Читать книгу Unvergesslicher Frühling in Meran - Gabriele Raspel - Страница 6

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Ella

Währenddessen arbeitete Ella in ihrer Werkstatt. Die hochzufriedene Kundin mit der lila Tasche hatte soeben den Laden verlassen. Deren Verhalten war ihr jedoch sehr seltsam vorgekommen. Bei ihrem ersten Besuch vor einer Woche war die Dame hereingekommen, ein wenig scheu vielleicht, doch sie wurde vom Gefühl begleitet, dass sie im Grunde alles andere als das war. Sie sah gepflegt aus, hatte blondiertes Haar, das sie kurz geschnitten trug, war leicht geschminkt, attraktiv. Mitte fünfzig, war Ellas Einschätzung gewesen. Auf das Klingeln der Türglocke war sie in den Laden gegangen, wo die Kundin sich bereits neugierig umgeschaut hatte. Bei Ellas Anblick schwankte sie plötzlich und musste sich an der Verkaufstheke festhalten, sonst wäre sie wahrscheinlich umgekippt, war Ellas Mutmaßung gewesen.

»Darf ich Ihnen ein Glas Wasser anbieten?«, war ihre erschrockene Frage gewesen. Die Dame hatte abgelehnt. »Aber bitte nehmen Sie doch einen Moment Platz.« Mit diesen Worten hatte Ella mit der Hand auf den Sessel in der Ecke vor dem Schaufenster gewiesen, doch auch das war von der Frau dankend abgelehnt worden.

Auch heute war Ella wieder durch die Dame verunsichert worden. Ganz intensiv hatte die Frau ihre Hände und ihr Gesicht studiert, sodass sich Ella beim Einpacken der Tasche in Geschenkpapier – von der Dame erbeten – ungeschickter angestellt hatte als sonst. Zum Schluss erbat sich die Kundin eine Visitenkarte, falls ihre Freundinnen ebenfalls so viel Freude an den außerordentlichen Taschen und Geschenken zeigen würden.

»Ich danke Ihnen vielmals, es war mir eine besondere Freude und ich bin sicher, dass wir uns bald wiedersehen werden.«

»Sehr gern«, erwiderte Ella mit ihrem aufgesetzten Kundenlächeln.

Linni kam mit solchen Frauen viel besser zurecht. Ihr schien der Charme angeboren. Ella musste sich immer dazu zwingen, wildfremden Menschen stets gleichbleibend freundlich gegenüberzutreten, selbst wenn ihr Liebesleben mal wieder darniederlag oder Kunden sie während einer besonders kniffligen Arbeit störten. Oder – im schlimmsten Fall – eines ihrer Taschen-Kunstwerke schlussendlich doch nicht deren Vorstellungen entsprach. Doch mittlerweile hatte sie gelernt, ihre Körpersprache und Mimik unter Kontrolle zu halten. Sie war ja auf die Kunden angewiesen. Und manchmal machte es ihr sogar Spaß, die Freundliche zu spielen, ohne dass es das Gegenüber mitbekam.

Samstags kümmerte sich Ella normalerweise nicht um den handwerklichen Teil des Geschäftes, sondern um die Buchhaltung und natürlich die Kunden, die Linni während der Woche mit bediente. Doch heute fühlte Ella eine seltsame innere Unruhe, die sie sich nicht erklären konnte. Und Ruhe fand sie nicht zwischen Zahlen, sondern wenn sie sich ganz auf eine heikle Lederarbeit konzentrieren musste. Also verließ sie den Verkaufsraum, der bei aller Schlichtheit sehr einladend wirkte. Der Verkaufstresen war eine antike Kommode aus den Anfängen der Sattlerei, Linni nutzte sie für ihre Schmuck-Kollektion. Daneben stand ein bescheiden riesiger Tisch aus Tannenholz, auf dem einige ihrer Waren ausgestellt waren. Sie ging in die Werkstatt. Die schwere Tür ließ sie offen, damit sie das Glöckchen an der Eingangstür hören konnte.

Sie beschloss, dass sie ein paar letzte Stiche an der Verzierung eines Kummets, das Halsstück, an dem das Zuggeschirr festgemacht wird, vornehmen würde.

Ihre Schwester schätzte die Stickerei ganz besonders, und sie hatte am Tag zuvor das Nasenband eines Halfters mit hübscher Edelweiß-Stickerei fertiggestellt, das ebenfalls heute noch abgeholt werden sollte. Linni hatte immer schon besondere Freude an den Näh- und Stickarbeiten gehabt und war ihrer Mutter bereits im frühen Alter sehr geschickt zur Hand gegangen.

