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II Aufbrüche: Schreiben und Reisen in Jugendjahren

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Was ein Mensch über seine eigene Kindheit berichtet, kann trügerisch sein, besonders wenn die Darstellung aus großer zeitlicher Distanz erfolgt und sich zudem mit literarischem Anspruch verbindet, wenn Dichtung und Wahrheit sich mischen. Das große Modell autobiographischen Schreibens, das in Charlotte Schillers Lebenszeit fällt und ihre Bewunderung findet, ist Johann Wolfgang Goethes Autobiographie eben dieses (Unter-)Titels. Die ersten Teile veröffentlicht der „Meister“ in den Jahren 1811 bis 1814,1 bei geselligen Anlässen liest er aus dem entstehenden Werk. 1811 wohnt Charlotte Schiller einer solchen Lesung am Weimarer Hof bei und berichtet der von ihr verehrten, seit 1810 nach Mecklenburg-Schwerin verheirateten Prinzessin Karoline Luise2 davon:

Es ist jezt eine lektüre in den blauen Zimmern, wo ich jedes wort möchte behalten können, um es Ihnen zu sagen. – […]

Der Meister hat angefangen, sein leben zu lesen. – So eine schöne grosse ansicht, so ein Bild des Ganzen führt er einen vor die Seele, u. so liebenswürdig zeigt er das liebenswürdige! Er sagt wenig, das heisst keine Schilderungen der Familie sondern berührt nur die äussern verhältnisse. Der vater hatte sehr viel Geist viel Kenntnisse, u. hat dadurch dem Sohn auch alle mittel erläutert, u. es war eine Pflanze die sich nach allen Weltgegenden anranken konnte, durch Glück wie durch Natur begünstigt. Ich will so viel ich kann die gegebenheiten aufzeichnen.3

Unter dem Eindruck von Goethes großem Vorbild verfasst Charlotte vermutlich um dieselbe Zeit ihre eigenen Erinnerungen aus den Kinderjahren,4 die sich dem Umfang nach zwar weit bescheidener als das Werk Goethes ausnehmen – es handelt sich um ein Heft aus vier Papierbogen im Quartformat –, die aber gleichwohl einen guten Eindruck insbesondere der frühen Kindheit und, angesichts des geringeren literarischen Anspruchs der Verfasserin, möglicherweise mehr Wahrheit als Dichtung vermitteln.

Charlottes Eltern sind ein ungleiches, allem Eindruck nach gleichwohl nicht unglückliches Paar: Der Vater, Carl Christoph von Lengefeld, der das Amt des Schwarzburg-Rudolstädtischen Oberforstmeisters versieht, ist 28 Jahre älter als die Mutter und bereits zur Zeit der Werbung um sie halbseitig gelähmt. Dass der Umstand der körperlichen Behinderung zu frühzeitiger geistiger Reife geführt habe, betont Charlotte gleich zu Beginn ihrer Schilderung: „Mein Vater einer der intereßantesten Menschen seiner zeit, war in seinem vierzigsten jahr von einem Schlag gelähmt, er hörte in der zeit auf zu leben für die Welt, da andre erst anfangen zu leben, weil die Reife des Geistes da erst den dingen ihren wahren werth giebt, und die leidenschaften sich besänftigen.“5 Tatsächlich hat Lengefeld wohl nicht erst mit 40, sondern schon zehn Jahre eher, einen Schlaganfall erlitten und eine längere Zeit zur Rekonvaleszenz vom Hofdienst entfernt verlebt. Nach seiner Rückkehr macht er sich durch forstwirtschaftliche Abhandlungen aufs Neue einen Namen. Die aus Wolkramshausen stammende Mutter, Luise Juliane Elonore Friederike von Wurmb, ist gerade 18 Jahre alt, als sie in die Heirat mit dem 46-Jährigen einwilligt, aus damaliger Sicht kein ungewöhnlicher Altersabstand.6 Die Liebesheirat ist in den 1760er Jahren als Modell noch nicht verbreitet, für den erfolgreichen Verlauf einer Ehe bilden venünftige Erwägungen und eine grundsätzlich freundschaftliche Neigung der Ehepartner eine weit bessere Basis als die literarischen Entwürfe zärtlicher oder gar leidenschaftlicher Liebe, die erst gegen Ende des Jahrhunderts aufkommen.7 Vor allem der letztere Entwurf leidenschaftlicher Liebe scheint indessen einem dauerhaftem Ehefrieden diametral entgegenzustehen. Selbst noch bei den späteren Verbindungen beider Lengefeld’schen Töchter werden Vernunftaspekte und Gefühlsansprüche auf je unterschiedliche Art konfligieren.

