Читать книгу Unvergesslicher Frühling in Meran - Gabriele Raspel - Страница 7
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Christian
Das Mittagessen war wieder einmal ein voller Erfolg. Linnis Kochkünste waren einfach hervorragend, stellte Christian später fest. Zum Glück hatte sie vom Nachtisch – Vanillepudding mit Mandeln und Schokosauce – die doppelte Portion gemacht, sie kannte schließlich ihre Pappenheimer. Danach reichte sie allen einen Espresso – nicht aus einer super-coolen Espressomaschine, sondern einen vom guten alten Bialetti Mokka Espressokocher. Nun, als der Zucker auf dem Tisch stand, bat Christian Linni um einen seiner edlen Obstbrände, die er jährlich von einem befreundeten Bauern geschenkt bekam. Der richtige Zeitpunkt, seine kleine Familie einzuweihen, war gekommen. Einzuweihen in eine wunderbare Angelegenheit, von der er nie geträumt hätte, sie noch einmal erleben zu dürfen.
Dies würde der erfreuliche Teil dieses Tages werden. Danach, das war leider unumgänglich, würde dann der unerfreuliche Teil beginnen. Aber Brigitte hatte Christian die Pistole auf die Brust gesetzt, und er nunmehr eingesehen, dass vor allem nach seinem Schlaganfall es unabwendbar war, dass wenigstens eine seiner beiden Töchter Bescheid wusste. Da die eine von ihnen eine Person war, der er sich nicht anzuvertrauen wagte, die wichtigere von beiden in dieser Angelegenheit, blieb ihm nur, die andere einzuweihen. Sie würde mit Sicherheit ebenfalls nicht begeistert sein – und das war wahrscheinlich die Untertreibung des Jahres. Um angesichts der bevorstehenden Reaktion wenigstens ein Minimum gewappnet zu sein, musste er jetzt einen Schnaps trinken. Und wieder einmal beschlich ihn die schreckliche Erkenntnis, dass er im Grunde ein Feigling war. Brigitte hatte das erkannt, doch sie liebte ihn trotzdem, so wie ihn zuvor Floriana geliebt hatte. Aber wenn Brigitte einmal etwas durchzusetzen gedachte, dann tat sie dies auch. Und er war sich noch nicht ganz klar darüber, ob er diese Charaktereigenschaft als positiv oder negativ werten sollte.
»Es gibt etwas zu feiern. Jedenfalls hoffe ich, dass es euch freuen wird«, eröffnete er das Gespräch am Tisch.
Alle Köpfe wandten sich ihm zu, und er bemerkte, wie sich Brigittes Wangen röteten. Er musste schmunzeln. Linni stand auf und holte vier Schnapsgläser. Mit einem feinen Zittern seiner Hand, welches er dieses Mal nicht seinem Schlaganfall zuschreiben konnte, schenkte er ein. Dann stand er auf, erhob sein Glas und vermeldete kurz und knapp, wie sie es von ihm gewöhnt waren:
»Wie ihr, du Ella und du Linni, sicher längst bemerkt habt, haben Brigitte und ich uns ineinander verliebt.«
»Hört, hört!«, rief Ella.
»Ja, Vater, wissen wir längst. Und das freut uns natürlich«, sagte Linni mit einem Schmunzeln, und sie bedachte Brigitte mit einem Lächeln. Natürlich freuten sie sich für die beiden. Sie alle mochten Brigitte, und der Tod ihrer Mutter lag bereits vier Jahre zurück. Jahre, in denen sich ihr Vater sich manches Mal einsam gefühlt hatte, was er jedoch ohne Klagen hingenommen hatte. Der Unfalltod von Floriana war für alle schlimm gewesen, da musste er seine Lieben nicht noch mit seinen Befindlichkeiten belästigen.
