Читать книгу Sturmgeflüster - Gabriella Engelmann - Страница 9
ОглавлениеKikerikiiiiiiiiiiiii!
Oh nee, echt jetzt? Was war das denn, bitte schön? Wie spät war es überhaupt? Als ich auf den Wecker schaute, traf mich beinahe der Schlag. Es war halb fünf. Morgens, wohlgemerkt. »Halt die Klappe, ich habe Ferien!«, rief ich, so laut ich konnte, nachdem der Hahn offensichtlich beschlossen hatte, sämtliche Hennen der Insel herbeizukrähen. Und als wäre dieser Lärm nicht schon schlimm genug, umkreiste mich auch noch eine Mücke mit diesem fiesen, süßlichen Gesumme, dessen Untertitel lautete: Gleich hab ich dich und saug von deinem leckeren Blut … Genervt zog ich mir die Decke über den Kopf, in der Hoffnung, den durchgeknallten Hahn und das blöde Mückengesumse ausblenden zu können. Doch was erwartete ich eigentlich, wenn ich bei gekipptem Fenster einen gefühlten Meter vom Kuhstall und einem riesigen Misthaufen entfernt schlief?
Traurig dachte ich daran, dass ich eigentlich zusammen mit meinen Eltern nach Italien hätte fahren sollen. Doch das Schicksal hatte anders entschieden: Die beiden steckten in einer Ehekrise und beschlossen, zunächst jeder für sich Urlaub zu machen und danach vielleicht noch ein, zwei Wochen gemeinsam. Aber jedenfalls ohne mich, als sei ich ein Störfaktor bei ihrem Versuch, »wieder zueinanderzufinden«. Aus der Traum von der italienischen Riviera. Finito! Dabei hatte ich mich seit Monaten so auf diesen Urlaub gefreut. Statt mich ins dolce vita zu stürzen, würde ich mich nun mit dem Landleben in Morsum anfreunden müssen, wenn ich mir diesen Sommer nicht komplett verderben wollte.
Nachdem ich mich eine weitere halbe Stunde schlaflos und voller finsterer Gedanken im Bett herumgewälzt hatte, beschloss ich aufzustehen. Vielleicht war Oma ja schon wach und ich konnte ein bisschen mit ihr quatschen und Dampf ablassen. Oder mir ein paar Tipps holen, was ich an einem Samstag auf Sylt unternehmen konnte. Denn eins kam jedenfalls nicht in die Tüte: mit den beiden auf dem Sofa sitzen und fernsehen.
»Moin, Lämmchen, bist du aus dem Bett gepurzelt?«, fragte Oma erstaunt, als ich sie im Kuhstall fand.
Sie umarmte mich herzlich, dann fiel ihr Blick auf meine Plüschpantoffeln mit dem Frosch drauf. Außerdem trug ich immer noch meinen Frotteepyjama. »Willst du nicht lieber die anziehen?«, fragte sie und hielt mir ein Paar Gummistiefel vor die Nase. Das würde also in den kommenden Wochen mein Leben sein: müffelnde Gummistiefel, die zwei Nummern zu groß waren, ein hyperaktiver Hahn und ein stinkender Misthaufen.
Na, herzlichen Dank auch.
»Hast du Lust, Eier für mich sammeln zu gehen?«, fragte Oma als Nächstes, wie um noch einen draufzusetzen. »Das hast du früher so gern gemacht.« Ach so? Hatte ich das?
Ich murmelte: »Wenn du meinst«, und gab meinen Plan auf, mich bei ihr wegen meiner Eltern auszuheulen. Ich ließ mir einen geflochtenen Weidenkorb geben, dann stapfte ich in den kleineren Stall nebenan, um der Hühnerschar einen Besuch abzustatten, die hektisch pickend auf dem mit Stroh ausgelegten Boden herumwuselte.
Ich muss heute Abend dringend in die Zivilisation, sonst werde ich hier noch irre!, dachte ich, nachdem ich den Hühnern die noch warmen Eier, an denen zum Teil Federn oder anderer Unrat klebte, quasi unterm Hintern weggezogen und in den Korb gelegt hatte. Bäh! Ich hatte das Gefühl, nie, nie wieder ein Ei hinunterzubekommen.
Eine Stunde später, als der Duft von frisch gebratenem Rührei und Tomaten sowie frischen Kräutern aus Omas Garten die Küche durchzog, überlegte ich es mir jedoch kurzfristig anders.
Ich starb nämlich beinahe vor Hunger.