Charlotte Louise Antoinette ist die jüngere dieser Töchter. Ihre Schwester Friederike Sophie Caroline Auguste kommt am 3. Februar 1763, sie selbst am 22. November 1766 zur Welt. Rudolstadt, die unweit von Weimar gelegene Residenz des Fürstenhauses von Schwarzburg-Rudolstadt, scheint auch der geistigen Kultur nach hinter anderen Orten der Region meilenweit zurückzuliegen. Einförmig sei jeder Tag gewesen, berichtet Charlotte, und Gleiches gelte für den begrenzten geselligen Umgang: „Der Ort wo wir lebten war klein, der gesellschaftliche Ton, so weit hinter andern Orten in der Nähe zurück, daß es einem späterhin dünkte, man sey funfzig jahr noch zurück in allem was gesellschaftliche Bildung betraf.“8 Dass Charlotte die Rückständigkeit ihres Heimatortes so stark betont, liegt an der Perspektive der schon älteren Frau, zur Zeit des Schreibens vermutlich bereits seit Jahren Witwe. Im Sommer 1811 schreibt sie zumindest ganz ähnlich Lautendes an Hofrat Karl Ludwig von Knebel in Jena: Es sei „die Entfernung von der literarischen Welt […] nicht nach Meilen zu berechnen dort. Die besten, die das Streben nach Wissen haben, sind die Frauen“.9 Und noch 1818 amüsiert sie sich über die Charakterisierung ihres Heimatortes in einer zeitgenössischen satirischen Reisedarstellung: „Ueber Rudolstadt habe ich auch gelacht. Es ist auf eine recht gute Art gesagt, unter uns gesprochen, daß eigentlich nicht viel regiert wird. Daß auf einen Menschen hier vierundzwanzig eigne Gedanken täglich kommen, hat mich auch belustigt.“10 Der Ort – noch heute, wie Ursula Naumann bemerkt, „eher ein Schloß mit einer Stadt als eine Stadt mit Schloß“11 – fasst damals knapp über 4000 Bewohner, darunter 200 Angehörige des hohen und niederen Hofstaats wie Juristen, Geistliche, Künstler und Kaufleute. 23 Familien zählen zum Hochadel. Die rund 500 einfachen Stadthäuser werden von einem pompösen Renaissanceschloss überragt, der Heidecksburg, in der die Fürsten von Schwarzburg-Rudolstadt residieren: Fürst Ludwig Günther II. (1708 – 1790), dessen Mitregent in späteren Jahren und Nachfolger Erbprinz Friedrich Carl (1736 – 1793) sowie die Prinzen Ludwig Friedrich II. (1767 – 1807) und Friedrich Günther (1793 – 1867). Vormundschaftlich für letzteren regiert zeitweilig dessen Mutter Karoline (1771 – 1854).12