»Und darum haben wir beschlossen, dass ich zu ihr hinüberziehen werde. Und das gleich am nächsten Wochenende.«
Linni und Ella sahen sich überrascht an, erhoben ihre Gläser, und dann sagte Ella: »Oh, Vater, wie uns das freut. Na, aber herzlichen Glückwunsch euch beiden.« Lächelnd stießen alle miteinander an.
»Und? Wollt ihr dann auch heiraten?«, erkundigte sich Linni. Sie, da war sich Christian sicher, hätte keinerlei Probleme damit. Und er vermutete, dass Ella ebenso dachte.
»Das werden wir im nächsten Jahr prüfen«, ließ sich Brigitte vernehmen, die bisher geschwiegen hatte. Doch an den hochroten Wangen und den bebenden Fingern, mit denen sie das Schnapsglas ergriff, konnte man erkennen, dass sie aufgeregt war. »Wenn wir uns nicht die Köpfe einschlagen, werden wir diesen Schritt wohl auch wagen.«
»Wobei ich ein halbes Jahr Wartezeit ausreichend fände. Oder drei Monate«, verbesserte Christian sich augenzwinkernd. »Schließlich hatte sie Zeit genug, mich kennenzulernen.«
»Nun gut, ich stimme zu. In ungefähr drei Monaten geben wir euch Bescheid«, gab sich Brigitte strahlend einverstanden. »Prosit, ihr Lieben.« Sie setzte das Glas an die Lippen und trank es aus. Die anderen taten es ihr nach und leerten ebenfalls ihr Gläser.
Alle unterhielten sich angeregt über die Zukunft, als Brigittes Handy klingelte. »Entschuldigt, aber ich hab’ auf Tommasos Anruf gewartet. Er will mir mitteilen, wann er genau hier ankommen wird.«
Sie nahm das Telefonat entgegen. Es war kurz, und ihr Gesicht begann, noch strahlender zu leuchten. »Um die Freude noch größer zu machen, hat mein Sohn mir soeben mitgeteilt, dass er bereits heute Abend zu Hause eintreffen wird. Ach, Kinder, ich bin ja so glücklich. Und ich hoffe, ihr teilt meine … unsere Freude.« Alle spürten, dass sie um Fassung rang.
Linni stand auf und umarmte sie. »Das tun wir doch, aus vollem Herzen, liebe Brigitte.«
»Und es freut ebenfalls unsere Linni, dass ihre Jugendliebe endlich auf dem Heimweg ist«, tönte Ella lachend. Prompt errötete Linni. »Lange genug hat sie ja darauf warten müssen.«
Christian schmunzelte. Selbst ihm war damals nicht entgangen, wie sehr sie als Kind Brigittes Sohn angehimmelt hatte.
»Ja, Schatz, du warst wirklich süß damals«, lächelte Brigitte. »Leider ist Tommaso so viel älter, sieben Jahre Altersunterschied sind für einen jungen Mann eben wie für uns zwanzig Jahre.«
»Keine Sorge, Brigitte, ich bin über ihn hinweg«, gab Linni lächelnd zur Antwort. Also war ihr Schmachten damals nicht unbemerkt geblieben, und somit wahrscheinlich auch nicht von Tommaso selbst. »Auf jeden Fall ist es schön, dass dein Sohn wieder bei dir … bei euch einziehen wird.«
Brigitte nickte. »Groß genug ist das Haus ja. Tommaso hat den gesamten ersten und zweiten Stock für sich, und ihr kennt ja das Haus. Er ist also nicht gezwungen, durch unsere Wohnung nach oben zu steigen, wenn es mal spät wird.«
In der Tat war ihr Haus so groß wie das von Christian und hatte ebenfalls ein Flachdach. Doch im Gegensatz zu ihrem gab es nicht nur eine Treppe innen, sondern zusätzlich die mit Holz umbaute Treppenstiege außen an der Seite des Hauses, sodass die zwei Wohnungen separat zu erreichen waren. Er würde viel Platz für sich allein haben. Die Wohnung von Brigitte nahm das ganze Erdgeschoss ein, was wiederum ein Glücksfall für Christian war. Denn, auch wenn der Schlaganfall glimpflich verlaufen war, eine Wohnung ohne Treppen war von Vorteil.
