Читать книгу Unvergesslicher Frühling in Meran - Gabriele Raspel - Страница 5

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Linni

Als Linni an diesem Morgen aufstand und ans geöffnete Fenster trat, erschien auf ihrem Gesicht, wie stets an sonnigen Vormittagen im Frühling, ein freudiges, den Tag auf das Heiterste begrüßendes Lächeln. Und das war so, seit sie ein kleines Mädchen war.

Lag es an der Frühlingsluft? Dufteten die ersten Frühlingsboten im Garten so gut? Oder bezauberten sie die erfrischend schäumenden Fluten der Passer unweit ihres Hauses? Lag es gar am munteren Vogelgesang? Oder erfreuten sie die zahlreichen Prismen, die an einem Korkenzieherhasel-Zweig am Fenster hingen und die das Zimmer in eine mystische Welt mit ihren funkelnden Farb-Sternen verwandelten, deren Licht an den Wänden beim leisesten Windhauch tanzte? Freilich, diese Magie dauerte nur so lange an, bis die Sonne weitergewandert war und die Sternchen erloschen, dennoch schienen sie das Zimmer in einem freundlichen Licht zurückzulassen.

Ja, für Linni gab es kaum etwas Glanzvolleres als einen heiteren Frühlingsmorgen in Meran, mit seinem aquamarin-blauen Himmel und einer weichen, die Haut streichelnden Brise im Gesicht. Es war pures Glück, dass sie ein ansehnliches Haus in einem der ältesten Viertel von Meran ihr Heim nennen durfte.

Und es war ihr eine helle Freude, sich um einen kleinen Jungen zu kümmern, der jeden Tag ihr Herz mit seiner überbordenden Fröhlichkeit erheiterte, zumindest meistens. Und das Herzklopfen und die Erwartungen, die dessen Vater, Elias, in ihr auslöste. Die Ziellinie schien zum Greifen nahe: eine leidenschaftliche Verbindung mit diesem wunderbaren Mann. Ja, jetzt, nach vier Jahren des Wartens, fehlte nur noch die Krönung zu ihrem Glück, bestehend aus den berühmten drei Worten aus seinem Mund: »Ich liebe dich.« Gefolgt von: »Willst du mich heiraten?«

Es war acht Uhr. Zwanzig Minuten später betrat Linni die Küche, um wie üblich das Frühstück zu bereiten. Samstags versammelte sich die Familie erst gegen neun. Im Gegensatz zu den Werktagen, an denen sie um halb acht Uhr schon gedeckt hatte, sodass jeder pünktlich zu seiner Arbeit kam: Ella und sie in die Sattlerei, und Elias in seine Klavierbau-Werkstatt nebenan. Am Nachmittag wechselte Linni den Arbeitsplatz und zog sich in ihre kleine Werkstatt »Linnis Federschätzchen« zurück, die durch eine aus Japanpapier bestehende, halbhohe Trennwand von der großen Sattlerei und von Ellas vor ein paar Monaten gegründeten »Ellas Leder-Werkstatt« abgeteilt war. In der Sattlerei gab es auch einen gemeinsamen Verkaufsraum für Ellas Lederwaren sowie Linnis eigene, ganz spezielle und einzigartige Schmuckkollektion, den sie wochentags bis fünf Uhr geöffnet hatten sowie samstags bis ein Uhr.

Ihre Hausgemeinschaft, die sich täglich in der Küche zu den Mahlzeiten einfand – außer an den Wochenenden, dann kümmerte sich Elias allein oben in seiner Wohnung um seinen Sohn Luca – bestand in der Woche aus fünf Personen: ihrem Vater Christian, der seit einem Schlaganfall vor einem halben Jahr ins Erdgeschoss gezogen war, ihrer Schwester Ella, die gemeinsam mit ihr den ersten Stock bewohnte, und aus Elias und Luca, die im zweiten Stock lebten. Zudem gesellte sich zum Mittagessen noch der Sattler Ricardo zu ihnen, der seit einigen Jahren in der Werkstatt arbeitete und den Ella und sie bei jeder kniffligen Arbeit um Hilfe bitten konnten.

