Читать книгу Sturmgeflüster - Gabriella Engelmann - Страница 10
ОглавлениеUnd hier ist das berühmte Twisters«, sagte Piet, nachdem wir von der belebten Einkaufsmeile Friedrichstraße in die Paulstraße abgebogen waren. Er war doch noch überraschend aufgetaucht, um mich abzuholen, und trug netterweise meinen schweren Korb. Während wir plauderten, fragte ich mich, weshalb er mir gegenüber so freundlich und hilfsbereit war. Immerhin schien er ein gutes Stück älter zu sein als ich.
Aber vielleicht erinnerte ich ihn ja an seine kleine Schwester oder so.
»Wow, was ist denn das?«, fragte ich, als ich einen orangerot bemalten Bus mit gelben Logos und einer Surfillustration bemerkte, der auf dem Parkplatz vor dem Burger-Restaurant stand. Im Fenster baumelte ein T-Shirt mit der Aufschrift Twisters – great tasting food. Darunter war ein Hawaiianer abgebildet, der Ukulele spielte.
»Das ist ein umgebauter alter UPS-Wagen, den Okke, der Besitzer des Twisters, als Food-Truck für Events nutzt«, antwortete Piet. Tatsächlich hing an der einen Längsseite des Wagens eine Tafel mit Auszügen aus der Speisekarte. Links daneben lehnte ein Board an der Wand, auf dem Angaben zum Surfunterricht standen. Auf dem Asphaltboden lagen weitere Bretter.
»Und wofür sind die?«, fragte ich und nickte in Richtung der Boards.
»Fürs Suppen«, erklärte Piet.
Suppen?! Ich kicherte.
Piet grinste ebenfalls. »Suppen ist die Abkürzung für Stand-Up-Paddling. Klingt lustig, ich weiß«, fuhr er fort. »Aber lass uns lieber mal reingehen, bevor es hier gleich ultravoll wird und wir keinen Platz mehr kriegen.«
Er schob mich sanft durch die Eingangstür in einen Raum, in dem alles unter dem Motto Hawaii oder Südsee zu stehen schien: An den hellgelben Wänden mit den türkisen und orangefarbenen waagrechten Streifen oberhalb der Sitzbänke hingen hawaiische Bildmotive, deren Rahmen mit Stoff-Blumengirlanden behängt waren. Auf Monitoren liefen Surfvideos.
»Ich wusste gar nicht, dass Winnetou mal auf Sylt war«, witzelte ich und deutete auf einen großen Holzpfahl in der Ecke des Restaurants, der mich an einen indianischen Totempfahl erinnerte.
»Aber klar doch, er ist auf einem Einbaum hergeschippert«, antwortete Piet schmunzelnd.
»Das ist ein so genannter Tiki, ein geschnitzter Stamm aus Koa-Holz – Okke hat ihn aus Polynesien mitgebracht. Tikis symbolisieren Götter und Hüter spiritueller Kräfte. Wenn du magst, erzähle ich dir irgendwann mal was über die Mythologie Polynesiens und die Geschichte der pazifischen Meerjungfrau Pali.«
Ich murmelte »Sehr gern«, war aber irgendwie irritiert. Piet schien mir viel zu bodenständig, um an Meerjungfrauen oder mythologische Zauberwesen zu glauben. Ich hingegen konnte schon als Kind nicht genug Sagen und Märchen hören, in denen es um Wassernixen ging, zum Beispiel Andersens Kleine Meerjungfrau, und ihr trauriges Ende hatte mir jedes Mal aufs Neue Tränen in die Augen getrieben.
Doch mir blieb keine Zeit, weiter über Piet nachzudenken. Im hinteren Teil des Raums entdeckte ich eine Clique, in deren Mittelpunkt der Dreamboy aus dem Sunset Beach saß. Diesmal ohne seine rothaarige Freundin.
Piet steuerte direkt auf die Clique zu. Er tippte einmal kurz mit dem Finger gegen die Stirn, legte seinen Arm um meine Schulter und stellte mich als Tinka aus Berlin vor, die gerade bei den Großeltern in Morsum zu Besuch sei.
