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Sonntagmorgen und gleich drei Freundschaftsanfragen auf Facebook. Die erste kam von Piet, die zweite von Okke.

Die dritte war allerdings der Jackpot.

Sie war von Sven.

Piet hatte mich zur Gruppe Surfers Paradise Sylt hinzugefügt, wo sich alle, die zur Clique gehörten, täglich über die anstehenden Aktivitäten austauschten. Wie zum Beispiel die Beachparty, die heute am Lister Ellenbogen steigen würde.

»Darf ich heute Abend zu einer Party?«, fragte ich, als ich gemeinsam mit Oma und Opa beim Frühstück saß.

Die Sonne knallte wieder vom Himmel und es war warm, ideale Bedingungen für eine Nacht am Strand. Im gleißend hellen Licht fiel es mir leichter zu verdrängen, wie verstockt Piet und Okke gestern reagiert hatten. Und dass ich das, was Piet zum Schluss gesagt hatte, ganz schön gruselig fand. So gruselig, dass ich nicht weiter nachgefragt hatte.

»Was ist das für eine Party?«, fragte Opa mit strenger Miene.

»Darfst du denn in Berlin auch schon feiern gehen?«, wollte Oma wissen. Diese Frage brachte mich ein wenig ins Schleudern. Seit meinem sechzehnten Geburtstag vor acht Monaten durfte ich natürlich einiges mehr als zuvor, aber ich musste in der Regel – wie Aschenputtel – um Mitternacht daheim sein. Das wiederum könnte ziemlich peinlich werden, da die Leute aus Piets Clique alle älter waren als ich, bestimmt neunzehn oder zwanzig. Ganz zu schweigen von Okke, den ich eher auf zweiundzwanzig schätzte.

»Ja, vor allem in den Sommerferien«, antwortete ich. Dass ich spätestens um Mitternacht zu Hause sein müsste, sagte ich wohlweislich nicht. Bestimmt rief Oma nicht bei Mama an, um sich zu erkundigen.

»Wo findet diese Party denn statt? Und wer ist dabei beziehungsweise wie kommst du dorthin und wieder zurück?«, setzte Opa den großelterlichen Fragemarathon fort.

»In der Nähe vom … Lister Hafen.« Das Wort Königshafen vermied ich geflissentlich. Im Naturschutzgebiet des Sylter Ellenbogens war es nämlich verboten, Lagerfeuer zu machen, zu feiern oder zu übernachten. Doch genau das hatte die Clique vor. Bevor es losging, würden alle eine Runde kiten, sofern die Wetterbedingungen es zuließen, und danach wollten wir Fisch grillen und es uns gut gehen lassen. »Piet, der Rettungsschwimmer, holt mich ab und bringt mich auch wieder heim«, antwortete ich, mit Betonung auf »Rettungsschwimmer«, sodass es seine Wirkung hoffentlich nicht verfehlen würde.

»Ein Rettungsschwimmer, soso.« Oma Inken schmunzelte. »Wenn der junge Mann ein Auto hat, dann trinkt er hoffentlich nichts?«

Das hoffte ich allerdings auch. »Ich kann ihn euch gern vorstellen, wenn ihr mögt«, bot ich an und ärgerte mich gleichzeitig. Was würde Piet dann von mir denken? Dass ich kaum aus den Windeln raus war? Aber wenn es darum ging, Sven wiederzusehen, musste ich mich eben notfalls zum Affen machen.

»Das ist eine gute Idee«, erwiderte Opa prompt. »Dann werde ich ihm fest in die Augen schauen und ihm klarmachen, dass ich nur diese eine Enkelin habe und ihm dringend rate, dich wieder heil nach Hause zu bringen.«

Nachdem wir zu Ende gefrühstückt hatten, checkte ich meine Klamottenbestände auf Partytauglichkeit. Doch ich zweifelte, ob etwas dabei war, mit dem ich bei den cool gestylten Girls mithalten konnte, die garantiert heute Abend dabei sein würden. Ich surfte im Internet nach Ideen und fand schließlich eine angesagte Marke, die ein Sweatshirt im Programm hatte, auf dem stand: A True Mermaid Drops Her Secrets Into The Sea.

Das war’s! Genau das wollte ich haben, auch wenn es für die Party natürlich zu spät war. Aufgeregt rannte ich zu Oma in die Küche, um sie zu bitten, den Sweater auf ihren Namen online zu bestellen.