Anschließend widmete Ella sich der Fertigstellung eines ihrer inzwischen sehr begehrten Gürtel. Dafür spannte sie das Leder in einen Nähkolben ein, um mit großer Fertigkeit diesen Gürtel mittels einer Sattlernaht zu bearbeiten, wobei das Leder in einer alten Technik von beiden Seiten bearbeitet wurde, was eine ziemliche Fingerfertigkeit voraussetzte.

Die Sattlerei war der ganze Stolz ihres Vaters, der nach dem überraschenden Tod seines eigenen Vaters schnellstmöglich die Meisterprüfung abgelegt und dann den Betrieb weitergeführt hatte. Linni und Ella waren somit bereits die dritte Generation in der Werkstatt, beide Reitsportsattlerinnen und ausgebildete Täschnerinnen. Und sie hatten in Meran gut zu tun. Bereits als kleines Mädchen hatte sie, ebenso wie Linni, die meiste Zeit in der Werkstatt verbracht. Sie liebte die abwechslungsreiche Arbeit, denn kein Kummet, Geschirr oder Sattel glich dem anderen. Ihre Sattlerei war für höchste Handarbeitsqualität bekannt. Nur eine Ledernähmaschine kam noch dann und wann als einzige Maschine zum Einsatz. Ihr ganzer Stolz war das besondere Leder, das sie von ausgewählten Händlern bezogen. Industrieware aus Fernost war bei ihnen, wie auch bei Christian verpönt. Und seit Ella sich auf feinste Lederwaren verlegt hatte, bearbeiteten sie generell nur noch Bioleder. Sie hatten Hannes Senneisen, einen befreundeten Biobauern, der seinen Hof unweit von Hafling führte, überreden können, seine Rinderhäute für ihre Sattlerei zu sammeln. Ella brachte diese später in eine ihr bekannte Gerberei, wo sie monatelang – ohne das übliche Chromverfahren – pflanzlich gegerbt und gefärbt wurden. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie ihren Vater davon überzeugen konnten, doch später war Christian genauso begeistert wie sie, erkannte die besondere Qualität jenseits der Leder, die er früher benutzt hatte. Auch wenn damals bereits mit pflanzlich gegerbtem Leder geworben wurde, sagte das leider nichts darüber aus, wie die Tiere zuvor gehalten worden waren.

Ellas Inneres beruhigte sich langsam wieder – wie immer in der Werkstatt – und sie ließ die Gedanken schweifen. Vor allem zu ihrer Schwester.

Himmel noch mal, war es denn wirklich so schwer, Elias aufzugeben? Einen Mann, der vier Jahre ungenutzt gelassen hatte, sich in sie zu verlieben und doch keine sichtlichen Anstalten dazu machte. Den musste Linni abschreiben! Und wer wusste das nicht besser als sie? Sie war längst darüber hinweg, denn natürlich hatte dieser attraktive Mann auch ihr Herz höherschlagen lassen. Und nach dem Tod seiner Frau waren auch in ihr anfangs Hoffnungen aufgekommen. Doch Linni und sie waren Luft für ihn – wenn auch in ihrem Fall mit einer einzigen Ausnahme.

Und nur weil Elias sie einmal zu einem Glas Wein einlud, bedeutete das leider keine Kehrtwendung. Wie ihr Linni verraten hatte, war sie allein deshalb zu diesem »Interview« geladen worden, weil sie als Betreuerin seines süßen Sohnes fungierte, so einfach war das. Doch ihr war eben nicht zu helfen.

Es tat Ella in der Seele weh, dass sie mit ihren Bemühungen für Linnis Liebesleben gescheitert war. Unzählige Dates hätte sie besorgen können, doch Linni war nicht interessiert.

Das Resultat? Sie, Ella, einundvierzig Jahre alt, hatte – ebenfalls in Ermangelung eines Mannes – etliche dieser Dates selbst wahrgenommen und war statt ihrer Schwester bei den Verabredungen erschienen.

Fazit? Kein Erfolg.