Nachdem die Clique kurz zuvor noch in ein lebhaftes Gespräch vertieft gewesen war, verstummte die Unterhaltung plötzlich. Eben noch lächelnde Gesichter verwandelten sich binnen Sekunden in versteinerte Mienen.
Verwirrt, weil ich schon wieder eine solche Reaktion auslöste, stammelte ich »Hallo allerseits« und überlegte, was an mir so schrecklich war, dass allen sofort die Gesichtszüge entglitten, sobald sie mich sahen. Am liebsten wäre ich in die Toilette gestürmt, um in den Spiegel zu schauen, doch dazu blieb keine Zeit.
»Magst du was trinken, Tinka, oder hast du Hunger?«, fragte mich ein sympathisch aussehender Typ, der hinter dem Tresen hervorkam und mir lächelnd die Speisekarte reichte. Er war groß und breitschultrig. Rotblonde Locken lugten unter seinem Basecap mit der Aufschrift Twisters hervor. Er war ein bisschen fülliger als die anderen durchtrainierten Surfer. »Moin, ich bin Okke.«
»Hallo Okke, ich bin Tinka«, antwortete ich und wäre kurz darauf am liebsten im Erdboden versunken. Dass ich Tinka hieß, sollte sich ja mittlerweile herumgesprochen haben.
»Was ist denn besonders lecker?«, fragte ich, um meine Verlegenheit zu überspielen. Ich hatte zwar vorhin im Sunset Beach eine Ofenkartoffel mit Sour Cream gegessen, aber trotzdem noch Appetit. Ob es an der Sylter Luft oder aber an meiner Nervosität lag, konnte ich nicht sagen.
»Unsere Spezialität sind natürlich die Twisters und die klassischen Burger, aber wir haben auch was für Vegetarier, falls du kein Fleisch magst.« Okke schaute mich freundlich aus warmen braunen Augen an. Während Piet mit den anderen quatschte, studierte ich die Karte.
»Diese Süßkartoffel-Pommes-frites klingen gut«, sagte ich. »Und Cajun-Burger auch.« Hm, ob das nicht zu viel war? Andererseits, dachte ich, wäre es vielleicht ratsam, die merkwürdige Atmosphäre, die seit meinem Auftauchen herrschte, zu entschärfen, indem ich mich mit Essen beschäftigte.
»Gute Wahl«, stimmte Dreamboy zu, der auf einmal neben mir stand, um dann Richtung Toilette zu verschwinden.
»Komm, setzen wir uns«, sagte Piet und winkte mich an einen der Tische, an dem noch zwei Plätze frei waren. Mein Herz geriet aus dem Takt, als ich sah, dass es genau der Tisch war, an dem Dreamboy gesessen hatte.
»Hi, ich bin Konstantin«, stellte sich mein Stuhlnachbar vor. Er sah aus wie ein Grieche, hatte ziemlich hagere Gesichtszüge und die irrsten blauen Augen, die ich je gesehen hatte. Trug er etwa gefärbte Kontaktlinsen? »Wie lange bleibst auf Sylt?«
Die beiden Typen neben ihm beachteten mich gar nicht, sondern daddelten auf ihren Smartphones herum.
»Die ganzen Sommerferien über, also sechs Wochen«, antwortete ich und fand die Vorstellung, so lange hierzubleiben, plötzlich gar nicht mehr so furchtbar. Als Dreamboy zurückkam und mich unverwandt anschaute, begann mein Herz von Neuem zu rasen.
»Surfst du? Oder kitest?«, fragte Konstantin. Da es mir peinlich war zuzugeben, dass ich mit Wassersport – bis auf Schwimmen – gar nichts am Hut hatte, schüttelte ich einfach nur den Kopf.
»Ist vielleicht auch besser so«, antwortete Dreamboy. »Ich bin übrigens Sven.« Endlich hatte mein Traumtyp einen Namen.
»Ah ja, Sven?«, fragte Konstantin. »Das sagt ja genau der Richtige.«
Irrte ich mich oder lag plötzlich ein Hauch von aggressiver Spannung in der Luft?
