Читать книгу Sturmgeflüster - Gabriella Engelmann - Страница 8

Оглавление

1

Echt doof, dass du nicht mitkommst. Ich werde garantiert vor Langweile sterben. Und du bist schuld daran«, maulte ich zum x-ten Mal, seit meine beste Freundin Jule mir kurz vor knapp abgesagt hatte. Eigentlich hatten wir gemeinsam zu meinen Großeltern fahren wollen. Doch irgendwelche Reitturniere, an denen sie unbedingt teilnehmen musste, hatten unsere gemeinsamen Ferienpläne geschreddert und ich guckte jetzt dumm in die Röhre.

»Stell dich nicht so an. Es gibt ja wohl Schlimmeres, als den Sommer auf Sylt zu verbringen«, konterte Jule, ihrerseits genervt von meiner Leier. »Du wirst den ganzen Tag am Strand abhängen, Natursträhnen kriegen, mit denen du wie ein cooles Beach-Babe aussiehst, super Typen kennenlernen und jede Menge Spaß haben.«

»Weil es in diesem verschlafenen Nest ja auch sooooo viele heiße Jungs und jede Menge Clubs gibt, in denen man Leute kennenlernen kann«, sagte ich im gleich lamentierenden Ton, obwohl ich mich selbst allmählich unausstehlich fand. »Morsum ist weder Kampen noch Westerland. Da gibt es nichts außer Kühen, Schafen, Misthaufen und Bauern. Und das Meer musst du auch suchen, das ist nämlich ständig weg.«

Jule grinste. »Oh, ist das Meer auf der Flucht? Ach komm schon, Süße, du wirst es überleben. Und wenn nicht, kannst du ja immer noch zurück nach Berlin fahren. Zwingt dich ja keiner, die gesamten Sommerferien dort zu verbringen.«

»Nur meine Eltern, die froh sind, dass sie mich mal los sind«, fuhr ich mit meiner Nölerei fort. Keine Ahnung, was heute mit mir los war.

Im Grunde hatte ich einfach nur gechillt mit Jule frühstücken wollen, bevor sie mich zusammen mit Mum zum Bahnhof Südkreuz brachte, von wo aus der ICE nach Hamburg fuhr. In Altona musste ich dann in die NOB umsteigen mit Ziel Westerland auf Sylt. Am späten Nachmittag würden Opa und Oma mich in Morsum abholen. »Und wehe, ihr schafft es, morgen ins Berghain zu kommen, dann kille ich dich«, sagte ich in spielerisch drohendem Ton. Seit unserem sechzehnten Geburtstag träumten Jule und ich nämlich davon, uns an dem gefürchteten Türsteher des angesagtesten Techno-Clubs in Berlin vorbeizumogeln.

»Mann, du bist ja heute echt übelst drauf!« Jule schnappte sich den Rest meines Croissants mit Himbeermarmelade und aß ihn auf. »Wenn du deine miese Laune beibehältst, wird der Urlaub garantiert ’ne Pleite. Freust du dich denn gar nicht auf deine Oma und deinen Opa? Wie lange ist es her, dass du sie zuletzt gesehen hast?«

Ich dachte nach. So vier, fünf Jahre waren es bestimmt, wenn nicht gar länger, weil immer irgendetwas dazwischengekommen war. Was schade war, denn damals hatte ich viel Spaß mit Oma Inken und Opa Eycke gehabt.

»Doch«, antwortete ich und beschloss, mich am Riemen zu reißen. »Okay, okay, ich habe die Botschaft verstanden. Ich nehme mir fest vor, den Sommer meines Lebens zu haben. Und zwischendurch werde ich dich bedauern, weil du dich auf irgendwelchen Turnieren langweilst, statt mit mir auf Sylt Spaß zu haben.«

»Jaja, streu nur Salz in meine Wunden.« Jule zog spielerisch einen Flunsch. »Wenn ich gewusst hätte, dass das mit dem Reiten so anstrengend werden würde …«

»… hättest du trotzdem damit begonnen«, vollendete ich ihren hypothetischen Satz, den ich schon zigmal gehört hatte. »Du bist eine Pferdenärrin, wie sie im Buch steht, warst es immer und wirst es immer bleiben.«

»Bist du startklar, Tinka?«, hallte es auf einmal durch mein Zimmer in der Berliner Altbauwohnung mit den dunklen Dielenböden und hohen Stuckdecken. Auftritt Mum.

»Glaub schon«, murrte ich und schaute auf die Uhr. Tatsächlich. Wir mussten schleunigst los, wenn ich den Zug nach Hamburg nicht verpassen wollte. Gut, dass ich schon vor dem Frühstück fertig gepackt hatte.

Keine vierzig Minuten später saß ich im ICE und versuchte, gegen den Kloß anzukämpfen, der sich in meinem Hals bildete, auch wenn ich gar nicht genau wusste, woher der plötzlich kam.

Vielleicht Hormonschwankungen?