Ihre Mutter fehlte. Sie war vor vier Jahren bei einem schrecklichen Autounfall ums Leben gekommen. Auch Marie, Lucas Mutter und Elias’ Frau, die den Wagen gefahren hatte, war gestorben. Sie waren auf einer schmalen vereisten Landstraße gefahren, als ein Reifen geplatzt war, ausgerechnet in einer unübersichtlichen Kurve. Der Wagen war frontal mit einem entgegenkommenden LKW zusammengeprallt. Nur der LKW-Fahrer hatte schwer verletzt überlebt. Zurück blieben ein verängstigter vierjähriger Junge, ein geschockter Vater sowie natürlich Linni und Ella und deren paralysierter Vater. Sie vermisste ihre Mutter noch jeden Tag.

Samstags wechselten Ella und sie sich mit dem Kochen und dem Frühstücksdienst ab, wohingegen in der Woche allein Linni für das Kochen und den restlichen Haushalt zuständig war. Sie kümmerte sich dabei auch um Luca, hatte ihn nach dem Unfall immer in den Kindergarten und später in die Schule gebracht. Heutzutage ging er natürlich ohne ihre Begleitung. Und nachmittags wanderte er fröhlich von einem zum anderen und forderte Einblick in die vielfältigen Arbeiten.

Heute stand Ella im Laden und Linni hatte Küchendienst. Sie stellte die Zutaten auf den Tisch in der großen Küche. Sie war arbeitstechnisch perfekt geschnitten und eingerichtet: schlicht und gemütlich, ohne besonderen Schnickschnack. Und alle waren sich einig, dass sie eher auf ein großes Wohnzimmer verzichten würden als auf eine großzügige Küche. Die Küchentür führte durch einen Wintergarten in einen schattigen Innenhof, der von Hochbeeten flankiert wurde, in denen sie Blumen aller Art angepflanzt hatten. Dieser wiederum ging in ihren kleinen Gemüsegarten über, welcher vom geschützten Hof mit seinem Wintergarten durch einen Torbogen getrennt war und an seinem Ende einen Zugang zum Nachbargarten von Brigitte Baresi besaß.

Den Mittelpunkt des Hofes bildete ein ausladender Maulbeerbaum, der von einer Bank umarmt wurde, die der Vater gebaut hatte. Gern fanden sich alle, einschließlich der Nachbarn, abends oder am Wochenende an warmen Tagen zu einem Plausch auf dieser Bank ein. Wenn die länglichen blauen Früchte reif waren, mussten sie rasch verarbeitet werden und Linni machte dann eine herrliche Marmelade daraus. Sie genoss es einfach, die Früchte zu ernten und einzukochen. Wobei sie großzügig mit Unkraut umging, das Jäten war nicht so ihr Ding. Auch der anderen nicht so, doch das kümmerte niemanden.

Den Wintergarten im Hof hatten die Eltern bereits vor zwanzig Jahren selbst aus alten Holzfenstern verschiedenster Größe gebaut. Er verlängerte die letzten warmen Tage im Spätherbst und ließ sie die ersten, noch kühlen Frühlingstage geschützt im Grünen genießen.

Bereits zu dieser frühen Stunde sah sie dem Mittag entgegen. Dann würde es warm genug sein, um einen Aufenthalt im Wintergarten zu genießen, und man konnte sich an den Frühlingsblumen in den Hochbeeten erfreuen.

Sie ließ einen letzten Blick über den Tisch gleiten. Heute Morgen waren sie zu viert. Auch die Nachbarin Brigitte kam zum Frühstück, wenn sie sich, wie immer in den letzten Wochen, um Christian – Ellas und Linnis Vater – gekümmert hatte. Linni hörte wie immer pünktlich die Tür aufgehen.

Brigittes Angebot, sich morgens und abends um ihren Vater zu kümmern, war von Christian spürbar erleichtert aufgenommen worden, wie Linni und ihre Schwester festgestellt hatten. Brigitte, fünfundsechzig Jahre alt, war gelernte Krankenschwester und seit drei Monaten Rentnerin. Sie mochte Christian sehr, nicht erst seit dem Tod von Floriana, wie allen immer schon bekannt gewesen war. Die Wertschätzung bezog sich auf Gegenseitigkeit, und so waren alle zufrieden. In erster Linie ihr Vater, der die Hilfe seiner Töchter, auf die er in den ersten Wochen nach der Reha noch angewiesen war, als peinlich empfunden hatte. Und niemandem entging, dassdie beiden den größten Teil des Tages gemeinsam verbrachten. Das war ein beruhigendes Gefühl für seine Töchter.

Schon öffnete sich die Tür und Brigitte und Christian betraten die Küche.

»Hallo, guten Morgen«, begrüßte Linni die beiden.