»Kitesurfen ist zwar mein Leben, wie du weißt, aber ich erwarte nicht, dass das bei anderen auch so ist. Es gibt ja auch noch andere Sportarten und Hobbys«, entgegnete Sven ungerührt und wandte sich dann wieder mir zu. »Also, Tinka, was machst du so, wenn du nicht gerade zur Schule gehst?«
Wow, Sven hatte sich meinen Namen gemerkt! Fieberhaft suchte ich nach einer Antwort, mit der ich nicht total uncool und unsportlich rüberkam.
Ich konnte noch nicht einmal behaupten, gern Mountainbike zu fahren oder inlinezuskaten. Im Grunde lümmelte ich am liebsten auf dem Bett herum und las ein Buch, schaute Serien in Endlosschleife, quatschte mit Jule oder ging auf Partys. Nur beim Tanzen war ich immer eine andere, denn das tat ich für mein Leben gern. Als Kind war ich begeistert zum Ballett gegangen, jetzt tanzte ich Modern Dance und Jazz. Aber nur just for fun, ohne besonderen Ehrgeiz.
Piet, der mir gegenübersaß, unterbrach meine Grübelei. »Jedenfalls brutzelst du gern in der Sonne«, sagte er schmunzelnd. »Mit einem Buch vor der Nase, jedenfalls war das heute so.«
Auweia, das wurde ja immer peinlicher.
Wenn Piet jetzt auch noch verriet, dass es sich bei besagtem Buch um Bis(s) zum Morgengrauen handelte, das ich mir zum hundertsten Mal reinzog, weil ich die Liebesgeschichte zwischen Edward und Bella immer noch so furchtbar romantisch fand, war ich geliefert.
Endlich gab ich mir einen Ruck und antwortete auf Svens Frage: »Ich … ähm … fahre ab und zu Rad (glatt gelogen, ich nahm immer die U-Bahn oder den Bus), schwimme gern (na ja, am liebsten lag ich am Beckenrand) und jogge, um mich fit zu halten (musste ja keiner wissen, dass ich Wii Fit schon seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt hatte).«
Konstantin, Piet und Sven musterten mich interessiert, bis einer der Jungs neben uns plötzlich rief: »Geile Wellen am K4.« Mit einem Mal brach Hektik aus. Konstantin, Sven und die beiden Smartphone-Daddler warfen Geldscheine und Münzen auf den Tisch, die Okke mit einem breiten Lächeln einsammelte.
»Dann wünsche ich euch ’ne coole Session, Jungs, bis später«, sagte er und schob sein Basecap zurecht. Auch am Nachbartisch waren alle wie auf Kommando aufgesprungen und zur Tür hinausgestürmt. Nur ein Pärchen, das verliebt knutschte und sich gegenseitig Pommes in den Mund steckte, schien von der ganzen Aufregung unberührt.
»Du bleibst aber hoffentlich noch?«, fragte ich Piet, der zum Glück keine Anstalten machte zu gehen. »Kannst du mir mal bitte verraten, was das da eben war? Eine Session und K4? Spielen die alle in einer Band?«
Okke lachte schallend und setzte sich neben mich. »Ich sehe schon, Tinka aus Berlin, du hast wirklich null Plan vom Surfen. Stimmt’s oder hab ich recht? Session nennt man in der Surfersprache eine Surfeinheit. So ähnlich wie beim Musikmachen, insofern lagst du mit einer Band gar nicht so verkehrt«, erklärte Piet. »Und K4 ist einer der beliebtesten Spots auf Sylt.«
Spot?! Was redeten die hier eigentlich für ein Kauderwelsch? Auf einmal hatte ich das Gefühl, in einer fremden Galaxie gelandet zu sein, in der man eine Sprache namens Surfish sprach.