Sie war sogar – ihr geheimstes Geheimnis – auf einer Dating-Seite im Internet unterwegs gewesen. Doch das Ergebnis war das immer gleiche gewesen, weswegen sie nun keine weiteren Versuche unternahm: Anfangs durchaus interessierte Männer, ganz sympathisch, gutaussehend, mit denen sie einige scheinbar lustige, kurzweilige Stunden verbrachte, verabschiedeten sich nach spätestens diesen paar Stunden auf Nimmerwiedersehen – immer dann, wenn sie ihren Beruf als Sattlerin erwähnte. Die verstörten Blicke auf ihre großen kräftigen Hände spürte sie jetzt noch. Und wenn sie dann noch hinzufügte, dass sie begeisterte Alpinistin sei und sich nichts Schöneres vorstellen konnte, als im blanken Fels ihre Kräfte zu fühlen, versicherten sie, wie nett Ella sei – und meldeten sich nie wieder.

Stopp! Einer hatte Ella doch recht ehrlich erklärt, dass ihr Äußeres in nichts auf einen »Männerberuf« und ihr »krasses« Hobby gedeutet hätte und er sich mit dieser Diskrepanz nicht anfreunden könne. Ein Alpinist war ihr bei diesen Dates leider nicht untergekommen.

Gut, Elias war ebenfalls begeisterter Kletterer, doch der zählte nicht als möglicher Ehekandidat. Vielleicht sollte sie ihre Netze öfter bei geselligen Hüttenabenden auslegen.

Wobei … im Augenblick brauchte sie eigentlich gar keinen Mann.

Niemals würde sie sich ihre blonden Haare umfärben oder sie gar bis auf die Hüfte wachsen lassen. Nein. Und auch keine tief ausgeschnittenen Kleider tragen, weder in der Werkstatt noch bei einem Date. Nein. Wenn einer wirklich an ihr interessiert war, kümmerte ihn ihr Outfit sicher nicht. Und erst recht würde sie ihre Stimme nie ins kindlich Naive wechseln, was sich manche Herren so sehr zu wünschen schienen. Nein! Ihre Stimme war klar und deutlich und seit mindestens 35 Jahren keine Piepsstimme mehr. Im Gegenteil, sie war ein wenig laut. Womit Elias sie dann und wann aufzog. Kein Gespräch, erst recht kein Geheimnis zwischen den Schwestern, blieb von ihm unbemerkt. Obwohl Ella kurzzeitig versucht hatte, leiser zu sprechen. Umsonst.

Ella war heilfroh, dass sie nicht einmal Linni von diesen Dates erzählt hatte, womöglich noch in der Werkstatt, sodass Elias putzmunter hätte Anteil an diesen Unsäglichkeiten nehmen können. Allein bei dem Gedanken versank sie vor Scham in den Erdboden.

Fakt war: Sie, Ella, hatte einfach keine Chancen bei den Männern, auch wenn sie gut aussah.

Ja, nach dieser Erkenntnis waren ihre Tränen geflossen. Doch irgendwann, nach drei wirklich schwierigen Klettertouren im Alleingang, zu denen sie sogar Elias’ Angebot, sie zu begleiten, ausgeschlagen hatte, und ihr von ihm nach erfolgreicher Rückkehr ehrlicher Respekt gezollt worden war, war sie wieder in die Normalität zurückgekehrt. Kein Grund für Traurigkeit. Ihre Arbeit stellte sie zutiefst zufrieden und sie konnte davon leben. Sie nannte ein schönes Haus ihr Eigen, umgab sich mit einer netten Familie und einer Anzahl guter Freunde. Sie würde sich damit zufriedengeben. Sie wusste nur, dass sie nie wieder auf ein Dating-Portal hereinfallen würde. Und sie würde wirklich niemals wieder zu einem Blind-Date gehen.

Und es gab noch etwas, das sie sich geschworen hatte: Sie würde niemals Linni etwas von dem leidenschaftlichen Kuss mit Elias verraten. Damals lebte Marie noch und – Ella errötete wie üblich bei diesem Gedanken – erwartete hochschwanger Lucas Geburt. Dass es nicht zu mehr gekommen war, hatten sie Ellas Mutter zu verdanken, die sie beinahe ertappt hätte. Wobei sie bis zum heutigen Tag nicht sicher war, ob sie nicht doch Zeugin des Kusses gewesen war.

Es passierte nach einer Klettertour Ende September. Ella und Elias wollten angesichts des beständigen Herbstwetters den Ausflug zum Klettern nutzen, Linni und Floriana hatten einen kleinen Spaziergang in einen besonders schönen Lärchenwald ins Auge gefasst. Doch dann musste Linni schließlich verzichten, da sie mit einer Grippe das Bett hütete. So fuhren Floriana, Elias und sie allein hinauf auf die kleine Hütte einer Freundin in der Nähe der Fünffingerspitze. Von dort aus wollten Elias und Ella die Tour auf den »Daumen« vornehmen. Bei diesem Ausflug benutzten sie die Seilbahn, die damals noch aus den Ein-Mann-Käfigen bestand, in die man aufspringen musste, weil sie ohne Pause ständig in Bewegung waren. Ella hasste das, allerdings ersparte ihnen die Bahn jedoch den schweißtreibenden Aufstieg zur Daumenscharte.