»Aber du hast doch so viele hübsche Sachen, Lämmchen«, entgegnete Oma, nachdem ich ihr erklärt hatte, dass ich in einer tiefen Fashion-Krise steckte. Ungerührt rieb sie Möhren für den Salat. »Und wo du gerade da bist. Kannst du mir bitte eine Gurke, Kräuter und Radieschen aus dem Garten holen? Es geht doch nichts über einen knackfrischen Salat aus dem eigenen Garten, findest du nicht auch?« Nein, das fand ich nicht, zumindest nicht jetzt, wo es für mich eindeutig um Wichtigeres ging als um Estragon, Thymian und anderes Grünzeug.

Nun denn. In der Hoffnung, Oma durch diese kleine Gefälligkeit gnädig zu stimmen, begab ich mich zähneknirschend in den Garten und kniete mich auf eine der Platten, die Opa zwischen den einzelnen Beeten verlegt hatte.

»Kommt raus, ihr kleinen Biester«, murmelte ich und zog an dem grünen Büschel, an dessen Ende ich unter der Erde Radieschen vermutete. Dann schnitt ich eine Gurke und ein paar Stängel Kräuter ab. Nein, das war definitiv nichts für mich Großstadtpflanze. Aber wenn ich Oma damit eine Freude machen konnte, tat ich es natürlich gern.

»Also gut, ich bestelle das Sweatshirt für dich, wenn es dir so wichtig ist. Und ich würde es dir auch gern schenken, als kleines Andenken an deine Sommerferien auf Sylt«, sagte Oma, als ich mit meiner Ernte in die Küche zurückkam. »Diesen Spruch mit den Meerjungfrauen finde ich übrigens romantisch, aber auch ein bisschen gruselig. Weißt du noch, wie ich dir als Kind vor dem Einschlafen Sylter Sagen vorgelesen habe? Die Sage von der versunkenen Insel Rungholt, die Legende von Ekke Nekkepenn, die Sage von Pidder Lüng und den Hexen von Hörnum?« Oma wusch die Kräuter, tupfte sie ab und zerhackte sie flink mit einem Wiegemesser. Plötzlich hielt sie inne. »Ach Blödsinn, von den Hexen habe ich dir damals bestimmt nichts erzählt, weil du viel zu klein warst und dich bloß gefürchtet hättest. Deshalb habe ich die Geschichte vom Geisterschiff und den Totenlichtern außen vor gelassen.«

»Was erzählst du denn da wieder für Döntjes, Inken?«, fragte Opa Eycke, der soeben hereingekommen war. »Mach der Lütten man keine Angst.« Das sagte ausgerechnet der Mann, der immer noch Bestattungen auf hoher See ausführte – was ich wiederum gruselig fand. Allerdings war ich jetzt erst recht neugierig geworden.

»Was denn für ein Geisterschiff?«, fragte ich und spürte, wie Gänsehaut meine sonnenverbrannten Arme und den Nacken überzog. Unwillkürlich kam mir die Furcht einflößende Black Pearl aus dem Film Fluch der Karibik in den Sinn.

Oma fuhr fort, die Kräuter zu hacken, und begann zu erzählen. »Der Sage nach wartete die junge, schöne Bruntje aus Braderup monatelang vergebens am Meer auf ihren Mann, der als Walfänger auf See gefahren war. Sie stand Abend für Abend am Wasser, obwohl allen Syltern klar war, dass ihr Mann nie wieder lebend zurückkehren würde. Doch Bruntje ließ sich nicht beirren, bis eines Nachts im Winter Seenebel aufkam und Bruntje ein Schiff erblickte. Am Bug des über und über mit Seetang bedeckten Schiffes stand ein totenblasser Mann, der ihr zuwinkte. Und da wusste sie: Ihr Geliebter war gekommen, um sie zu holen. Das Schiff glitt schließlich wieder zurück in die Nebelwand – und die schöne Bruntje ward ab diesem Moment nie wiedergesehen. Danach raunten die Sylter einander zu, sie hätte nun endlich ihre Liebe wiedergefunden. Auch erzählten sie sich, dass sie häufig bei Nebel ein Schiff gesehen hätten, an dessen Deck ein eng umschlungenes Liebespaar stand.«

Erneut überlief mich Gänsehaut, doch diesmal überzog sie meinen ganzen Körper.