»Und bestimmt fragst du dich jetzt, was ein Spot ist«, fuhr Okke fort, als hätte er meine Gedanken erraten. »Das sind die Orte, an denen man surft oder kitet. Hier auf Sylt gibt es sechs beliebte Spots. Drei davon liegen in Westerland, einer in Hörnum, einer am Ellenbogen in List und der letzte ist besagter K4 zwischen Rantum und Hörnum.«
»Und woher weiß man, dass irgendwo gerade hohe Wellen sind?«, fragte ich.
»Jeder Wassersportler checkt alle fünf Minuten die einschlägigen Apps wie Windfinder und Windguru. Dort erfahren sie alles, was sie über Wellenintervalle und so weiter wissen müssen«, erklärte Piet.
»Und sobald die perfekte Welle anrollt, springen alle auf und fahren los? Oder wie oder was?«, fragte ich. Piet und Okke nickten. »Aber was, wenn einer von ihnen gerade bei der Arbeit ist? Sagt er dann zu seinem Chef: Sorry, ich kann das hier jetzt nicht zu Ende machen, weil ich kurz mal aufs Brett muss?«
Piet grinste. »Soll schon mal vorgekommen sein. Wer Saisonkräfte aus der Surferszene einstellt, weiß genau, dass die Jungs und Mädels immer auf dem Sprung sind. Da aber viele der Arbeitgeber selbst Surfer sind, haben sie meist Verständnis. Bei dieser Sportart ist man extrem von den Wetterbedingungen abhängig, so ist das nun mal.«
Jetzt war ich erst recht verwirrt. Das Ganze wirkte arg hektisch auf mich. Aber waren Surfer nicht dafür bekannt, immer extrem gechillt zu sein?
»Das klingt voll anstrengend und stressig«, sagte ich. »Und wo bleibt da bitte schön das lässige Surfer-Dude-Feeling, für das diese Szene bekannt ist?«
Okkes Lächeln wurde immer breiter. »Das tritt erst ein, wenn du ’ne geile Session hattest und danach komplett stoked bist. Dann kannst du dich ans Lagerfeuer setzen, ein Bierchen zischen oder dir einen Joint drehen. Davor ist es Adrenalin pur. Kannst gerne mal mitkommen und dich aufs Brett stellen, wenn du magst. Vielleicht trägst du ja das Surfer-Gen in dir und dann weißt du, wovon wir reden.«
»Ist echt total nett von dir«, antwortete ich, während ich einen Bissen des ultraleckeren Cajun-Burgers kaute, den der Koch zuvor gebracht hatte. Auch die Süßkartoffel-Pommes waren der Hit. »Aber vom Surfen hab ich null Ahnung, wie du anhand meiner Fragen gemerkt haben dürftest.«
Und ich bezweifle auch sehr, dass ich das Surfer-Gen in mir habe, fügte ich in Gedanken hinzu.
»Kein Problem, ich bring’s dir gern bei«, bot Okke an. »Oder, noch besser, Sven zeigt dir, wie’s geht. Der ist nämlich Kite- und Surflehrer.«
Ich unterbrach mein Kauen. Sven war Surflehrer?! Das wäre ja die Chance überhaupt, ihn wiederzusehen. Da er vorhin so eilig aus dem Twisters gestürmt war, hatte ich noch nicht einmal »Tschüss« sagen können.
Allerdings gab es da noch diese Rothaarige … Ob sie wirklich seine feste Freundin war oder nur in ihn verliebt?
Doch bevor ich mir weiter darüber den Kopf zerbrach, brauchte ich unbedingt noch eine Antwort auf eine Frage, die mir seit vorhin auf den Nägeln brannte. Also sagte ich: »Danke, ich denke über euer Angebot nach. Aber mal was ganz anderes. Könnt ihr mir bitte erklären, weshalb ihr alle so merkwürdig geguckt habt, als ich reinkam? Ihr habt mich angeschaut, als wäre ich eine Serienkillerin oder so was in der Art.«
Piet und Okke wechselten vielsagende Blicke und räusperten sich. Und schon war es wieder vorbei mit der gechillten Atmosphäre.
»Glaub mir, Tinka. Das möchtest du lieber nicht wissen«, sagte Piet, der als Erster seine Sprache wiederfand.