeichen seiner Solidarität mit seiner verlorenen Geliebten. Verzicht auf das weltliche Leben. Er wollte niemanden sehen, niemanden sprechen hören. Er ahnte noch nicht, wie menschenwürdig die Einsamkeit sein konnte, ein wertvolles Geschenk des Schicksals, wenn man sich darauf verstand sie zu erkennen.

Paul erinnerte sich wehmütig an eine Unterhaltung mit Aisha. Sie war der Meinung gewesen, dass das Hören verbinde, das Sehen ebenfalls, aber, dass das Sprechen die Seelen voneinander entferne und das Einsamkeitsgefühl eigentlich sogar bestärke. Paul hatte gelacht und liebevoll mit spöttischem Unterton gefragt, ob sie Schweigsamkeit als Basis für eine Unterhaltung ansehe. Und außerdem, was wäre er in seinem Beruf ohne Worte!

Sie dächte eher an das tägliche Geschwätz, das immer und überall geführt würde, um die Einsamkeit zu überwinden, was aber nicht funktionieren würde, weil es nur oberflächlich wirken könne. Darin habe sie Erfahrung. Gesprochene Worte könnten außerdem zu unsichtbaren Waffen werden, die sich gerne verselbständigten und nachträglich, unerwartet wirken könnten, selbst wenn sie noch so unbedarft ausgesprochen worden seien. Die Reflexion eines negativen Wortes sei immer stärker als ihr Ursprung, einmal ausgesprochen, seien sie unberechenbar, hätten ihr Eigenleben. Auch wenn sie vorübergehend in Vergessenheit gerieten, könnten sie jederzeit auferstehen. Und süße Worte könnten wie bitterstes Gift wirken, außerdem entpuppten sie sich meist als Lügen. Gelogene Blicke schmerzen nicht, Worte könnten das aber, hatte Aisha eifrig behauptet.

Paul hatte ihr dann doch noch sachte zugestimmt, ihr in gewissem Sinne recht gegeben. Ja, Buchstaben konnten töten, sie konnten auch wichtige, direkte Erfahrung rauben, den Geist lähmen, wenn man zu sehr auf sie achtete. Konnte er seine Gefühle in Worten ausdrücken?

Er hatte sie lieber umarmt als geredet, aber seine süßen Worte waren keine Lügen gewesen. Ach Aisha, wie würde sie jetzt darüber denken, wie würde sie seine Worte nun vermissen! Seine Stimme!

Der Hauptsitz seiner Geschmacksdrüsen war ebenfalls der Ersatzkastration zum Opfer gefallen, somit vermisste er wichtigste Geschmacksgenüsse. Kleine Nebenblitze, die in sein großes Leid fegten.

Kann eine Katze ohne Zunge überleben, fragte sich Paul. Ein Chamäleon oder eine Eidechse? Sogar ein Fisch hat eine Zunge. Obwohl, stumm wie ein Fisch, hieß es. Und der Kolibri? Die Nachtigall?

Nein, eine Welt ohne Zungen, undenkbar! Und genau in dieser Welt sollte er nun leben? Überleben? Konnte man ohne Zunge riechen, schmecken, pfeifen. Konnte man Querflöte spielen oder ein Pferd antreiben?

Warum dachte Paul an eine Querflöte, er hatte sich nie für dieses Instrument interessiert, warum jetzt? Und der Reitsport war ihm zuwider.

Ein Kuss war kein Kuss mehr, wenn man dieses, stets von Schleimhaut überzogene muskulöse Organ, das zum Kauen, Saugen oder zur Artikulation der Laute diente, nicht mehr besaß. Hatte man diesen hässlichen Lappen in seinem Mund vorzuweisen, konnte ein Kuss selbstverständlich auch ohne dieses Ding hoch bewertet werden.

Er würde nie wieder küssen! Natürlich nicht, denn Aisha war tot. Würde er eine Blindheit der Zungenlosigkeit vorziehen? Auch das fragte sich Paul

In früheren, noch nicht allzu fernen Zeiten, hätte man den dreisten Gesetzesbrecher in einem Fall wie dem seinen, noch zusätzlich geblendet. Man hätte ihm glühende Eisen in die Augen gebohrt, um somit, außer der Strafe der Erblindung, jedem weiteren Blick auf die Angebetete ein zuverlässiges Ende zu bereiten. Darauf hatte man bei Paul verzichtet. Sollte er dankbar sein?

Die Welt hatte sich für Paul gefährlich abgekühlt, es gab diese Momente, in welchen er den Akt seiner gestohlenen Zunge beinahe als gerechte Strafe empfand. Wie ein Geschoss von außen, erlegte dieser wirre Gedanke dann für Sekunden seinen Willen. Dann konnte er sogar die Schande erkennen, die er über Aishas Familie gebracht hatte. Eine Schande, die er mit beleidigenden Worten, an die er sich nicht mehr genau erinnerte, lautstark unterstrichen hatte. War es vielleicht doch gerechtfertigt, dass man ihm jedes künftige Wort gestohlen hatte?

So stand es um Paul, und die zusätzliche Tragik an seinen grundverschiedenen Gedankengängen war, dass er den einen Zustand herbeisehnte, während er nach seinem Gegenteil äugte, es ebenso wünschte oder vertrat. Als könne man das Leben und den Tod gleichzeitig wahrnehmen, sich beidem gleichzeitig hingeben, oder sich von beidem zurückziehen. Als sei alles nur ein gelungener oder verpatzter Schachzug auf dem Brett des Daseins.

Seine Sinne tänzelten schwebend zwischen den Welten. Wie ein Seiltänzer bewegten sie sich, ein Seiltänzer, der auf seinem zum Zerreißen gespannten Seil eine unschätzbare Tiefe zu überqueren versucht, um ein vom dichten Nebel der Unmöglichkeit versunkenes Gegenüber zu erreichen.

Diese entschlossene Unentschlossenheit radierte ihn beinahe aus. Es gab kein Zurück und eine Ankunft war nicht erklärbar. Wo lag das Dazwischen? Wo steckte dieser, stetig von der Zeit verfolgte, winzige Punkt, der eine nicht nennbare Weite beinhaltet, der alle Möglichkeiten der Welt zu einer einzigen Welle des Überlebens über ihn schwappen lassen könnte.

Und dann hatte ihn dieser Duft ergriffen! Der einzigartige Duft, neben ihm, im Autobus der Linie achtundzwanzig, Richtung Flughafen.

Kein und Aber oder die gestohlene Zunge

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