»Noch heute behaupten manche, dass dieses Geisterschiff nach wie vor ruhelos über die Meere segelt und Unwetter und Untergang drohen, wenn es durch den Nebel hindurch gesichtet wurde.«

»Und was ist das mit den Totenlichtern?«, fragte ich, vollkommen gefangen in der nordfriesischen Sagenwelt und begierig darauf, mehr zu erfahren, auch wenn ich in dieser Nacht bestimmt Albträume davon bekommen würde.

»In längst vergangenen Zeiten haben die Sylter am Strand geheimnisvolle Lichter beobachtet und das Wimmern eines Kindes vernommen«, erzählte Opa Eycke. Er hatte sich auf die Küchenbank am gemütlichen Holztisch gesetzt und schenkte sich aus der Kanne Friesentee ein, die in einer Kanne auf dem Stövchen warm gehalten wurde.

Offenbar hatte er seine eigene Mahnung schon wieder vergessen und es war ihm gleich, dass das, was er da erzählte, ganz schön spooky war. »Meist fand man an der Stelle, an der die Lichter getanzt hatten, später die Leiche eines Ertrunkenen, den die Strömung an Land getrieben hatte.«

Oh nein, jetzt wurde es mir doch ein bisschen zu gruselig. Hätte ich doch bloß nicht nachgefragt.

»Diese Toten wurden später auf dem Friedhof der Heimatlosen beigesetzt, weil man weder ihre Namen kannte noch ihre Herkunft.«

»Friedhof der Heimatlosen?«, fragte ich erstaunt. »Davon habe ich ja noch nie gehört. Gibt es den denn überhaupt noch?«

»Oh ja.« Opa ließ den schwarzen Tee nach alter friesischer Tradition über einen Löffel mit einem Stück dunklen Kandis in die Tasse rinnen. »Er liegt in Westerland, am Ende der Elisabethstraße. Dreiundfünfzig von roten Rosen umrankte Holzkreuze gedenken dort der unbekannten Toten, die auf Sylt an Land gespült wurden.« Das klang so aufregend, dass ich mir vornahm, den Friedhof bei Gelegenheit zu besuchen, obwohl ich mich dabei vermutlich zu Tode fürchten würde. Schade, dass Jule nicht mitgekommen war, denn die war genauso versessen auf Spukgeschichten wie ich, nur dass sie viel mutiger war als ich.

Nachdem ich für Oma einen großen Berg Kartoffeln geschält hatte, schnappte ich mir mein Buch und ein Handtuch und haute mich im Garten auf die Liege. Dort würde ich bis zum Mittagessen bleiben und mir die Zeit mit Lesen vertreiben. Vorher cremte ich mich allerdings sorgsam ein, denn meine Haut war durch das unfreiwillige Sonnenbad gestern ganz schön gerötet.

Schlag acht Uhr abends klingelte Piet und ich bat ihn herein, um ihn, wie versprochen, meinen Großeltern vorzustellen.

»Moin, Sie sind Kapitän Eycke Hansen, der die Seebestattungen durchführt«, sagte Piet, bevor ich dazu kam, sie miteinander bekanntzumachen. Opa fühlte sich sichtlich geschmeichelt – eins zu null für Piet!

»Ach, woher wissen Sie das denn?«, fragte er, wobei das eine rein rhetorische Frage war. Eycke Hansen war auf Sylt nämlich bekannt wie ein bunter Hund.

»Sie haben letztes Jahr meinem Großvater die letzte Ehre erwiesen«, sagte Piet zu meiner großen Überraschung. »So traurig sein Tod war … aber Sie haben es uns mit Ihrer schönen Zeremonie ein bisschen leichter gemacht.«

»Ich habe euch übrigens leckeren Kartoffelsalat gezaubert«, schaltete sich Oma ein und reichte Piet eine riesige Schüssel. »Hoffentlich habt ihr einen schönen Abend. Und bringen Sie Tinka bitte pünktlich um Mitternacht nach Hause!«

»Das mache ich, versprochen.« Piet lüpfte den Deckel der Schüssel und spähte hinein. »Mhm, das duftet ja köstlich. Sind da Zitronenmelisse und Sauerampfer drin?«

»Ja, ganz genau. Sie haben ein feines Näschen«, antwortete Oma und guckte nun mindestens so stolz wie Opa. Aber ich wollte jetzt endlich los. War ja gut und schön, dass Piet hier einen auf Schwiegermuttis Liebling machte, aber ich war nicht an ihm interessiert, sondern konnte es kaum erwarten, endlich auf diese Party zu kommen.

Und Sven wiederzusehen …

Sturmgeflüster

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