Seit sich die Nachbarin mit den lustigen Grübchen auf den Wangen, die trotz ihrer Rundlichkeit sehr wendig ihre Arbeiten verrichtete, um ihren Vater kümmerte, hatte man die beiden noch nie mit schlechter Laune erlebt. Und so erfreute auch heute Morgen Linnis Herz das Glück, das in den Gesichtern der beiden leuchtete, linderten sie doch einander die Einsamkeit. Auch Brigitte war Witwe, bereits seit vielen Jahren. Ihr Sohn, Tommaso, lebte schon seit zwanzig Jahren nicht mehr im Nachbarhaus. Er war als Brückenbauer in die weite Welt gezogen, doch schien sein Wanderleben wohl demnächst ein Ende zu haben, wie Brigitte glücklich verkündet hatte.

Linni musste lächeln, wenn sie an ihn dachte. Bevor sie Elias verfallen war, gehörte ihr Herz dem sieben Jahre älteren Tommaso – was dieser natürlich hoffentlich nie erfahren hatte. Sie war niemals etwas anderes als die niedliche Kleine von nebenan gewesen. Dass er derjenige gewesen war, den sie bereits als Vierjährige zum Heiraten auserkoren hatte, war seit damals tief in ihrem Herzen verschlossen.

Bis Elias kam, der alles veränderte.

Ihr Vater hielt Brigitte höflich die Tür auf und betrat dann mit vorsichtigen Schritten die Küche. Sein volles, schwarzes Haar, das langsam an den Schläfen ergraute, mit den schönen Wellen, das er ein wenig länger als die meisten trug, hatte er Linni vererbt. Ebenso seine braunen Augen, die vollen Lippen und die mollige Statur.

»Guten Morgen, Linni. Mein Gott, Kind, du strahlst ja wieder wie der junge Morgen.«

Linni erwiderte Brigittes herzliches Lächeln. Brigitte trug heute ausnahmsweise eine Jeans und ein T-Shirt in knallbunten Farben. Dazu Turnschuhe. Eine Ausnahme, weil sie heute im Garten arbeiten würde. Normalerweise sah man sie stets in farbenfrohen Kleidern, Röcken und Blusen. Beige, Grau und Schwarz fehlten in ihrem Kleiderschrank. An ihre nahezu faltenfreie Haut kam nur Allzweckcreme im Sommer und eine reichhaltigere Creme im Winter, sonst bloß Wasser und Seife.

»Guten Morgen, ihr beiden, und danke für das Kompliment. Ich hatte nur gerade an etwas Nettes gedacht«, gab sie mit einem Lächeln zurück. Dass der Grund ihres Lächelns Tommaso war, behielt sie für sich.

»Hm, wie gut das Brot wieder duftet, das du gestern gebacken hast«, seufzte Brigitte, die keinen Hehl aus ihrem Genuss am Essen machte, worin sie perfekt zu Christian passte.

»Das ist ein ganz neues Rezept. Ich hoffe, es schmeckt.«

Sie trat zu ihrem Vater und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Na, Papa? Hast du gut geschlafen?«

»Wie ein Stein. Kein Wunder, nachdem mich Brigitte gestern mit ihrem Rotwein außer Gefecht gesetzt hat.«

»Oha, so schlimm war’s doch gar nicht, du übertreibst«, lachte Brigitte. Sie selbst liebte Wein, trank aber nicht gern allein – und gab sich daher alle Mühe, Christian, den passionierten Biertrinker, zum Mittrinken zu animieren. Ausgerechnet ihn, der Weine nur in die Kategorie weiß-rot, süß-sauer und einigermaßen mundend oder nicht trinkbar einteilte.

Sie setzten sich und gleich darauf wurde die Tür von Ella aufgerissen.

»Servus, miteinander«, murmelte sie schlaftrunken, zog die Tür laut hinter sich zu und ließ sich auf den Stuhl am großen Esstisch fallen.

»Hast du wieder bis tief in die Nacht gearbeitet?«, erkundigte sich Christian in seiner seit seinem leichten Schlaganfall bedächtigen Sprechweise.

Ella fuhr sich durch die kurz geschnittenen, blonden Haare und rieb sich die topasfarbenen Augen. »Ja, ich bin wirklich noch hundemüde. Aber ich wollte unbedingt eine Tasche fertigmachen. Die Kundin will heute Morgen noch vorbeischauen und sie mitnehmen. An sich eine schicke Tasche, wenn sie nicht auf diesem Lila bestanden hätte. Aber der Kunde ist König, gell Papa?«, sagte sie mit einem Seufzen. »Übrigens, sie bat mich, eines von deinen Kunstwerken am Griff anzubringen«, wandte sie sich an Linni.

