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Das verlorene Gespräch

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Wenige Tage vor Aishas Tod, und wenige Wochen bevor Pauls Zunge einem gezielt und fachgerecht eingesetzten Skalpell zum Opfer gefallen war, ereignete sich der Überfall auf die Redaktion des Satire Magazins, Charlie Hebdo, in Paris.

Paul war damals ein gefragter Mann, da er der Sohn eines noch gefragteren Mannes seiner Stadt war. Seine Meinung hatte zwar einen geringeren Wert als die seines Vaters, doch man war sicher, dass er sich ähnlich zu den alles dominierenden Vorfällen der letzten Tage äußern würde.

Sein Vater hatte sich unwohl gefühlt und Paul gebeten, in einem von ihm schon zugesagten Interview, für ihn einzuspringen. Paul stellte sich zunächst murrend als Ersatzmann zur Verfügung. Während der Life-Übertragung ereiferte er sich jedoch ungewohnt und äußerte eine überraschende Meinung zu dem Attentat in Paris und seiner weltweiten Reaktion darauf. Eine Meinung, die auf allgemeine Empörung stieß und zahlreiche seiner Bewunderer vergraulte. Er zeigte sich nicht, wie vom regionalen Sender erwartet, als okzidental geprägter Racheengel, sondern bewertete die allgemeine Reaktion auf diese Tragödie als Hysterie. Die unangebrachte Hysterie einer Gesellschaft, die essentielle Probleme verdränge und die öffentliche Aufmerksamkeit auf Nebenkriegsschauplätze lenke und sich dabei mit peinlichen Plakatsprüchen in Szene setze.

Pauls Vater, der selbstgefällig der Loyalität seines Sohnes sicher gewesen war, stürzte vom Thron des stolzen Vaters. Er war mehr als empört, er war entsetzt und fühlte sich außerdem von seinem Sohn hintergangen. Dieses Interview lag gedruckt vor ihm, er fieberte danach, Paul zur Rede zu stellen, ihm die Leviten zu lesen.

„Auf welcher Seite stehst du neuerdings, mein Sohn,“ fragte er sehr ernst in seinem gewohnt überheblichen Ton, der keinen Widerspruch duldete. Das Wort Sohn klang drohend.

„Wie kannst du nur solch eine katastrophale Meinung öffentlich äußern. Es ist nicht nur völlig absurd, verblendet und idiotisch, pietätlos und fern einer realistischen Einschätzung der Bedrohung des Terrorismus, was du da von dir gegeben hast ist auch höchst verantwortungslos. Du hast schließlich eine wichtige Position, bist zu politischer Korrektheit unserer Gesellschaft gegenüber verpflichtet. Ist dir das schon mal in den Sinn gekommen? Es geht hier nicht um deine persönliche Meinung, die mich sehr erstaunt und die ich verachtenswert finde. Mir ist außerdem längst zu Ohren gekommen, dass du schon eine ungehörige Weile mit einer Moslimin herumziehst, was ich als äußerst unpassend erachte, in deiner gesellschaftlichen Stellung ganz besonders. Wahrscheinlich ist sie scharf auf eine Heirat, auf deine Nationalität, auf deinen Namen, auf unser Geld. Ich hatte gehofft, dieses abscheuliche Verbrechen in Paris würde dir die Augen öffnen und dir nebenbei klar machen, dass eine Muslimin in unserer Familie fehl am Platz ist. Um das hiermit direkt klarzustellen, islamische Gesinnung hat unter meinem Dach nichts zu suchen! Ganz abgesehen davon, dass man wie auf einer Bombe säße. Weißt du, was in den Köpfen ihrer Familie wirklich vorgeht? Und meine Enkel mit Koran verseuchtem Blut in den Adern? Nicht auszudenken! Ohne mich!

Paul ignorierte nur scheinbar das „Koran verseuchte Blut“. Doch diese Bemerkung war in ihn geprescht, er fühlte sich persönlich angegriffen und hatte ein unverhüllt empfundenes, nie gekanntes Kontra gegen den Vater mobilisiert. „Und du? Auf welcher Seite stehst du, Vater? Demnächst wirst du noch der PEGIDA Beifall klatschen. Du kannst doch wohl nicht leugnen, dass es sich hier um eine Massenhysterie handelt. Eine Verteuflung des Islam auf der Basis haarsträubender Unwissenheit. Den Islam und die Islamisten kann man doch nicht in einem Atemzug nennen.