Während Charlottes erster neun Lebensjahre bewohnt ihre Familie ein außerhalb der Stadt gelegenes, ihrem adligen Stand angemessenes Anwesen, den sogenannten Heißenhof, den der Vater kurz vor der Heirat mit Luise von Wurmb, 1761, vom Weimarer Oberstallmeister Gottlob Ernst Josias von Stein gemietet hat. Seit 1764 ist Stein mit der Weimarer Hofdame Charlotte Albertine Ernestine, geborene von Schardt, verheiratet, die Literaturkennern als Goethes sittenstrenge Seelenfreundin seines ersten Weimarer Jahrzehnts bekannt ist.13 Häufig zieht diese sich aus dem Weimarer Stadthaus auf das familieneigene Gut Großkochberg nahe bei Rudolstadt zurück. Sie ist eine der zahlreichen Patinnen Charlotte von Lengefelds. Schon in der Kindheit beginnt Lotte, eine vertraute Verbindung zu ihr zu entwickeln und pflegt zeitlebens eine enge Freundschaft zu ihrem Sohn Fritz bzw. Gottlieb Friedrich Constantin Freiherrn von Stein, Goethes „Liebling“.14

Die Lage des Heißenhofs nennt Charlotte „höchst romantisch“.15 Auf einer Anhöhe gelegen, erlaubt sie ihr etwa den Ausblick auf umliegende Obstgärten, auf ein weiter entfernt liegendes fürstliches Lustschloss und eine alte Kirche mit Glockenturm:

ich stand stundenlang an meinem kammerfenster, sah in die dunkeln Fenster des Thurms hinein, u. hörte der Glocke zu, u. sah die wolcken am Himmel sich bewegen. mein Horizont war frey; In der ferne sahen wir schöne Berge, u. ein Altes Schloß auf den Berge liegen, daß oft das ziel meiner wünsche war. Ich stellte es mir auch gar zu hübsch für, über die Heide, so hießen lezte Berge vor meinen Augen, zu wandern, u. da neue dörfer, eine neue welt zu sehen. – Auch eine Hängbircke, die in einem der Gärten stand, die ich aus meinen fenster, meiner kleinen welt übersehen konnte, hat mir viel Anlaß zu betrachtungen gegeben.16

So begrenzt der Ort selbst, so scheint doch die vorteilhafte Aussicht auf eine neue Welt, die es hinter den beobachteten Natur- und Kulturerscheinungen zu entdecken gilt, in der Kindheitserinnerung durch. Anstatt in Haus und Hof zu helfen, streift Charlotte „lieber auf den Berg herum, dem sich meine kindische Phantasie vergrösserte, und suchte blumen, u. zweige, und kam oft recht von dornen zerrissen zurück, u. ganz athemlos, bald wollte ich eine Blume pflücken, die unzugänglich war, bald fiel ich aus unvorsichtigkeit den Berg herunter, ohne wunden ging keine meiner Streifereien ab“.17 Als Charlotte sich 1806, erstmals nach dem Tod Schillers wieder für mehrere Wochen in Rudolstadt aufhält, erinnert sie sich, wie ihre kindliche Phantasie den Berg vergrößert hat. An Fritz von Stein schreibt sie am 21. September:

Ich habe Ihnen längst schreiben wollen u. muß es noch hier ausführen, an dem Ort wo ich lebte, u. Sie schon lang zu meiner Freude mir durch Ihre Freundschaft das leben erheiterten. Ich bin seit 7 wochen hier, u. bleibe bis Ende dieses Monats, oder die ersten tage des 8bers hier. Es hat mich aufs neue gefreut meine Heymath wieder zu sehen. Ich lebe in den gegenständen die mich in meiner Kindheit umgeben haben, ich bewohne die ludwigsburg, bin ganz nahe an dem Heissenhof, u. steige immer den Berg hinauf, dem ich als Kind für ein Alpengebürg hielt, der ein kleiner Abhang geworden ist. Nun, so wird es uns gehen in einer andern Existenz, da werden alle Grössen der Erde uns klein dünken, wenn der Geist frey von den Fesseln des Körpers, nur in geistigen Ansichten leben kann. Die Berge von Kochberg sehe ich aus meinen Fenstern. Ich weis nicht ob ich dahin komme, aber das weiß ich, daß ich jezt weniger Interesse hätte dort zu sein, die liebe mutter [Charlotte von Stein] würde denn hinkommen.18