Marie war nicht in der Stimmung gewesen, die drei Ausflügler zu begleiten. Sie würde sich zu Hause ausruhen und auf die nahe Geburt vorbereiten, hatte sie abgewiegelt. Außerdem war sie nie eine Sportskanone gewesen. Selbst der wenig schwierige Weg in den Lärchenwald konnte sie schon früher nicht locken.

Als Elias und Ella später nach der Tour in die Hütte zurückkehrten – glücklich über die Bezwingung des schwierigen Klettersteiges und ausgepowert –, hatten sie einen Zettel auf dem Tisch vorgefunden. Floriana hatte sich noch aufgemacht, einen befreundeten Bauern mit seiner Frau zu besuchen. Sie würde dort sicherlich auch zu Abend essen und nicht vor acht Uhr zurück sein.

Ella wusste bis heute nicht, wie es zu dem leidenschaftlichen Ausbruch gekommen war. Es war geschehen und es hätte – davon war sie noch heute überzeugt – kein Zurück gegeben, wenn nicht plötzlich ihre Mutter am Hüttenfenster aufgetaucht wäre. Da war es keine fünf Uhr. Bevor ihre Mutter damals die Hüttentür geöffnet hatte, konnte Ella ihren Schatten am Fenster erblicken, und Elias und sie schafften es noch in letzter Sekunde, sich voneinander loszulösen. An der Hüttentür war Floriana dann stehen geblieben. Wie paralysiert waren Ellas und Elias’ Blicke auf die Tür geheftet gewesen. Die Klinke wurde heruntergedrückt, die Tür öffnete sich einen Spalt, doch dann wurde sie sogleich wieder geschlossen. Florianas Schritte entfernten sich und sie verschwand im nahen Wäldchen, aus dem sie erst eine halbe Stunde später zurückkehrte. Die Dämmerung brach bereits über das Hochtal herein. Ihr spontaner Besuch bei den Bauersleuten war umsonst gewesen, niemand war zu Hause.

Ob Floriana etwas gesehen hatte? Ella war sich fast sicher. Doch dieses Rätsel würde sich nicht mehr lösen lassen. Niemals war ein Wort zwischen den beiden darüber gefallen, allein bei dem Gedanken schämte sie sich.

Nach diesem Abend hatten Elias und sie Abstand zueinander gehalten. Bis zum heutigen Tag. Und sie wusste, dass sich das nie wieder ändern würde. Denn man konnte es drehen und wenden wie man wollte, Elias und sie passten nicht zueinander. Dieser eine Kuss war ein Ausrutscher gewesen, der sich nicht wiederholen würde. Selbst jetzt, da er frei war für eine neue Beziehung. Abgesehen davon, dass Linni ihr das niemals verzeihen würde, blieb auch die Tatsache, dass sie einen männlichen Beruf ausübte und man ihr eine unweibliche Coolness, ja sogar eine gewisse Härte bezeugt hatte. Und Marie, die Frau, die Elias unendlich geliebt hatte, war die weiblichste und sanfteste Person gewesen, die Ella jemals kannte: gesegnet mit wunderschönen, zarten Händen, einer leisen, wohlklingenden Stimme und sanften Wellen in ihrem schulterlangen, seidigen Goldhaar. Und darüber hinaus war sie von Beruf auch noch Konzertpianistin gewesen. Unterschiedlichere Personen hätte es kaum geben können.

Marie stand für Harmonie, Kunst, Heiterkeit. Und sie, Ella, für … sie wusste es nicht. Sicher, sie war eine gute Handwerkerin, aber wie sollte das Elias beeindrucken? Handwerkliche Qualitäten besaß er selbst, das würde ihm kaum imponieren. Bestenfalls könnte sie mit ihrem Humor glänzen, ein handfester Humor, und nicht etwa eine feinsinnige Heiterkeit wie sie bei Marie dann und wann aufblitzte.

Tja, da konnte sie halt nichts machen. Und das hatte sie sehr schnell begriffen und ihn sich abgeschminkt. Selbst nach Maries Tod war sie von ihrem Träumen geheilt gewesen. Und das war auch gut so.

Linni könnte so viel von ihr lernen.

Unvergesslicher Frühling in Meran

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