Paul hatte den Ausdruck des Interviews, in dem man ihn um seine Meinung zu dem „Je suis Charlie“ gebeten hatte, vor sich liegen. Er überflog kurz den Text:

„Selbst ein politisch ungebildeter Mensch wie ich, ein normal Berieselter der Tagesschau, riecht, dass an diesem Braten etwas faul ist, dass hier etwas in die falsche, aber doch so erwünschte Richtung läuft. Eigentlich fühle ich mich nicht zu öffentlichen Stellungnahmen berufen, aber hierzu möchte ich mich doch äußern.

Die Masse scheint vor den Bauch gebundene Parolen mit hysterischen Slogans dringend zu benötigen. Ein jämmerlicher Versuch das Gefühl der Machtlosigkeit gegen den Terror zu übertünchen. Einer Machtlosigkeit, die mit einem über Nacht millionenfach gedruckten Slogan eine Gegenmacht formieren soll. Ein Aufruf zur Solidarität, genährt von der Furcht vor der angeblichen Unberechenbarkeit alles Fremden. Dazu die Sensationsgier einer bis in die Fingerspitzen manipulierten Gesellschaft und ihrer erwünschten Ablenkung von individuellem Leid. Eine aufgeheizte Empörung, die kollektive Geborgenheit vermittelt, geborgen im Kampf gegen den aufs Tablett gesprungenen Feind. Reaktion gegen die Furcht des Unkontrollierbaren? Eine uralte Geschichte. „Je suis Charlie“, ein Ablenkungsslogan. Die von wenigen Händen gebastelte Ablenkung einer Scheinsolidarität mit dem Schrei nach unantastbarer Pressefreiheit und angeblichem Schutz der Demokratie. Diese Reaktion drückt in keiner Weise Trauer für die Toten aus. Aus ihr klingt lediglich der Ruf nach Rache.“

An dieser Stelle des Interviews war Paul mit der Frage, wie man seiner Meinung nach den Slogan hätte gestalten sollen, unterbrochen worden.

„Das kleine und doch so mächtige Wort „suis“ ist aus dem Ruder gelaufen, es ist alles andere als eine Trauerbekenntnis. Um wirklich das offiziell dargestellte Mitempfinden auszudrücken, hätte es besser, „Ich trauere um Charlie“ oder ähnlich heißen sollen. Nun wurde ein Trauer- und Solidaritätsslogan zum „Ausländer raus“, zum „Nieder mit dem Islam“ oder im nicht allzu weitem Sinn ein „Heil Hitler“. Wo steckt hier das Bekenntnis zur Demokratie, zur Meinungs- oder Pressefreiheit, wo die Trauer um den gewaltsamen Tod der Journalisten? Dieser Solidaritätsslogan, der einigen Menschen im ersten Moment rührend erscheinen mochte, als ginge es um ein Tierschutzprogramm, wurde zum Schlachtruf gegen alles, was mit dem Islam zu tun hat.

Jede Parole kann missbräuchlich gedeutet werden. Birgt das in Zukunft die Gefahr, dass ein Schild um den Hals gehängt, mit dem Hinweis „Jesus lebt“, eine Rechtfertigung für einen fanatischen Islamisten wäre, um das Feuer zu eröffnen? Ein „Atomkraft nein danke“ oder „Make Love, Not War“, signalisiert gefährlichen Terror von Links? „Mein Bauch gehört mir“ eine Provokation für die Verfechter der Todesstrafe? Wir ersticken am Detail.

Der Mensch trachtet nach einem Feindbild, am liebsten einem für das Kollektiv geschaffene. Es dient der Vorspiegelung eigener Unfehlbarkeit und verschafft Zugehörigkeit, selbst wenn diese durch einen Schlachtruf manifestiert werden sollte. Somit scheint er weiterhin die Intelligenz eines Einzellers zu repräsentieren. Wie sonst kann man erklären, dass er sich so hartnäckig weigert die wahren Überlebensprobleme der Menschheit zu erkennen, um ihnen gemeinsam entgegenzutreten. „Je suis Charlie“, ein für unser Zeitalter völlig unpassender Aufruf, für mich nicht weniger besorgniserregend als Boko-Haram.“

Paul lächelte seinem Vater zu und gab ihm den Ausdruck zurück.