Gut, dass Tommaso heute zurückkehrte, nicht nur, weil er gespannt war, ob er sich verändert hatte. Tommaso war immer schon ein attraktiver Mann und er besaß hoffentlich auch zwei starke Arme, die kräftig bei seinem Umzug mit anpacken konnten. Wobei sich sein Hab und Gut in wenige Kartons verstauen ließ.
Ja, es war ein wirklicher Glückstag, dachte er zufrieden. Zumindest dieser Teil des Tages.
Brigitte verabschiedete sich mit einem Kuss, nachdem sie die Küche aufgeräumt hatten, und auch Ella begab sich hinauf in ihr Reich.
»Du weißt, was du zu tun hast«, erinnerte seine Zukünftige Christian ernst an seine Pflicht.
»Ja, keine Sorge, ich ziehe das durch«, versprach er.
Als Linni sich ebenfalls zurückziehen wollte, hielt er sie auf. »Du, Schatz, ich möchte etwas mit dir besprechen. Hättest du einen Augenblick Zeit?«
Sie schloss das Küchenfenster, und das Vogelgezwitscher von draußen klang nur noch gedämpft in den großen Raum. Als sie sich setzen wollte, legte er den Arm um sie.
»Besser, wir gehen hinüber in mein Zimmer.«
Sichtlich erstaunt folgte Linni seiner Bitte. Er konnte sie verstehen. So etwas hatte es lange nicht gegeben. Er entsann sich des Todestags ihrer Mutter und Elias’ Frau. Auch da hatte er sie zur Seite genommen und ihr in dem Zimmer die schreckliche Nachricht übermittelt.
»Ist jemand krank?«, fragte sie mit bangender Stimme.
»Nein, Schatz. So schlimm ist es nicht.« Nicht ganz jedenfalls, fügte er insgeheim hinzu, denn die Nachricht war schlimm genug. Je nachdem, wie man es betrachtete.
In seinem Zimmer schloss er das Kipp-Fenster und wies auf den kleinen runden Tisch in der Ecke des Raumes, der ihm seit seinem Schlaganfall als Schlaf- und Wohnzimmer diente. Das Fenster wies auf die für den normalen Verkehr gesperrte Sackgasse, auf der es wie immer ruhig war. Eine mächtige Ringelweide in ihrem Vorgarten filterte auf angenehme Weise das Sonnenlicht, was vor allem im Hochsommer sehr wohltuend war.
»Bitte, nimm Platz«, bat er förmlich.
Sie sank in den blassgrünen Cocktailsessel, den ihre Mutter noch kurz vor ihrem Unfall auf einem Flohmarkt erstanden und neu bezogen hatte. Früher war dieser Raum ihr privates Reich gewesen.
Das Zimmer war unbeheizt, und Christian bemerkte, wie Linni die Arme vor der Brust verschränkte und die Schultern hochzog.
»Ist dir etwa kalt? Soll ich die Heizung einschalten?«
Sie schüttelte stumm den Kopf.
Er ließ sich in den anderen kleinen Sessel fallen. Heute fühlte er sich nicht so gut wie an den anderen Tagen, obwohl doch die freudige Nachricht über Brigitte und ihn so wohlwollend aufgenommen worden war. Aber nun folgte der schwere Teil des Tages, und er wünschte, er hätte ihn schon hinter sich. Wie sollte er nur beginnen?
»Das, was ich dir heute zu sagen habe, soll bitte unter uns bleiben«, begann er schließlich.
»Kommt drauf an, was du mir zu sagen hast«, brachte Linni ebenfalls mühsam heraus.