»Was hast du denn für Pläne heute?«, fragte Opa, nachdem er sein Krabbenbrötchen zu Ende gegessen und die aktuelle Ausgabe der Sylter Tageszeitung zur Seite gelegt hatte. »Das Wetter ist großartig. Wenn du magst, kann ich dich nachher nach Westerland mitnehmen. Ich muss da was besorgen.«
Bei der bloßen Erwähnung von Westerland wurde ich schlagartig wach. »Super Idee. Ich packe nur rasch meine Badesachen und dann kann’s losgehen.«
»Vergiss aber nicht, dich ordentlich einzucremen, die Sonne ist zurzeit sehr intensiv«, sagte Oma und mir fiel ein, dass ich die Sonnenmilch daheim vergessen hatte. Ich würde nachher in einem der Geschäfte in Weserland eine kaufen, beschloss ich.
Zwei Stunden später hatte Opa mich in der Nähe des Strands abgesetzt und war weitergefahren, nicht ohne mir viel Spaß zu wünschen. Da stand ich nun also, bewaffnet mit einem riesigen Korb voll Sachen, die man für einen gechillten Tag am Meer brauchte. Doch schon bereute ich, so viel Kram eingepackt zu haben, weil ich mich ganz schön damit abschleppen musste. Egal, irgendwie schaffte ich es zur Promenade, wo großes Gewusel herrschte: Alle Strandkörbe waren besetzt, ebenso die Bistrotische der Imbissbuden.
Eine Weile starrte ich unentschlossen auf den Musikpavillon und überlegte: links in Richtung des Hotels Miramar gehen oder doch lieber nach rechts? Rechts schien es einen kleinen Tick weniger rummelig zu sein, also stieg ich die Holztreppe zum Wasser hinunter, bog ab und zog meine Flip-Flops aus. Kaum berührten meine nackten Sohlen den heißen, aber nicht zu heißen Sand, war meine schlechte Laune vom frühen Morgen wie weggewischt. Erst recht, als ich die bunten Schirme, die aussahen wie Drachen, über dem Meer tanzen sah. Cool, Kitesurfer, dachte ich. Ich versuchte, zu der Stelle zu gelangen, wo ich die Surf-Dudes vermutete, aber das war gar nicht so einfach. In dem Moment, als ich glaubte, ganz dicht dran zu sein, waren die Kiter auch schon wieder verschwunden, um sich kurz darauf in atemberaubender Geschwindigkeit vom Wind in die entgegengesetzte Richtung ziehen zu lassen. Irgendwann gab ich auf und beschloss, mir ein möglichst schattiges Plätzchen zu suchen, denn mittlerweile war es trotz des kräftigen Winds ziemlich heiß geworden. Aber so war es eben auf den Nordfriesischen Inseln: Eine gestylte Frisur konnte man hier echt vergessen. Vorsorglich hatte ich meine dunkelblonden Haare an diesem Morgen zu einem Top-Knot geschlungen und mich kaum geschminkt. Meine hellblauen Augen verbarg ich hinter einer Ray-Ban-Pilotenbrille.
Acht Euro pro Tag für einen Strandkorb! Ungläubig starrte ich auf das Schild eines weißen Häuschens neben dem Turm der Strandaufsicht. Wenn ich jeden Tag so viel Geld ausgab, würde ich bald pleite sein.
Kurzerhand beschloss ich, mich einfach so lange hinter einen der Körbe auf meine Strandmatte und das große Handtuch zu legen, bis ich verjagt wurde. Zum Glück war ich schon in Berlin mit Jule im Freibad gewesen, sodass meine Beine leicht vorgebräunt waren und ich nicht fürchten musste, mir gleich einen Sonnenbrand zu holen. Nur auf mein Gesicht hatte ich bislang gut aufgepasst, denn auf Falten konnte ich vorerst verzichten. Ich suchte mir einen Strandkorb aus, der noch verwaist war und in der Nähe des Wassers stand. Nachdem ich mich dort ausgebreitet hatte, zog ich mein gestreiftes T-Shirt-Kleid aus und zupfte den Bikini mit dem Bandeau-Top zurecht. Schließlich kramte ich meinen MP3-Player aus dem Korb und spielte eine der Relax Editions von Blank & Jones, coole Chill-out-Musik, passend zu einem Tag am Meer.
Aber sie war offenbar zu gechillt, denn ich musste darüber eingeschlafen sein. Als ich wieder aufwachte, erblickte ich das Gesicht eines Typen, der sich über mich beugte. Reflexartig schlug ich um mich und verpasste ihm aus Versehen eine.
»Hey! Bist du immer so krass drauf?« Der Unbekannte verzog das Gesicht und rieb sich die Wange. Bevor ich antworten konnte, fügte er hinzu: »Ich an deiner Stelle würde mich eincremen und aus der Sonne gehen, du bist nämlich schon krebsrot.«
Als ich mich aufzurichten versuchte, erfasste mich Schwindel. Mist! Bestimmt würde gleich mein Kreislauf wegsacken. Und so war es auch. Vor meinen Augen tanzten lila Sterne und meine Kehle war komplett ausgedörrt.