Linni wunderte sich zum hundertsten Mal, dass man ihrer Schwester niemals ansah, ob sie gut oder schlecht oder nur wenige Stunden geschlafen hatte. Sie sah immer aus wie ein Engel. Eine Schönheit, auf die die Männer flogen – wenn auch stets die falschen und lediglich für kurze Zeit.

Linni betrachtete ihre Schwester zärtlich. Sie war sich längst klar darüber, dass Ella die Hübschere war – Neid hatte es wirklich nur selten zwischen ihnen gegeben. Das Einzige, worüber sie früher manchmal gestolpert war: ihre Figur, weiblich, wie ihre Mutter immer wieder betont hatte. Die Wörter mollig oder gar dick fielen nie in ihrer Familie, ohnehin war das Thema Figur bei ihnen ohne Bedeutung. Mittlerweile hatte sie sich mit ihrer weiblichen Figur versöhnt, und dass Ella essen konnte, wie sie wollte, ohne zuzunehmen, nahm sie hin wie die Tatsache, dass es große und kleine Menschen gab. Sie liebten sich, so einfach war das.

Dass Ella als Neugeborenes adoptiert worden war, spielte dabei keine Rolle. Sie war zwei Jahre älter als Linni und empfand sich von jeher als Aufpasserin – der einzige Grund zu gelegentlichen Streitigkeiten zwischen ihnen.

»Ach ja? Ein Stück von mir? Welches denn?«, erkundigte Linni sich erfreut. Seit einigen Jahren fertigte sie neben ihrer Arbeit in der Sattlerei fragile Schmuckgebilde aus Federn, wie Ohrhänger, Ketten und Broschen aller Art an. Schon früh hatte sie sich in die kunterbunten Federn verliebt und irgendwann angefangen, sie zu sammeln. In der Sattlerei ihres Vaters hatte sie wie Ella den Beruf der Sattler- und Täschnerin erlernt. Doch im Gegensatz zu Ella bereitete ihr die filigranere Arbeit als Schmuckherstellerin mehr Freude, und so hatte sie nach eineinhalb Jahren Lehrzeit bei einem Goldschmied ihr Hobby zum Beruf gemacht, und sich darauf spezialisiert, Schmuck herzustellen. Diese »Lehre« war in den Abendstunden und am Wochenende ausgeübt worden, und natürlich hatte sie in dieser Zeit nichts verdient. Sie war Anton Maier, mit dem sie mittlerweile eine tiefe Freundschaft verband, sehr dankbar, dass sie bei ihm die wichtigsten Schritte für die Modeschmuckherstellung lernen durfte. Und sie suchte ihn noch heute auf, wenn sie eine neue knifflige Arbeit in Angriff nehmen wollte. Noch arbeitete sie mit in der Sattlerei, doch bald musste Ella möglicherweise jemanden zusätzlich einstellen, wenn Ricardo nächstes Jahr in Rente ging. Wenn sie auch noch nicht allein von ihrem Hobby leben konnte, so standen dank der Touristen und ihrer eigenen Webseite die Aussichten auf eine größere Auftragslage gut.

»Einen von deinen Silberohrringen mit diesen bräunlich-schwarzen Jagdfasanfedern. Ich konnte sie allerdings davon überzeugen, dass du die nur im Paar abgeben würdest.«

»Da zeigt sich wieder, dass du nicht nur eine gute Handwerkerin bist, sondern auch eine famose Geschäftsfrau«, erklärte Brigitte mit Bewunderung in der Stimme.

»Und nicht nur das. Ich hab’ ihr außerdem deine Karte mitgegeben. Eine ihrer Bekannten bewirtschaftet einen Hof, auf dem sie unter anderem Perlhühner halten. Ich hab’ sie gebeten, bei Gelegenheit einige Federn mitzubringen und sie versprach, es nicht zu vergessen.«

»Oh, das ist wirklich lieb von dir. Ich werde sowieso im Internet neue Federn bestellen müssen.«

»Himmel, du erstickst doch in dem Gefieder«, seufzte Ella übertrieben. »Stell mir bloß nicht noch einen Schrank in die Werkstatt«, bat sie ungeachtet der Tatsache, dass sie selbst immer auf der Suche nach besonders schönen Federn war, die sie dann ihrer Schwester zum Geschenk machte.