Jule schob zurzeit alles darauf, auch wenn ich persönlich bezweifelte, dass schlechte Noten, Stress mit den Eltern und Liebeskummer ausschließlich auf das Konto dieser kleinen Biester im Körper gingen. Das waren nicht nur die Hormone, sondern das Leben.

Eine gefühlte Ewigkeit später fuhr die Nord-Ostsee-Bahn über den Hindenburgdamm, der Sylt mit dem Festland verband. Links grasten Schafe auf dem Deich, rechts spazierten Möwen auf dem Schlicksand des Wattenmeers umher.

Hübscher Anblick, das musste ich zugeben. Ich nahm mein Handy, fotografierte ein paar dieser Postkartenmotive und schickte sie per WhatsApp an Jule. Die antwortete postwendend mit Fotos von ihrer Stute White Beauty, die gerade für den Transport zum nächsten Turnier auf die Rampe des Anhängers geführt wurde.

»Als nächste Station erreichen wir Morsum«, ertönte eine Stimme aus dem Lautsprecher und schon tauchte das Schild auf dem Bahnsteig auf. Unter Morsum stand Muasem, der friesische Name für das im Osten von Sylt gelegene Dorf.

»Moin, da bist du ja endlich. Hübsch siehst du aus«, sagte Oma Inken zur Begrüßung und drückte mich dann so heftig an ihre Brust, dass ich kaum Luft bekam. Sie sah genauso aus, wie ich sie in Erinnerung hatte: klein, rundlich, mit von der frischen Luft geröteten Wangen, die mit den blauen Augen kontrastierten, die aus ihrem Gesicht hervorblitzten. Ihre ehemals schwedischblonden Haare waren mittlerweile weiß. Die Sommersprossen auf ihrem Handrücken hatten sich in größere Altersflecken verwandelt. Trotzdem waren ihre Hände für mich noch immer wunderschön.

Opa Eycke grinste sich eins: »Na, na, Inken, lass die Lütte leben«, sagte er frotzelnd und zwinkerte mir zu. »Und sag jetzt bitte nicht, dass unsere Tinka groß geworden ist, denn das weiß sie selbst am besten.« Inken ließ mich los und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel, während Opa mich kurz umarmte und dann meine beiden Koffer nahm. »Wie lange wolltest du noch mal bleiben? Ein Jahr?«, fragte er und entschied sich dann doch dafür, die beiden Gepäckstücke zu rollen, statt zu tragen.

Ich wollte gerade entsetzt Ein Jahr? Bist du verrückt? ausrufen, doch ich verkniff es mir. Es fühlte sich gut an, die beiden nach so langer Zeit mal wiederzusehen. Wohlig und heimelig irgendwie. Meine Eltern hatten die beiden zwar öfter zu uns nach Berlin eingeladen, aber auch dabei war leider immer irgendetwas dazwischengekommen: Als Oma Inken noch als Hebamme arbeitete, musste sie zig Kinder auf die Welt bringen oder eine der Milchkühe auf dem Hof war plötzlich erkrankt. Und Opa, der zwar schon lange im Ruhestand war, war angeblich ebenfalls nie abkömmlich, wie er behauptete. Unter anderem führte er ab und zu noch Seebestattungen durch.

»Bist ’n kleines büschen blass um die Nase, hockst wohl zu viel vor dem Computer?«, fragte Oma, während wir den Bahnsteig verließen.

»Die Jugend hängt heutzutage vor Smartphones ab oder vor dem Tablet, aber doch nicht vor dem Computer«, korrigierte Opa sie und rollte einen meiner Koffer ungerührt über etwas, das nach Kuhfladen aussah. Igitt!, dachte ich. Doch ihn schien es nicht weiter zu stören oder er hatte es gar nicht bemerkt, weil er seine Brille nicht aufhatte.

Nachdem wir ungefähr zehn Minuten gegangen waren, erreichten wir den Bauernhof meiner Großeltern am Dorfrand. Diesmal kam er mir nicht ganz so riesig vor wie bei meinem letzten Besuch. Doch für zwei Menschen allein war das Gelände mit den Ställen und dem Haupthaus, dessen Fassade aus rot gebrannten Ziegeln und weißen Sprossenfenstern bestand, groß genug.

Ein Hahn machte Kikeriki, Hühner gackerten aufgeregt und der strenge, erdige Geruch von Kuhmist stieg mir in die Nase. Kein Zweifel: Ich war mitten auf dem Land. Und meilenweit entfernt von den breiten weißen Sandstränden von Kampen, Westerland, Wenningstedt oder Rantum, wo die meisten Touristen ihren Urlaub verbrachten.

»Hereinspaziert, junge Dame«, sagte Opa Eycke und zog schwungvoll die weiße, zweigeteilte Tür auf, die man hier Klönschnacktür nannte, wenn ich mich richtig erinnerte. Wenn die Türklingel ging, öffnete man erst einmal nur die obere Hälfte, schaute hinaus und konnte mit dem Besucher über die untere Hälfte hinweg klönen. Praktisch, fand ich, zum Beispiel, wenn man überraschend Besuch von jemandem bekam, den man ganz schnell wieder loswerden wollte.