„Wir haben doch ganz andere Probleme, als zu Millionen für die Pressefreiheit auf die Straße zu gehen und sentimental für die sogenannte Demokratie in geordneten Reihen über den Asphalt zu marschieren. Was genau siehst du an meiner Meinung als so verwerflich an?“

„Schämst du dich nicht“, sagte sein Vater gebieterisch. „Du ziehst über die Menschen her, die sich mutig auf die Straße wagten, im Gedenken an die Opfer. Und besonders um der Bedrohung des Islam auf unsere geordnete Welt Paroli zu bieten. Einer Bedrohung, die danach trachtet unserer christlichen Gesellschaft ihre Regeln aufzuzwingen und uns mit Terror zu erpressen versucht. Fundamentalisten, Islamisten, Terroristen, was spielen diese Begriffe für eine Rolle, es sind gefährliche Menschen, die sich auf Gott berufen und in ihrer Gottlosigkeit nicht zu überbieten sind. Wir lassen Flüchtlinge in unser Europa, in unser Land und bieten Hilfe an, und sie werden zu Trojanischen Pferden. Ich bin gegen den Einlass von Flüchtlingen aus den Kampfgebieten der islamischen Staaten, damit eröffnen wir eine innerwestliche Front, das dürfte sogar dir klar sein. Wir holen uns den Krieg ins Haus, mit jedem Moslem, den wir aufnehmen. Toleranz darf hier nicht zur Selbstgefährdung unseres christlichen Zusammenlebens führen. Wir können solche Gefahrenpotenziale nicht in unseren Reihen dulden. Führende Vertreter aus Politik und Gesellschaft haben diesen Subjekten den Kampf angesagt, sie werden sich um ihre Vernichtung kümmern. Diese wichtigen, verantwortungsbewussten Menschen sind sich mit Millionen anderer Bürger einig, sie haben gemeinsam gebetet und eine Mahnwache gehalten. Das sind Menschen, die an unsere christlichen Werte glauben und dafür einstehen. Wir können doch nicht schweigend zusehen, wie der Islam uns bedroht und eines Tages überrollt.“

Paul sah seinen Vater mitleidig an. „Der Untergang des Abendlandes durch den Islam? Du irrst, der Islam ist keine Bedrohung, er ist es vielleicht in gleichem Maße, oder nicht, wie jede andere Religion auf der Welt auch. Falls du Al-Qaida meinst, ISIS oder Hisbollah, sie stehen im Schatten der nuklearen Abschreckung unserer Zeit. Es sind ein paar tausend Wirrköpfe, die sich heilige Krieger nennen und sich im Namen des Islam in den Kampf begeben haben. Eine Menge weniger Krieger, als die Kreuzritter zu ihrer Zeit im Namen des Christentums und eine Menge weniger Tote.“ Es trat eine kurze Stille ein. Sein Vater sah ihn fassungslos an.

„Paul, du kannst doch nicht ernsthaft das Mittelalter aus weiter Ferne heran zitieren und mit unserer hochzivilisierten Welt in einem Atemzug nennen. Allerdings kannst du die Mentalität des Islam sehr wohl mittelalterlich nennen, der Islam ist dort steckengeblieben, obwohl er sich der neuesten Technik unseres Zeitalters bedient, das hat sich als unheilvolle Mischung bestätigt.

„Hochzivilisiert? Und das Mittelalter unserer Gesellschaft in weiter Ferne? Eine verdammt kurze Distanz im Rahmen der Zeit, in welcher der Mensch sein Unwesen gegeneinander treibt, aber immerhin genug, um sich der Menschwerdung zu nähern. Was leider bisher nicht gelungen scheint. Gesetze und Auffassungen der Religionen haben sich seitdem kaum verändert, ein paar Modifikationen, aber im Grunde geht es immer noch hauptsächlich um Abwehr und Macht, um Unterwerfung oder Töten. Für jede Religion wird getötet. Wird es je eine Zivilisation geben? Ein einheitliches Gesetz nach dem sich die gesamte Menschheit richtet, ihren individuellen Glauben hinten anzustellen weiß, um sich dem gemeinsamen Überleben zu widmen? Vielleicht kannst du mir ja erklären, wo das von dir so gepriesene Christentum und die Zivilisation sich versteckt hält, wenn bei Militäreinsätzen, wissentlich voll besetzte Hospitäler bombardiert, dem Erdboden gleich gemacht werden. Wenn Kranke, Verletzte, Kinder, Personal und Ärzte sterben, weil sich möglicherweise eine Handvoll sogenannter Terroristen in dem Gebäude aufhält?