»Keine Sorge«, gab Linni lachend zur Antwort. »Ich werde den nächsten Schrank auf einen alten draufstellen.«

Linni dachte daran, dass es im Internet wirklich alles gab, nicht nur ihre Schränke mit den zahlreichen Schubläden für Zeichnungen, in denen sie ihre Federn und Schmuckstücke unterbringen konnte. So gab es auch einen Versand für Federn, bei dem ihr das Herz aufging und kein Wunsch nach außergewöhnlichen »Schätzchen« unerfüllt blieb, seien es Marabufedern, Hahnen- und Putenfedern, gepunktete Perlhuhnfedern, Straußen- und Pfauenfedern. Selbst Federn von ihr unbekannten Kirchenfensterfasanen waren im Angebot. Längst nahmen ihre Schränke die gesamte Breite der Werkstatt zum Hof in Anspruch, wo sie ihre Werkbank aufgebaut hatte.

Eine wertvolle und mittlerweile seltene Besonderheit ihres historischen und über die Jahre sorgfältig restaurierten Hauses war die Tatsache, dass das Erdgeschoss zur Straße hin zwei Werkstätten beherbergte, welche den Hausbewohnern den Broterwerb ermöglichten: Elias’ »Werkstatt für Pianoforte«, in der er Cembali und Hammerklaviere herstellte wie zu Zeiten Bachs und Mozarts, sowie auf der anderen Seite durch einen schmalen Flur getrennt die Sattlerei, in der sie, ihre Schwester und Ricardo immer noch Sättel, Zaumzeuge und Kummets herstellten. Doch Ellas und ihre Passion hatte sich jedoch im Laufe der Zeit immer mehr den fragileren Dingen wie Ellas Taschen, Geldbörsen und Gürtel und ihren Schmuckstücken zugewendet, die sie im angegliederten Laden verkauften. Es waren kleine Werkstätten, wie es sie in früheren Zeiten zuhauf im Steinachviertel gegeben hatte. In diesem ältesten Quartier von Meran liefen die Uhren tatsächlich noch etwas langsamer. Man kannte noch seine Nachbarn und traf sich gern zu einem kleinen Schwatz oder einem Viertel Roten. Es bestand die Möglichkeit, seine Lebensmittel zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu besorgen, ohne gleich einen großen Supermarkt anfahren zu müssen. Und auf seinen Wegen erhaschte man immer wieder den Blick auf wertvolle, alte Gebäudeensemble, ohne dem Touristenstrom ausweichen zu müssen, der das Viertel noch nicht entdeckt hatte. Gut, es schien an manchen Ecken nicht ganz so gepflegt wie der Rest der Meraner Altstadt, aber es wurde geliebt, vor allem wegen seines zum Teil versteckten Liebreizes. Und seine Bewohner fühlten sich in ihm wohl, wie in einer jahrelang getragenen und liebevoll geflickten Joppe.

»Um den Schrank hochzuhieven, benötige ich allerdings deine starken Arme«, fügte Linni hinzu. »Allein bekomme ich den Trumm nicht bewegt, fürchte ich.«

Ella hob abwehrend beide Hände. »Oh, nein, meine Liebe, sicher nicht, da fragst du mal lieber deinen Elias.«

Als Ella den Namen Elias nannte, zog sich Linnis Magen wie üblich zusammen. Seit Marie, die Frau von Elias, vor vier Jahren mit ihrer Mutter bei dem Unfall ums Leben gekommen war, hegte sie die Hoffnung, dass Elias ihre Liebe zu ihm irgendwann erwidern würde.

Überlegend schaute sie hinaus auf den Innenhof. Sie wollte noch einige Kleinigkeiten fürs Wochenende einkaufen. »Zum Einkaufen könnte ich eigentlich Luca mitnehmen«, überlegte sie halblaut. Wie sie aus Erfahrung wusste, waren er und sein Vater bereits auf.

»Genau. Und bei dieser Gelegenheit könntest du auch deinem Elias einen Besuch abstatten, gell Schwesterherz?«, flötete Ella.

Linni wurde rot. »Er ist nicht mein Elias«, erwiderte sie erhitzt.

»Stimmt, hast Recht. Hätte ich beinahe vergessen«, stimmte Ella mit einem Grinsen zu.