»Hier, trink«, sagte der Fremde und reichte mir eine Wasserflasche. Als wäre ich eine Woche in der Sahara unterwegs gewesen und endlich an eine Wasserstelle gelangt, kippte ich die halbe Flasche in einem Zug runter. Anschließend rieb ich mir mit dem Handrücken über die Lippen. Hm, das tat gut.
»Wer bist du eigentlich und wieso kümmerst du dich so um mich?«, fragte ich, als ich wieder in der Lage war zu sprechen. Der Typ sah nicht übel aus. Dunkle, wellige Haare, einen dunklen Bartschatten auf den Wangen, Augenfarbe vielleicht Grün (konnte ich durch meine Ray-Ban nicht so genau erkennen). Groß, gut gebaut.
Stylishe Badeklamotten und etliche dieser bunten Flechtbänder ums Handgelenk.
»Es ist mein Job, hübsche Frauen zu retten«, antwortete er, als sei er der Prinz aus dem Märchen und ich Schneewittchen, das ohnmächtig im gläsernen Sarg lag und darauf wartete, wach geküsst zu werden. Oder war das Dornröschen?
»Hahaha, sehr komisch«, sagte ich, weil mir gerade nichts Besseres einfiel. Doch der Dunkelhaarige schien kein bisschen beleidigt zu sein.
»Ich heiße Piet und bin Rettungsschwimmer«, fuhr er grinsend fort. »Und wenn ich sehe, dass jemand an Land in Schwierigkeiten ist, fühle ich mich genauso verantwortlich, wie wenn derjenige in Seenot geraten wäre.«
Ein Rettungsschwimmer? Wenn ich Jule das erzählte, würde sie garantiert vor Begeisterung ausflippen.
»Also dann, Herr Rettungsschwimmer, danke für die Erste Hilfe und das Wasser. Hab wohl echt einen Tick zu viel Sonne abgekriegt. Aber wo du gerade hier bist: Hast du einen Tipp, wo man hier in Westerland einen Eistee trinken und später was essen kann? Gern etwas abseits von Gosch und Konsorten, wo man Leute unter dreißig trifft und man nicht total pleite wieder herauskommt.«
Piet brauchte keine Sekunde zu überlegen. »Ein paar Meter weiter ist das Sunset Beach, wo die Surfer abhängen. Wenn du gern Fisch isst, gibt es noch das Luzifer an der Promenade oder die üblichen Imbissbuden. Solltest du aber auf Burger und American Food stehen, bist du im Twisters genau richtig. Auch da trifft sich die Surferszene von Sylt.«
»Hey, danke, das klingt alles toll«, antwortete ich und beschloss, ins Sunset Beach zu gehen.
»Wenn du magst, komme ich mit und mache dich mit ein paar Leuten im Twisters bekannt«, bot Piet netterweise an. »Ich habe um halb sieben Schluss und könnte dich dann hier abholen.«
Mittlerweile war es halb drei, wie ich mit Blick auf mein Handy feststellte. Ich hatte echt lange geschlafen und dabei verpennt, dass ich in der prallen Mittagssonne gelegen hatte. Meine Haut spannte verdächtig und ich hatte einen ziemlichen Dröhnschädel. »Ja, das wäre super, danke«, antwortete ich und spürte, wie hungrig ich auf einmal war. Also rappelte ich mich auf, um Richtung Sunset Beach zu gehen. »Und bis es so weit ist, schaue ich mal, was da drüben so abgeht.« Ich zog mir das Kleid über, löste den Top-Knot und nahm die Brille ab, damit ich Piet endlich richtig erkennen konnte. Im hellen Tageslicht sah er immer noch gut aus, und ja, seine Augen waren tatsächlich grün. Doch er wirkte mit einem Mal, als hätte er ein Gespenst gesehen.
»Ja, mach das … wow … du bist plötzlich ganz verändert«, stammelte Piet und starrte mich an, als sei ich Godzilla persönlich.
»Tja, so sehe ich eben mit offenen Haaren und ohne Sonnenbrille aus.« Ich ärgerte mich ein wenig, dass ich das Bedürfnis hatte, mich zu verteidigen.
»War auch nicht blöd gemeint, du bist mit oder ohne Haarknoten hübsch«, antwortete Piet. Aber so ganz kaufte ich es ihm nicht ab. Als er sich zum Gehen wandte, vermied er jeden Augenkontakt mit mir. »Also dann bis später. Wir sehen uns.«
»Bis dann«, antwortete ich verwirrt.