„Paul“, rief sein Vater heiser, „wir stecken mitten in einem kometenhaften Aufstieg des Islam, eine ungeheure Macht, die Gesetzlosigkeit breitet sich rasend schnell aus, weltweit. Wie peinlich oberflächlich und einseitig informiert du bist, falsch informiert! Diese Verrückten schlachten sich doch auch gegenseitig ab, lassen ganze sunnitische Moscheen, gefüllt mit Moslems, in die Luft fliegen. Du verdrehst Tatsachen und siehst sie mit den Augen deiner Muslimin. Zu diesen von dir erwähnten Angriffen hat sich der I.S. bekannt, so etwas würden zivilisierte Militärs niemals befehlen.“

„Dann sind es eben ganze Hochzeitsgesellschaften, die, um einen einzigen angeblichen Terroristen zu erwischen, mit Mann und Maus zerfetzt werden. Durch zivilisiert gelenkte Drohneneinsätze der USA, die von Europa gutgeheißen werden. Wie nennst du es, wenn diplomatische Schläfrigkeit mit militärischen Mitteln unterstützt wird. Wenn modernste Instrumente der Machtpolitik, wie die Drohne, als Botschafter des Friedens betitelt werden. Wenn unzählig rechtmäßige Auftritte, deiner so gelobten christlichen Zivilisation, gegen die bösen Muslime stattfinden, die samt und sonder, als gefährliche Subjekte eines religiös und kulturell verhärteten Kerns der arabisch islamischen Welt beschimpft und gefürchtet werden. Und was wurde nicht alles, in nicht allzu weiter Vergangenheit, unter den Kolonialmächten mit moslemischer Bevölkerung angestellt! Nicht im fernen Mittelalter, wie du es nennst, sondern noch in unserer Zeit, als du schon auf der Welt warst.

Der Krieg in Syrien? Wo ist die Wurzel des Übels, und wie hoch motiviert am Erhalt verschiedener Übel sind deine Christen? Ein besonderes Interesse deiner Zivilisation möchte ich gerne noch hervorheben, nämlich die höchst erwünschte und erfolgreich durchgesetzte Wachstumsquote der Waffenexportgeschäfte. Hier in unserem Lande, mit ganz besonderem Aufgebot. Unsere effiziente, allerorts gelobte Rüstungsindustrie stellt gerne alles Nötige zur Verfügung, über Umwege, natürlich, und im Namen des Friedens, dem Schutz der Demokratie und für den Kampf gegen den Terrorismus. Man hätte das Potenzial gehabt dieses Dilemma zu verhindern. Nun haben wir zusätzlich zu den Flüchtlingen aus Afrika, deren Hälfte man im Mittelmeer ersaufen lässt wie überflüssige Welpen, eine Völkerwanderung aus Syrien und dem Irak. Aus allen möglichen Ländern und Kontinenten kommen sie hereingeströmt, Schutz und Nahrung suchend und ein wenig Würde. Jene Würde, die einem großen Teil von ihnen und ihren Ahnen in der ausgebeuteten Heimat von den zivilisierten Christen gestohlen worden ist. Aus aller Welt strömen sie nun herbei und fordern unsere Hilfe, benötigen die gepriesene Brüderlichkeit, Freiheit, Gleichheit. Deine Zivilisation reagiert, erstens, als sei es eine große Überraschung, zweitens, als sei sie an dieser Fluchtsituation anderer völlig unschuldig, und drittens, als hätten diese Fliehenden die Pest. Oder was noch viel verwirrender ist, als hätten all diese Menschen, die in Panik ihre Heimat verlassen mussten, unter ihren Hemden Bomben auf eine selbstmörderische Brust geschnallt. Diese, so überaus überraschte christliche Welt zeigt genau so viel Hochmut den Flüchtlingen gegenüber, wie sie es an christlicher Gesinnung hapern lässt. Wer sich erhöht wird erniedrigt, und wer sich erniedrigt wird erhöht werden. Das Wort Jesu, vielleicht erinnerst du dich? Warum diese Überheblichkeit! Aus Angst? Aus Angst an Wohlstand zu verlieren, etwas abzugeben, was auf Jahrhunderte langem Diebstahl basiert. Aus Angst zu teilen und eventuell die verlogene Ordnung zu beunruhigen und festgefahrene Traditionen zu verwässern? Oder aus Angst vor den Gesetzen des Islam, die keiner all der Ängstlichen auch nur annähernd kennt?“

Paul war nicht sonderlich erregt, er sprach beinahe ruhig und lenkte sich zurück auf den Ausgangspunkt dieser Unterhaltung. Er wies lässig mit seiner Hand auf das Schreiben, das er kurz zuvor noch einmal überflogen hatte, ein Zettel, der in den Augen seines Vaters wie ein blutiges Schwert zwischen ihnen lag.