Ich folgte meinen Großeltern in das Innere des Hauses, in dem es vom Eingangsbereich in den Pesel, die Wohnstube, ging. Dort stand ein bulliger hellblauer Kachelofen. Schon als kleines Kind war die Bank, die ihn umgab, mein Lieblingsplatz gewesen, vor allem an kalten Wintertagen war es dort urgemütlich.

»Weißt du noch, wie du hier immer mit deinen Puppen und Stofftieren gepicknickt hast?«, fragte Oma, die meine Erinnerungen offenbar teilte.

»Aber das ist ja nun schon ein ganzes Weilchen her und unsere Tinka spielt jetzt sicher lieber mit jungen Männern als mit Puppen«, wandte Opa ein.

Ups, jetzt wurde ich doch tatsächlich rot. Wie die armen Sylter Hummer, wenn sie lebendig in den Kochtopf geworfen wurden, um dann von Touristen verspeist zu werden.

»Eycke, lass die Sprüche!« Oma blitzte ihn so streng an, dass ich mir gut vorstellen konnte, warum sie im Dorf allseits Respekt genoss. »Komm, ich zeig dir jetzt dein Zimmer, Lämmchen. Diesmal haben wir dich unterm Dach untergebracht, weil du bestimmt lieber ein bisschen abseits von uns alten Leutchen wohnst, nicht wahr?«

Bevor ich etwas antworten konnte, stand sie auch schon auf dem Absatz der schneeweiß lackierten Treppe, und Opa folgte ihr mitsamt den beiden Koffern.

Er war das, was man einen stattlichen Mann nannte: groß und breitschultrig. Auf seinen grau gewellten Haaren trug er eine dunkelblaue Kapitänsmütze. Die große, leicht gekrümmte Nase war, genau wie die Mütze, sein Markenzeichen.

»Gefällt es dir?«, fragte Oma, nachdem sie die Tür zu dem schnuckeligen Zimmer geöffnet hatte, in dem ich die nächsten knapp sechs Wochen wohnen würde. Unter der Schräge stand ein breites Bett mit Holzrahmen, auf dem eine Quiltdecke mit einem Karomuster in Pink, Türkis und Lila lag. Dazu passende Kopfkissen in unterschiedlichen Größen. Hier hätten Jule und ich locker zusammen Platz gehabt. »Oh ja. Danke für die viele Mühe, die ihr euch gemacht habt. Es ist schön, mal wieder hier zu sein.« Während ich mich noch ein bisschen umschaute, spürte ich plötzlich, dass ich zum Umfallen müde war.

»Na Tinka, kaum siehst du das Bett und schon musst du gähnen, was?«, sagte Opa lachend. »Das ist unsere gute Nordseeluft. Die macht in den ersten Tagen müde …«

»… und hungrig«, ergänzte Oma. »Deshalb schlage ich vor, dass du erst mal in Ruhe auspackst, und in einer halben Stunde sehen wir uns unten zum Essen. Es gibt Kartoffelsuppe mit Nordseekrabben und als Nachtisch Sylter Rote Grütze mit Vanillesoße. Die magst du doch, nicht wahr?«

Ich nickte, hatte aber große Mühe, die Augen offen zu halten.

Doch ich durfte mich jetzt auf keinen Fall aufs Bett legen, weil ich dann auf der Stelle einschlafen würde, sondern musste erst meine Eltern anrufen, um ihnen zu sagen, dass ich gut angekommen war. Danach wollte ich ein Foto von dem süßen Zimmer mit den cremefarbenen Wänden, weißen Vorhängen und der antiken Schminkkommode machen und an Jule schicken.

Na, bist du jetzt nicht doch ein bisschen neidisch?, schrieb ich ihr. Zur Antwort bekam ich nur ein Selfie, das sie bei einem Picknick im Stall zusammen mit Kay, ihrer neusten Flamme, zeigte. Wieder hatte ich den Verdacht, dass Jule in erster Linie wegen Kay nicht mit nach Sylt gefahren war und nicht so sehr wegen der anstehenden Turniere.

»Jaja, die Hormone …«, murmelte ich, setzte mich auf die Bettkante und schaute aus dem Fenster. Ob ich in diesem Sommer auch jemanden kennenlernen würde, so wie Jule es prophezeit hatte?

Nach dem Schlamassel mit Ben Anfang des Jahres hätte ich nichts gegen einen Flirt einzuwenden. Mein Selbstbewusstsein war noch immer ganz schön angeknackst, weil sich Ben nach einigem Hin und Her für eine Klassenkameradin entschieden hatte. Und so war ich bis zu den Sommerferien gezwungen gewesen, mir täglich ihre Love-Show reinzuziehen.

Echt ätzend.

Sturmgeflüster

Подняться наверх