Linni entging nicht der warnende Blick, mit dem Brigitte ihre Schwester bedachte. Ja, ja, sie wusste es natürlich. Ihrer Familie tat sie mittlerweile leid, waren doch alle der Meinung, dass ihre Liebe aussichtslos war. Nun, sie sollten sich irren. Sie erkannte doch diese kleinen Liebesbeweise – Schokolade oder Blumen zum Wochenende und vor allem jener besondere Blick, mit dem er sie dann und wann bedachte, den er nur für sie auf Lager hatte. Sie war neununddreißig Jahre alt und kein jungfräuliches Mädchen, sondern eine liebeserfahrene Frau – jedenfalls hatte sie schon ein paar Mal ein Verhältnis mit attraktiven Männern gehabt, wenn diese auch nur immer von kurzer Dauer gewesen waren. Das lag natürlich daran, dass sie seit dem Einzug von Elias mit seiner Frau Marie vor neun Jahren in ihn vernarrt war, sodass aufkeimende Leidenschaften für andere Männer nur mäßig erfolgreich waren.

»Ich hab’ übrigens eine schöne Neuigkeit«, unterbrach Brigitte Linnis Gedanken.

Alle Augen blickten zu Brigitte, und Linni war froh, dass sie nicht mehr im Fokus des Interesses lag.

Brigitte nahm einen großen Schluck von dem herrlichen Filterkaffee – keine noch so moderne Espresso- oder gar Kapselmaschine würde je den Weg in dieses Haus finden – und strahlte dann: »Tommaso wird schon nächstes Wochenende aus Dubai nach Hause kommen, wohl für immer.«

»Na, das ist doch mal eine wirkliche Freude. Und ist das sicher, dass er seine Arbeit als Brückenbauer aufgibt?«

»Absolut«, entgegnete Brigitte auf Ellas Frage. »Er hat genug von der Reiserei und will sich hier vollkommen neu orientieren.«

»Na, da wird unsere Linni ja endlich von ihrem Elias loskommen. Hoffentlich. Wenn ich mich recht entsinne, war sie schon als Vierjährige in Tommaso verliebt«, tönte Ella gut gelaunt.

In diesem Moment wäre Linni ihr gern an die Gurgel gegangen, Liebe hin oder her. »Du redest ein Blech zusammen«, zischte sie erbost.

»Wenn du meinst«, bemerkte Ella unbeeindruckt.

»Tommaso ist jedenfalls ein toller Kerl«, ließ sich da Christian vernehmen, der ihrem Gespräch wie so oft in letzter Zeit schweigend gelauscht hatte. »Schade, dass er seit so vielen Jahren in der Welt unterwegs ist.«

»Aus der er jetzt endlich für immer zu uns zurückkehrt«, erinnerte ihn Brigitte mit einem liebevollen Lächeln.

»Gut so«, murmelte Christian nickend.

Nach demFrühstück eilte Linni die Stiege nach oben zur Wohnung von Elias und Luca, wobei sie tatsächlich an Tommaso denken musste.

Sicher war er immer noch attraktiv. Sein lockiges Haar, dessen schwarze Farbe die hellblauen Augen noch mehr betonte, seine kräftige Figur mit den breiten Schultern und seine schönen, schmalen Hände hatten noch jedes Meraner Dirndl hingerissen von ihm träumen lassen. Sie hatte ihn lange nicht gesehen, zehn Jahre mindestens, und wenn, dann auch nur im raschen Vorübergehen, denn er stand eigentlich immer kurz vor einer neuen Reise und hatte ihre Familie während seiner Zwischenaufenthalte auch nicht aufgesucht – sehr zu Linnis Enttäuschung. Aber dann war ja zum Glück Elias aufgetaucht.

Tommaso musste jetzt sechsundvierzig Jahre alt sein. Gut für Brigitte, dass sie nicht mehr allein in ihrem großen Haus leben musste. Wie Linni verstanden hatte, war er solo. Sie lächelte unbewusst, gespannt, was aus ihm geworden war, und ob ihm der Erfolg zu Kopf gestiegen war. Vielleicht schleppte er sich ja gestresst und ausgepowert zurück in die Heimat.

Sie erreichte die Tür im Obergeschoss und wollte soeben anklopfen, als die Tür aufgerissen wurde und Luca vor ihr stand.