So, wie Piet sich gerade benommen hatte, war ich mir nicht sicher, ob er später tatsächlich wieder auftauchen würde. Doch ich beschloss, mir durch sein merkwürdiges Verhalten nicht den Tag verderben zu lassen, sondern stattdessen wie geplant etwas essen zu gehen. Um nicht alles mitschleppen zu müssen, steckte ich nur meine Wertsachen ein und zog die Flip-Flops an. Dann ging ich die Treppe hoch zum Sunset Beach, wo der Bär steppte. Schon von Weitem sah ich die beiden Bullys mit dem Logo der Surfschule, die vor dem mit dunklem Holz vertäfelten Bistrorant standen, das auf der Düne hinter der Promenade thronte. Auf der Terrasse stand ein knallroter Strandkorb mit rotweiß gestreiftem Innenfutter, ungewöhnlich für Sylter Verhältnisse. Auf der Insel war das meiste in den typisch friesischen Farben Weiß und Blau gehalten.
Auf den Barhockern saßen Mädchen, die meisten von ihnen top aussehend, ihre ellenlangen, gebräunten Beine durch ultraknappe Shorts oder Röcke perfekt in Szene gesetzt.
Oje, war ich hier nicht ziemlich fehl am Platz?
Im Geiste hörte ich Jule Komm, sei nicht feige sagen und steuerte mit klopfendem Herzen auf den Szeneschuppen zu. Wenn es mir zu doof wurde, konnte ich notfalls immer noch meine Cola hinunterkippen und dann wieder zurück zum Strandkorb gehen.
Um möglichst lässig zu wirken, steckte ich meine Sonnenbrille ins Haar und die Stöpsel meines MP3-Players in die Ohren. Einige der Typen hier trugen diese fetten Kopfhörer, die ich in Berlin immer irgendwie affig gefunden hatte. Aber hier sah das Ganze irgendwie … lässig aus. Was die wohl hörten?
Electro? Rap? Jason Mraz? Oder war womöglich Jack Johnson immer noch angesagt?
»Was kann ich dir bringen?«, fragte eine süße Brünette mit leicht abstehenden Ohren und schaute mich erwartungsvoll an.
Ohne einen Blick auf die Karte zu werfen, bestellte ich mir eine Coke Zero.
Plötzlich fiel mir ein Typ auf, der so unfassbar gut aussah, dass ich einen Moment den Atem anhielt. Ich schloss die Augen und öffnete sie wieder, um mich zu vergewissern, dass ich mir seine Existenz nicht nur eingebildet hatte. Doch Dreamboy saß immer noch da.
Eine Mischung aus Chris Hemsworth und Ian Somerhalder, mit einem Touch Aleksander Skarsgard, irre attraktiv. Er schäkerte mit der Kellnerin und lachte dann zusammen mit seinen Kumpels über irgendeinen Witz.
Und plötzlich blieb sein Blick an mir hängen. Er stutzte, betrachtete mich genauer und wurde auf einmal ganz ernst. Aber er sah mich noch immer unverwandt an und ich war kurz vorm Durchdrehen vor Aufregung.
Als er nach einer gefühlten Ewigkeit zu lächeln begann, war ich schon fast vom Barhocker gekippt.
Wow, er hatte mich angesehen! Und angelächelt!
Weniger toll war allerdings, dass sich jetzt eine Rothaarige an ihn schmiegte und damit der ganzen Welt signalisierte: FINGER WEG, DER GEHÖRT MIR! Okay, okay, ich hatte die Botschaft verstanden: Der Typ war verbotene Zone und da hatte ich nichts zu suchen. Frauen, die sich an die Freunde anderer heranmachten, waren mir zuwider. Schließlich wusste ich aus eigener Erfahrung, wie sich das anfühlte, wenn man diejenige war, die das Nachsehen hatte.
Schade, schade, schade. Endlich gefiel mir mal jemand, war der natürlich schon vergeben. Ein wenig betrübt schaute ich aufs Meer. Es war wegen des Windes relativ aufgewühlt und die Wellen brachen sich weiß schäumend am Strand. Kids hüpften johlend im Wasser auf und ab, mal verschwanden ihre Köpfe, dann tauchten sie wieder auf.
Ich dachte an Piet, den ich vermutlich nie wiedersehen würde, und fragte mich, ob er bei seinem Job viel zu tun hatte. Gerade in diesem Jahr war es sogar zu mehreren tödlichen Badeunfällen in der Ostsee gekommen. Die Schwimmer waren tückischen Strömungen zum Opfer gefallen, die für die Ostsee eigentlich untypisch waren. Doch so war das eben mit der Natur. Sie machte, was sie wollte, und wir Menschen taten gut daran, ihr mit Respekt zu begegnen, sonst konnte es schnell zu einer Katastrophe kommen.