Er wusste, dass es unter den Geschwistern keine Geheimnisse gab – sofern er nicht völlig falsch lag. Abgesehen davon, dass es ihr grundsätzlich schwerfiel, Geheimnisse für sich zu behalten.
»Nein, zuerst versprich mir, dass du auf jeden Fall den Mund hältst.«
Sie zögerte kurz, dann nickte sie leicht. »Gut, mach’ ich.«
Am Kneten seiner Hände merkte Linni, wie nervös er war. Und als er registrierte, wie sie ihn mit vor Angst geweiteten Augen anstarrte, verstärkte sich diese Nervosität noch. Im Zimmer war es totenstill. Die Vogelstimmen von außen drangen nur gedämpft herein. Am liebsten wäre er aufgestanden, um das Fenster wieder weit zu öffnen, als könnte er damit die bedrückende Stimmung in die Freiheit entlassen. Doch er wollte sicherstellen, dass sie niemand belauschen würde. Linnis Lippen pressten sich aufeinander, und einen Moment war er gerührt über ihre Bemühung, gefasst das Geheimnis entgegenzunehmen.
»Ich wollte es dir schon gleich nach meinem Schlaganfall verraten, aber dann … verließ mich der Mut und … und ich war auch viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt, als dass ich die Kraft hatte, es dir zu sagen.«
Sie holte tief Luft, dann blickte sie ihm fest in die Augen.
Er, der Fels in der Brandung, er zitterte, und er wusste, ohne Brigittes Aufforderung hätte er nicht den Mut gehabt, sich der Pflicht zu stellen, wenigstens Linni einzuweihen.
Er hob an, doch da hörten sie im Flur Ellas Schritte. Er zuckte zusammen und ergriff Linnis Arm. »Psst … warte!«
Sein Herzklopfen verstärkte sich. Hoffentlich stürmte sie jetzt nicht in sein Zimmer, denn wenn sie sie beide hier vorfand, würde sie sofort merken, dass etwas nicht stimmte. Und dann konnte er für nichts mehr garantieren.
Sie vernahmen, wie Ella das Haus verließ, und er und auch Linni atmeten sichtlich auf.
»Es tut mir leid, dass ich es dir überhaupt verraten muss, aber mir ist klargeworden, dass es wirklich wichtig ist. Zudem hat Brigitte mir die Pistole auf die Brust gesetzt, endlich zu reden«, begann er zögernd. »Ansonsten wäre sie nicht einverstanden gewesen, dass ich zu ihr hinüberziehe.«
Er bemerkte eine Spur von Eifersucht in den braunen Augen seiner Tochter. »Papa, bitte spuck es aus!«
Er räusperte sich. »Es geht um Ella.«
»So weit waren wir schon«, erinnerte sie ihn ungeduldig.
»Es geht um ihre Geburt.« Er hielt inne. Oh Gott, wie sollte er das Ganze bloß überstehen. Einen Rückzieher konnte er allerdings vergessen. Brigitte würde ihn vierteilen. Zu Recht. »Tatsache ist … äh … verdammt, es ist so schwer …«
Sie reagierte nicht. Er fuhr fort, ohne um den heißen Brei zu reden. »Sie wurde nach ihrer Geburt von uns adoptiert …«
»… wie wir alle bereits wissen«, unterbrach ihn Linni eine Spur gereizt.
»Doch ihre Mutter … äh … sie verstarb nicht bei der Geburt, sondern … sondern sie lebt.«
»Vater!« In Linnis Miene war nichts als schiere Erschütterung zu lesen.
»Und nicht nur das, außerdem gibt es noch …« Er stockte.
»Den Vater«, half sie, weiß wie die Wand, ihm auf die Sprünge, ungewohnt scharf. Ihre sonst so weiche Stimme war klirrend wie Glas.