»Guten Morgen, Linni. Magst du mit uns frühstücken?«, fragte er sie mit seiner hellen Stimme. Er, ein stämmiger Bursche von acht Jahren, verfügte über ein gesundes Selbstbewusstsein, nachdem er den Schock über den frühen Tod seiner Mama scheinbar überstanden hatte. Im Gegensatz zu seinen Freunden durfte er sich gleich über zwei heimatliche Orte erfreuen, an denen er seiner Kreativität freien Lauf lassen konnte. Regelmäßig pendelnd zwischen den Werkstätten, besaß er in jeder seinen eigenen Bereich, wo er den vielfältigen Aufgaben nachgehen konnte, denen er sich mit Hingabe widmete.

»Nein, danke. Aber ich wollte dich fragen, ob du mit mir einkaufen gehen magst«, fragte sie. Insgeheim war dies allerdings tatsächlich nur ein Vorwand, Elias zu treffen, wie sie sich ehrlich eingestand, um ihm die Möglichkeit zu geben, sie einzuladen. Zu irgendetwas, und sei es zum Wochenendeinkauf.

»Servus, Linni«, begrüßte sie jetzt Elias, dem wie immer die blonden Haare in die Stirn fielen. Wieder erfreute sie die Art, wie er mit einer raschen Kopfbewegung, die sie schlicht sexy fand, die Haare zur Seite zwang, die im Gegensatz zu Tommasos Haaren feiner und glatt waren. Tommaso hatte stets Mühe gehabt, seine ungebändigten, kräftigen Haare in eine Richtung zu zwingen: ein aussichtsloses Unterfangen. Und da er Haarmittel außer Shampoo verachtete, lief er somit immer wie ungekämmt, mit in alle Richtungen abstehenden Haaren durch die Gegend.

»Nein, danke dir, aber Luca und ich wollen heute etwas ganz Besonderes kochen und dazu benötige ich beim Einkauf seine Hilfe, denn er muss mich beraten, welche Nudeln die Besten sind«, fügte er augenzwinkernd an.

Himmel noch mal. Wie stets, tauchte sie auch jetzt ein in das Leuchten dieser braunen Augen, die er, genau wie die blonde Haarfarbe, von seiner Mutter aus Südtirol geerbt hatte, wie sie wusste.

»Da kann Linni doch mitgehen.« In Lucas Stimme schwang Begeisterung.

Atemlos wartete sie auf Elias’ Reaktion. Doch die Antwort kam postwendend. »Nein, Luca. Linni hat genug zu tun.«

»Ja, aber da kann sie doch trotzdem mit uns …«

»Lass mal, Schatz. Dein Papa hat Recht. Du musst ihm wirklich helfen, dass er das Richtige kauft. Ich möchte mich auch noch mit meiner Freundin treffen«, unterbrach Linni ihn rasch. Sie wusste ja, dass der Samstag und der Sonntag die »heiligen« Tage für Elias waren, an denen er mit Luca allein sein wollte, da er in der Woche so wenig Zeit für ihn hatte.

»Dann wünsch’ ich euch noch ein schönes Wochenende.« Sie zögerte eine Sekunde, doch von Elias kam kein weiteres Wort. Schade. Letzten Freitag hatte er sie für den Abend auf ein Glas Wein mit Käse in seine Wohnung eingeladen, und sie war darüber so aufgeregt gewesen, dass sie sich komplett neu eingekleidet hatte – einschließlich sündhaft teurer Unterwäsche, die sie sich normalerweise nie geleistet hätte, deren Geld eigentlich für die Urlaubskasse bestimmt gewesen war. Wie sich herausstellte, war der Kauf der Unterwäsche eine verfrühte, in diesem Augenblick jedoch notwendige Maßnahme gewesen, schließlich wollte sie auf alles vorbereitet sein.

Es begann mit normalem Small-Talk und dann war er sehr rasch dazu übergegangen, nur über Luca zu schwatzen und Elias’ Sorge darüber, dass Luca in der Schule gemobbt wurde. »Es gibt da einen Jungen, der hat schon einmal die Klasse wiederholen müssen. Er ist bereits zehn Jahre alt und ich bin tatsächlich in Sorge«, hatte er Linni mitgeteilt. Fredie war im Gegensatz zu Luca erst spät eingeschult worden. Hinzu kam, dass der Schulkamerad Luca körperlich anscheinend überlegen war. »Was Luca wohl imponiert«, hatte er geseufzt. »Als gute Freundin wäre mir deine Meinung wichtig. Mir fällt dazu nichts ein«, war die Unterhaltung schließlich beendet worden. »Ich würde dem Knaben ja eins auf die Mütze geben, aber da ich Luca immer predige, dass man sich nur mit Worten wehren soll, konnte ich damit natürlich nicht kommen.«

»Ich bin absolut deiner Meinung. Gewalt ist so ziemlich der letzte Lösungsansatz von Konflikten«, hatte sie nickend bestätigt.