„Vater, ich bitte dich, ist es denn wirklich unter dem heutigen, immer noch bedauerlich beschränkten Menschheitsbewusstsein so verwunderlich, wenn sich jemand mit übergroßem Eifer in ein Glashaus setzt, das ihm als Hauptstützpunkt dient, wie in dem Fall Hebdo, um wild von dort heraus um sich zu ballern, und wenn dieser Jemand dann irgendwann mit samt seinem Glashaus in die Luft fliegt?“

Sein Vater zitterte vor Empörung.

„Das sind pietätlose Argumente und ein unsinniger Vergleich. Auf einer Seite handelt es sich allenfalls um psychische Verletzung, um verletzte Gefühle, um Worte oder Karikaturen, um journalistische Kugeln die keinen Blutstrom hervorrufen. Beim Gegenangriff aber, um wahre Schüsse und um wahre Tote. Dafür gibt es…, dafür kann man keine Rechtfertigung dulden. Und ausgerechnet mein Sohn bastelt sich eine Rechtfertigung zusammen, die auch noch auf Unwissen und falschen Informationen basiert, und die aus der Narrheit, sich einer Moslemin zu nähern, geboren wurde!“

„Nur um Gefühle?“, antwortete Paul lahm, den letzten Satz ignorierend. „Nur? Warum ermordet ein Ehepartner den andern? Meist wegen „nur“ verletzter Gefühle. Das ist leider menschlich. Gerade du als Arzt müsstest wissen, dass psychische Kugeln nicht nur wie ein Schwelbrand wirken können, sondern wie eine Bombe. Ich wüsste nebenbei auch gerne, warum diese Journalisten immer wie Heilige behandelt werden. Warum stöhnt die Masse betroffener und empörter auf, wenn ein Journalist ermordet wird, als wenn es einen Normalsterblichen erwischt hat. Womit haben Journalisten ihre Sonderrechte verdient? Damit, dass sie sich angeblich um der Wahrheit Willen, um der Weltinformation Willen, in Lebensgefahr begeben? Welcher Journalist tut das schon? Es gibt eine Handvoll Journalisten und Berichterstatter, die das so sehen und wirklich wagen, der Rest handelt wenig uneigennützig. Genau besehen sind wir alle in ständiger Lebensgefahr. Jeder Autofahrer begibt sich täglich in weitaus größere Gefahr, wenn er morgens in seinen Wagen steigt, als einer dieser weniger an Wahrheit als an Sensation interessierter Schreiberlinge. Es ist doch kein Geheimnis, dass der größte Teil der Leute dieser Berufsgruppe, am allerwenigsten aus dem Bedürfnis heraus die Welt zu unterrichten oder auf Ungerechtigkeiten aufmerksam zu machen angetrieben wird, sondern eher von der Sensation und dem rücksichtslosen Wunsch der Erste zu sein. Es geht hauptsächlich darum ständig etwas Neues zu bringen. Ja, bringen, nennen sie es. Und für diese wird nun solch ein Spektakel veranstaltet?“

Sein Vater räusperte sich ungehalten, während seine Gesichtsfarbe von einem gelblich grünen Blass zu einem bläulichen Rot übergesprungen war. Dieses Farbenspiel war Paul nicht entgangen. Völlig emotionslos kreuzte ein Chamäleon seine Gedanken, bevor sein Vater lautstark das Wort ergriff. Das erstaunte Paul, diese Lautstärke kannte er nicht an seinem Vater, er war eher an diese, von Vaters Zeit bestimmten Unterhaltungen in einem freundlich drohenden, stets beherrschten Ton gewöhnt. Nun brüllten seine Worte gegen Paul.

„Durch diesen Trauer- und Protestmarsch sind für einen ganzen Tag lang alle politischen Probleme in den Hintergrund getreten. Politiker aller Welt und aller Völker und Religionen hatten sich zusammengefunden und daran teilgenommen. Das ist kein Spektakel, wie du es abfällig nennst, das verdient Respekt. Eins Komma fünf Millionen Menschen in Paris, mehr als drei Komma fünf in ganz Frankreich und unzählige in jeder Großstadt Europas und verschiedenen Kontinenten. Sie sind zusammen marschiert, zusammen gegen den „Islamischen Staat“ Es sollte ein Trauermarsch sein, und es wurde zusätzlich ein Marsch gegen den Terror und für die Demokratie, für die Pressefreiheit. Das war eine einmalige Reaktion in der Geschichte, und es war überwältigend. Und diese „Mahnwache“ gestern, ebenso einmalig. Und du meinst nun, all diese Menschen hätten sich geirrt? All diese Menschen seien mit Blindheit geschlagen und einer Schimäre aufgelaufen? Für wen hältst du dich, dass du es wagst so etwas öffentlich kundzutun!“