»Nein, also, davon weiß ich nichts. Das, was ich meine ist … nun … äh … Ella hat eine Zwillingsschwester. Noemi.«
Linni leckte sich die Lippen. Einige Sekunden war die Luft zum Schneiden und eine zu Boden fallende Stecknadel hätte sich wie die Detonation einer Bombe angehört. »Weißt du, was du da sagst?«, krächzte Linni mit Reibeisenstimme hervor.
Er nickte. »Und ich weiß, dass es unverzeihlich ist, dass wir, also Mutter und ich, euch nie eingeweiht haben.«
»Vor allem Ella gegenüber«, erklärte Linni erschüttert.
Erschaudernd realisierte er, dass sie ihn betrachtete, als hätte sie einen völlig Fremden vor sich. Nicht einmal in ihrer teilweise strapaziösen Teenagerzeit hatte sie ihn so angesehen – voller Abscheu und Distanz.
Aufgewühlt strich sie sich über die trockenen Lippen. »Wo … wo wohnen die beiden?«
»In Mailand.« Er schwieg und blickte starr aus dem Fenster.
»Rede! Was ist genau passiert?«
Christian zückte das Stoff-Taschentuch und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Floriana arbeitete damals als Schwesternhelferin im Krankenhaus. Brigitte hatte ihr die Stelle verschafft. Dort lag also Aurelia, das ist die Mutter«, fügte er töricht hinzu, »und brachte Zwillinge auf die Welt. Eineiige Zwillinge. Aurelia war damals achtzehn Jahre alt und völlig überfordert. Der Vater hatte sich auf Nimmerwiedersehen verabschiedet und sie stand hilflos vor der riesigen Aufgabe, zwei kleine Kinder praktisch ohne Hilfe großzuziehen. Ihre Eltern hatten sie verstoßen. Aurelia war bereits mit sechzehn ausgezogen.« Jetzt, da die schwersten Worte ausgesprochen waren, redete er ohne Punkt und Komma und mit monotoner Stimme. »Sie und Floriana konnten auf kein gutes Verhältnis zurückblicken. Und als Aurelia nach der überstandenen Geburt, die keine drei Stunden dauerte, derart klagte, bemerkte Floriana, sie solle doch froh sein, dass sie zwei gesunde Kinder auf die Welt gebracht hatte und wie sehr sie und ich uns Kinder wünschten. Und so entstand alles. Aurelia bot uns Ella zur Adoption an und wir waren überglücklich. Allerdings verweigerte sie sich unserem Wunsch, auch das zweite Kind, Noemi, zu adoptieren. Zudem verlangte sie unser Schweigen über das Vorhandensein des Zwillings und dass ihre leibliche Mutter lebte, was natürlich das Schwerste war. Dann zog sie nach Mailand und wir hörten nie wieder von ihr.«
Linni schlug mit beiden Händen auf den Tisch. »Das ist doch ungeheuerlich«, brach es aus ihr heraus.
Christian fuhr sich mit feuchten Händen durch sein dichtes Haar. »Ja, im Grunde schon und glaub mir, es hat uns manch schlaflose Nacht gekostet.«
»Ach, das tut mir aber leid«, antwortete sie bissig. »Und du hättest also Ella und auch mich bis zu deinem Tod im Ungewissen gelassen, wenn Brigitte nicht wäre.«
Er wischte sich erneut übers Gesicht. »Äh … nein … ja.«
»Vater, du bist wirklich ein richtiger Feigling. Schäm dich«, stieß sie außer sich hervor. »Wie stand denn Mama zu all dem?«
»In den ersten Jahren beschwor sie mich, dass wir euch die Wahrheit sagen, doch dann … zerrann die Zeit, ihr wurdet größer … und irgendwann haben wir nicht mehr daran gedacht, also … äh … die Sache verdrängt. Bis nach meinem Schlaganfall.«
»Na, da hatte der ja auch ein gutes«, entgegnete Linni immer noch völlig aufgewühlt.