Nach zwei Stunden, als ihr wirklich nichts mehr eingefallen war, worüber sie noch sprechen könnten, und seine Blicke auf die Uhr wirklich nicht mehr zu ignorieren waren, war sie um eine Verabschiedung nicht mehr herum gekommen. Und wenn sie ehrlich war, hatte der Abend nicht das gebracht, was sie sich erhofft hatte – die Äußerung seines Wunsches, sie öfter nach der Arbeit zu sehen, oder gar ein Abschiedskuss. Nicht, dass er unfreundlich war, nein, auch jetzt blickten seine Augen liebevoll auf sie herunter. Lag in ihnen nicht doch versteckt ein Wunsch, sie in den Arm zu nehmen? Was er sich sonst im Beisein von Luca versagte? Er gehörte ohnehin zu den etwas in sich gekehrten Menschen – was seine Arbeit in der Werkstatt bewies, in der er mutterseelenallein, tagein, tagaus, vor sich hinwerkelte, begleitet nur von Luca und dessen wissbegierigen Fragen.

Wie oft sie alle Szenarien durchgespielt hatte – in Gedanken. So wie jetzt, als sie seine Hand auf ihrer Schulter fühlte.

Wenn das kein Zeichen war, dann wusste sie auch nicht. Schließlich war er kein Typ, der andere sofort umarmte oder den körperlichen Kontakt suchte. Aber nein, heute gab es keine andere Erklärung dafür, als dass er sie einfach nur rasch loswerden wollte, aus welchem Grund auch immer. Das erkannte sie, als er sie sanft zur Tür schob. Trotzdem: Sein liebevoller Blick, als er sich von ihr verabschiedete, sprach doch eigentlich Bände, oder nicht? Na also. Da gab man doch auch nach vier Jahren nicht die Hoffnung auf.

Tief in Gedanken versunken stieg sie langsam wieder die ausgetretenen Eichenstufen hinab und trat, nachdem sie sich eine leichte Jacke angezogen hatte, hinaus in die herrliche Frühlingsluft.

Für heute Mittag hatte sie einen einfachen Bauerneintopf mit Rindfleisch vorgesehen, die Leibspeise ihres Vaters. Darin gab es neben dem Rindfleisch vom Biobauern sämtliche Gemüse, die noch von der Woche übriggeblieben waren: Karotten, Petersilienwurzel, Kohlrabi, Bohnen, Tomaten und Erbsen. Rasch Zwiebel anrösten, Kartoffeln und das blättrig geschnittene Gemüse mit Salz, Pfeffer und Lorbeerblatt dazu und in einer Stunde langsam alles weich dünsten. Fertig. Außer dem Fleisch hatte sie alles da.

Nach wenigen Minuten erreichte sie den alten Bogendurchgang und gelangte in die pittoreske Passeirergasse, die geradewegs Richtung Palais Mamming, Museum und Domplatz führt. An den Wänden erkannte man noch die Relikte alter Handwerker-Beschriftungen. Das große Street-Art-Gemälde neueren Datums, das mehrere Meter einer Mauer einnahm, ignorierte Linni, wie immer. Für sie war diese Fantasie-Welt nicht raffiniert, sondern schlichte Schmiererei, diese jedoch keineswegs illegal, wie sie anfangs angenommen hatte, sondern scheinbar Kunst, wie Ella ihr weismachen wollte. Aber sie war halt altmodisch, im Gegensatz zu Ella, die Kunst interessierte. Das störte sie nicht, sie war sich schließlich dessen ebenfalls bewusst.

Sie erstand ihr Fleisch, dann bummelte sie weiter zur Hallergasse, der zweiten Hauptgasse des Viertels, von der die kleine Steinachgasse Richtung Passer abzweigte. Große Steinquader, die so genannten Ritschen, überdeckten den darunter gelegenen Bach Steinach, nach dem das Viertel benannt war.

Als sie auf ihrem kleinen Rundgang ihre Freundin Eva traf, kehrten sie rasch ins ehemalige »Henkerhaus« ein, in dem einst Merans Henker ihren Wohnsitz hatten, das heute jedoch ein beliebtes Lokal beherbergte.

Unvergesslicher Frühling in Meran

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