„Diese sogenannte Mahnwache ist etwas anderes, das geschah nach meinem Interview, obwohl mich diese Massenaufrufe gegen oder für etwas nie begeistert haben. Du scheinst da etwas grundsätzlich falsch verstanden zu haben. Ich ereifere mich nicht für oder gegen eine Meinung, ich verteidige diesen Terrorakt nicht, und ein demokratisches Gefüge, auf Gleichberechtigung und Toleranz, Wissen und Einsicht aufgebaut, heiße ich ebenso willkommen wie du. Obwohl ich glaube, dass die Umsetzung dieser Werte ins Alltagsleben niemandem leicht von der Hand geht. Es sind Parolen. Aber das ist letztlich nicht der entscheidende Punkt meines leisen Protestes, der dir so missfällt, es ist auch die Mentalität der Hammelherde, die mich besorgt. Meine Abneigung gegen dieses scheinbar nicht auszurottende gemeinsame Blöken, mit dem auch noch erfolgreich der Ausdruck individuellen Empfindens suggeriert wird. Egal, ob für Gut oder Böse im Konvoi geblökt wird. Ist das wirklich nötig? Das Anstreben von Freiheit - Brüderlichkeit - Gleichheit, wenn ich diesen Schund schon höre. Wo gibt es das Verständnis dieser edlen Begriffe denn? Und wer ist an der Umsetzung wirklich interessiert? Sieh dir doch nur die Flüchtlingslager an, wie reagiert die europäische Zivilisation mit diesem weit hergeholten Ideal der Brüderlichkeit darauf? Es ist wie es ist, menschlich, aber christlich ist es mit Sicherheit nicht. Vielleicht sollte ich mich einfach damit trösten, dass es ein Gesetz der Natur zu sein scheint, Extreme irgendwann zu vereinen und sich in Gegensätzlichkeit der Meinungen auflösen. Plötzlich sind sie vereint und bilden das Gleiche. Das kann man politisch sehen, das ist in der Gefühlswelt so, Liebe und Hass oder mit Leben und Tod. Das Extrem von Geboren-Werden ist das Sterben, und was kommt danach? Das Extrem von Tod ist das Leben, und was war davor? Davor und danach bildet die Gemeinsamkeit. Das Dazwischen entfällt dem Geschehen im Ganzen, wenn dieses sich immer wiederholende Endstadium erreicht ist.“

Paul holte tief Luft, er war vom Thema abgekommen. Sein Vater sah ihn völlig verständnislos an, als sei sein Sohn, dieser junge Mann vor ihm, mit seinem leidenschaftlichen, nie zuvor gesehenen Funkeln in den Augen, ein Fremder.

„Ich will damit sagen, dass ich mich für den Islam genauso begeistern kann oder auch nicht, wie für das Christentum. Es kommt auf dieser Welt irgendwann, welcher Weg auch gewählt wird, immer auf das Gleiche heraus. Ich sehe nur Fanatismus gegen Fanatismus, das legale große Schlachten der Moral und daraus die Rechtfertigung für noch mehr Polizei, noch mehr Militäreinsätze und noch mehr sogenannte Sicherheitsorgane. Folglich der völlige Untergang einer gefährdeten, sowieso schon zweifelhaften Freiheit. Trotzdem, der Punkt der Gemeinsamkeit, wie auch immer er geartet sein mag, kommt zwangsläufig, er lässt sich durch diese so beliebten menschlichen Umwege nicht irritieren.“

Paul machte wiederholt eine kurze Pause und sah belustigt in das immer noch fassungslose Gesicht seines Vaters. Dieser sah seinen erwachsenen Sprössling nicht nur wie einen Fremden an, sondern wie einen geisteskranken Fremden. Er hatte noch niemals zuvor diese oder ähnliche Worte von seinem Sohn vernommen, und er machte eine Bewegung, als müsse er sich vor ihm schützen.