Einen Moment herrschte Stille. »Jetzt ist es so, dass ich mich völlig überfordert fühle. Ich fürchte, dass, wenn ich jetzt Ella einweihe, sie sich von mir abwendet. Und nicht nur von mir, sondern ebenso von Brigitte, denn die wusste natürlich ebenfalls Bescheid. Allerdings hat sie uns schon früher gedrängt, euch reinen Wein einzuschenken.«
»Und wenn Ella dahinterkommt, dass auch ich Bescheid weiß, wird sie auch mir einen Tritt geben«, stieß Linni hervor. »Zu Recht.«
Wieder legte sich bleiernes Schweigen über sie. Christian seufzte tief und betrachtete unglücklich ein Rotkehlchen, das sich am ausgestreuten Futter gütlich tat. Er schritt nicht einmal ein, als die graue Nachbarskatze sich unbemerkt anschlich, um mit dem Vogel zu »spielen«, was er normalerweise durch energisches Klopfen am Fenster verhindert hätte.
»Du wirst es ihr verraten?«, erkundigte sich Christian mit schwacher Stimme.
Erregt sah sie ihm in die Augen. »Hast du eine Ahnung, in was für eine unmögliche Situation du mich bringst?«
Er nickte. »Und glaub mir, ich hätte von mir aus nichts gesagt, aber … Brigitte … sie hat es zur Bedingung gemacht, dass ich wenigstens dir die Wahrheit beichte. Und du … im Falle meines Todes … Ella einweihen würdest.«
»Das darf doch nicht wahr sein«, rief Linni entrüstet. »Dass Brigitte geschwiegen hat, kann ich ja noch verstehen, aber dass der Schwarze Peter jetzt bei mir liegt, ist einfach ungeheuerlich. Abgesehen davon, dass du ohne Brigitte weiterhin, feige wie du bist, geschwiegen hättest … auch wenn du mir damit einen großen Gefallen getan hättest«, fügte sie laut hinzu.
Er nickte betreten.
Linni starrte weiterhin geradeaus. Das Rotkehlchen hatte den Sprung der Katze in letzter Sekunde erahnt und war fortgeflogen. »Ich bin so sauer, ach was, sauer ist der falsche Ausdruck. Ich bin extrem entsetzt, dass du mich mit deiner Enthüllung in eine solche Situation bringst. Das werde ich dir nie verzeihen, Vater.«
Mit diesen Worten stand sie auf, doch seine Hand schnellte vor und hielt sie fest. »Verzeih mir, Linni! Aber glaub mir, auch uns, deiner Mutter und mir, lag das all die Jahre auf der Seele.«
»Tja, da sieht man, dass es besser ist, unangenehme Dinge gleich zu benennen und sie nicht ein Leben lang unter den Teppich zu kehren.«
»Aber Ella hätte sich doch, sobald sie dazu in der Lage gewesen wäre, auf die Suche nach den beiden gemacht. Und dann wäre bei ihr möglicherweise dieser Zwiespalt entstanden, wen sie mehr liebte – ihre leibliche Mutter oder Floriana. Glaub mir, Floriana hätte diese Situation gemeistert. Aber Aurelia hätte Ella ganz sicher mit dieser Frage, wen Ella mehr liebe, bedrängt, denn sie war wirklich kein einfacher Mensch. Und außerdem hätte sich Ella immer nach Noemi gesehnt«, rief er erregt. »Das ist so bei Zwillingen, davon bin ich jedenfalls überzeugt.«
Linni lauschte mit hängenden Armen seinen Ausführungen. »Also wirst du dein Wissen für dich behalten?«
»Ja, ich werde schweigen. Damit ich deinem Glück mit Brigitte nicht im Wege bin«, gab sie ironisch zur Antwort.
»Lass bitte Brigitte aus dem Spiel. Ich allein trage die Schuld.«
»Da hast du ausnahmsweise einmal Recht.« Mit diesen Worten verließ sie sein Zimmer.
Christian blieb zurück, aufgewühlt und unglücklich – und doch ein klein wenig erleichtert.