Paul war nicht sehr diplomatisch vorgegangen. Es war schwerlich zu erkennen, dass dieser Vater nur gehört hatte, was er hören wollte. Pauls Versuch, ihm die eingeschlossene Gewalt der Ganzheit, in der übergeordneten, von der Natur gegebenen unausweichlichen Gemeinsamkeit auseinandersetzen zu wollen, war fehlgeschlagen. Trotzdem, Paul setzte noch einmal an.

„Diesen Marsch weltweit, mit seinem Charlie Slogan vor jeder Brust, sehe ich nicht als reine Anteilnahme, nicht als Mitgefühl. Ich behaupte sogar, dass die Menschen dieses Spektakel brauchten, um diesen jüngsten Terrorakt verarbeiten und um damit abschließen zu können, um ihre individuelle Angst nicht mit in den Alltag zu schleppen und um sich in der Masse bestärkt oder beschützt zu fühlen, um aus dem sicheren Nest heraus zurück zur Tagesschau pendeln zu können, zum anschließenden „Brennpunkt“ beim Abendessen und danach zu „Tatort“. Die Guten! Denn schließlich haben sie ja ein Exemplar erstanden, ein so begehrtes Exemplar der ersten Auflage nach dem Terrorakt in Paris. Hast du das gehört? Fünf Millionen Sonderauflage, anstatt der normalerweise dreißig- oder vierzigtausend Hefte der Charlie Hebdo Redaktion. Und ich kann dir versichern, die Auflage wird sich noch erhöhen. Was ist das? Wie nennst du das? Anteilnahme an den getöteten Journalisten etwa?“

„Das spielt doch keine Rolle, wenigstens haben Trauer und Furcht ein konstruktives Ventil gehabt,“ meinte Pauls Vater sichtlich erschöpft, als sei er durch die Flut der ketzerischen Worte seines Sprösslings in die Flucht geschlagen worden.

„Konstruktiv? Das wird sich noch zeigen“, konterte Paul angriffslustig.

Die aufgekommene Lust seinem Vater ungewohnt Paroli zu bieten, wirkte in ihm wie ein Steppenbrand. Er wusste selbst nicht warum ihn das plötzlich so reizte, warum er es für so wichtig befand zu widersprechen. Er hatte doch sonst meist nur sein Ja und Amen gemurmelt, oder geschwiegen. Von Pauls Seite hatte es niemals, in keinem Bereich, seinem Vater gegenüber einen nennenswerten Widerstand gegeben. Eine verbale Abnabelung schien ihn ergriffen zu haben, war in dieses letzte Gespräch gestürzt.

Genau besehen war ihm all dieses Geschehen, von welchem er redete, gar nicht so sehr ans Herz gewachsen wie es den Anschein hatte. Die Mitteilung, Aisha zu ehelichen und sie mit dem Vater bekanntzumachen, war ihm zu diesem Zeitpunkt wichtiger gewesen als alles andere. Dafür war er eigentlich in diesen Raum getreten. Stattdessen plapperte es weiter aus ihm heraus, als sei er ein Verfechter einer „Ich bin nicht Charlie“ Bewegung. Er stocherte, schlug mit seinen Worten um sich, wie mit einem imaginären Schwert, direkt in das Gemüt seines Vaters hinein. Dieser Vater berief sich immer wieder auf die Gefahr eines Untergangs des Abendlandes, auf die erfolgreichen Hiebe des zerstörerischen Terrorismus von Seiten des Islam.

„Diese Moslems haben keinen Respekt vor unseren Werten, vor dem Leben, wie können sie dann von uns Respekt verlangen.“

Er warf sie alle in einen Topf, duldete keinen Unterschied zwischen einem Islamisten und einem Moslem. Und immer wieder hörte Paul von ihm den Begriff “Islamischer Staat“. In einer speichelbildenden Tonlage, so wie sich Paul die Stimmen der Inquisitoren aus dem Mittelalter vorstellte, wenn sie über Hexen debattiert hatten. Es war erstaunlich, dass diese Unterhaltung überhaupt noch atmete.

„Ich kann dir in einem Punkt zustimmen. Niemand kennt die Zukunft, wohin und wie intensiv sich der Islam, den du als Bedrohung empfindest, auszubreiten in der Lage sein wird,“ sagte Paul. „Jede Kraft, die sich zu einer Macht formiert, wird irgendwann Unheil hervorbringen, das ist kein Geheimnis. Doch die Macht des Islam hat in ihrer Vergangenheit aus historischer Sicht, bei weitem nicht so großes Unheil angerichtet, wie das Christentum. Das dürfte auch dir bekannt sein! Doch zu einem Vergleich brauche ich nicht einmal zurückzublicken, es reicht, auf den legalen Terror unserer Zeit zu verweisen, den von christlichem Militär und Polizeikräften „legal“ Ermordeten rund um die Welt. Was würde wohl mit den Trauernden dieser Seite passieren, wenn sie zu Millionen ebenfalls um ihre Toten öffentliche Trauermärsche und Mahnwachen veranstalten würden? Diese Trauernden würden auch zu Terroristen deklariert, nicht wahr! Denn ihre Toten sind legale Tote. Außerdem wissen wir, dass weltweit, etwa eins Komma fünf Milliarden Moslems durch diese Karikaturen beleidigt wurden. Der größte Teil davon nicht nur oberflächlich, so, als hätte man sie persönlich nur mal kurz als Arschloch bezeichnet, sondern tief im Innersten ihres Glaubens und ihrer Seele getroffen. Und da fällt man wie aus allen Wolken und ist höchst bestürzt über diesen, relativ gesehen, begrenzten Gegenzug? Trotzdem, alle wissen es, Gewalt mit Gewalt zu beantworten führt erfahrungsgemäß ins Chaos.“

Paul war politisch nie über ein fast peinliches Minimum hinaus informiert gewesen, das Geschehen da draußen, für ihn war es immer nur ein „Da Draußen“ gewesen, es hatte ihn nicht sonderlich interessiert. Die politischen Parteien in seinem Land waren für ihn keine verschiedenen Lager, zwischen welchen er sich entscheiden musste. Er, der wahlberechtigte Bürger, hatte seine Wählerstimme stets in die Fußstapfen seines Vaters gekreuzt, genau so frag- und gedankenlos, wie er die Wasserspülung einer Toilette betätigte. Nur mit Mühe konnte er die Namen einiger Minister seines Landes nennen und das auch nur, aus der gesellschaftlichen Forderung heraus. Sein Vater kannte solche, für sein Empfinden, radikalen Äußerungen seines Sohnes nicht. Hatte er eine Schlange in seinem Nest großgezogen?

„Mein Junge, Paul, um Gottes Gnade, was ist nur mit dir passiert,“ sagte er atemlos und selten erschöpft. „Hat dir dieses verdammte Moslem Mädchen den Verstand geraubt? Du bist blind. Ich erkenne mit großer Bestürzung, dass du auf der Seite dieser Wilden stehst. Du wirst es erleben, sie werden sich schnell vermehren, der Terror hat erst angefangen, sie werden keine Ruhe geben, sie werden tief in ihren Herzen von menschenverachtendem Hass geleitet.“ Er kämpfte um Luft.

„Auch ich, dein Vater, habe ein T-Shirt mit dem Charlie-Appell getragen. Ich bin aus Überzeugung mitmarschiert und habe den Bleistift als Symbol der Pressefreiheit in die Höhe gehalten. Und ich war berührt und mitgerissen von dem Zusammenhalt der Menschen auf diesem Trauermarsch, der sich wie ein Siegeszug durch die Stadt zog“.

„Ja, ein Siegeszug und im Charlie T-Shirt mit Begeisterung und aus Überzeugung den Bleistift in die Höhe gereckt, so wie mein Großvater vor nicht allzu langer Zeit ein braunes Hemd getragen und dabei die Reichsflagge geschwenkt hat? Diese Anschläge der letzten Woche sind instrumentalisiert worden, Vater, und das liegt fernab der Trauer.“

Paul streckte seine langen Beine und erhob sich langsam aus dem bequemen Ledersessel im Arbeitszimmer seines Vaters, er bat ihn somit, das Gespräch als beendet anzusehen. „Ich muss zurück in die Klinik, entschuldige bitte“, sagte er bestimmend. „Wir sehen uns später.“

Das war ebenfalls noch nie zuvor geschehen, wenn jemand das Gespräch zwischen ihnen für beendet erklärt hatte, war es immer, ausschließlich, sein Erzeuger gewesen. Paul nickte diesem bestürzten Vater noch kurz und höflich zu, er unterdrückte ein Grinsen, Triumph glitzerte in seinen Augenwinkeln. So entfernte er sich mit schwingendem Schritt aus dem Gesichtsfeld seines Vaters.

Ein kurzer Triumph, genau besehen war es sein Vater, der sich entfernte, der noch am selben Tag mit den Flausen seines Sohnes im Kopf starb. Unreif und verblendet, hatte er Pauls ersten und letzten kleinen Aufstand bezeichnet.

Kein und Aber oder die gestohlene Zunge

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