Interessant ist der Perspektivwechsel in mehrlei Hinsicht: Zum einen logiert sie nun auf der Ludwigsburg, einem der Anwesen, das sie als Kind vom Heißenhof aus sehen konnte, zum andern schreibt sie sich zu, damals den Hügel für ein Alpengebirge gehalten zu haben, das heißt, sie vermengt ihre Erinnerung an ihre erst später unternommene Reise in die Schweiz mit der erinnerten Kindheitsvorstellung; drittens wird die so verschmolzene Landschaft kindlicher Freundschaft (mit Fritz und seiner Mutter) und Schweizer Freiheitsmythen zur Allegorie für die Perspektive des unsterblichen Geistes, der den Körper einst verlassen wird.

Charlottes Wissbegierde, die sich in den Kinheitsjahren durch Herumstreifen im Freien ihren Ausdruck verschafft, wird sich bald vor allem auf historische Darstellungen und Reiseschilderungen richten. Was die frühe Kindheit betrifft, gibt sie indessen freimütig zu, dass sie nicht gern gelernt habe, dass ihr die morgendlichen Unterrichtsstunden in Zeichnen, Schreiben, Französisch – ganz zu schweigen von den Tanzstunden – eher unangenehm gewesen seien: „Ich hatte Unterricht in den morgenstunden, ich lernte nicht gern, u. es war mir peinlich, wenn ich die Stunde schlagen hörte, u. mein lehrer begann eine neue materie des unterrichts. Französisch lernte ich auch nicht gern, zeichnen u. Schreiben wurde mir auch schwer, Aber am aller unangenehmsten war mir die Tanzstunde.“19 Zur Mittagszeit dürfen die Mädchen dann den Umgang mit dem Vater und seine Erzählungen von Obstanbau und Forstwesen genießen, bevor am Nachmittag weitere Fächer folgen: „Nach dem Essen kam der Lehrer, u. wir hatten Unterricht in der Geographie, lasen zeitungen, oder schrieben Briefe; als denn kam noch der französisch Sprachmeister, u. unsre Stunden hatten ein Ende.“20 Man hat aus diesem offenen Bekenntnis zu mangelndem Bildungsfleiß im frühkindlichen Alter darauf geschlossen, dass Charlotte schon als Kind reichlich desinteressiert und talentlos gewesen sei, so dass „ein milder Zwang zum Lernen“ auf sie ausgeübt werden musste, ganz im Gegensatz zu ihrer um drei Jahre älteren Schwester Caroline, die vor Geist und Phantasie sprühte und „gelegentlich auf den Boden der Tatsachen zurückzuführen war“.21 Übersehen blieb der selbstironische Blick der schon älteren Frau ebenso wie der Umstand, dass die Schilderung Charlottes auf einen Kontrast von trockenem häuslichem Lehrprogramm und Entdeckungslust im außerhäuslichen Bereich, der Umgebung und freien Natur, zielt.

Dass ihre Kreativität von eher passiv-rezeptiver Art gewesen sei, schloss man aus ihrer Schilderung, wie sie ihre Schwester und Cousine Amalie, die für einige Zeit bei ihnen wohnt, beim Spiel von „dialogisirten Romanen“ beobachtet: „eine war immer eine Heldin des Stücks, u. statt zu erzählen wie es geschehen sein, dramatisirten sie die geschichte. Dieses hatte unendlichen Reiz für mich. Ich saß dabey, u. hörte alles an, u. war begierig wie es enden würde. Wie alle Romanen, u. Theater Stücke, so endete sich dieses auch immer mit einer Heyrath“.22 Wenig beachtet wurde dagegen, dass auch Charlotte Figuren aus Kalendern ausschneidet und damit Romane und Erzählungen, die sie hört, für sich selbst in dramatisches Spiel umsetzt:

Ich hatte noch eine Art unterhaltung die mich besonders anzog. Ich hatte Figuren aus den Calendern, die ich mir künstlich ausschnitt, mit diesen spielte ich die Romane nach, die ich hörte. Es gab aber noch wenige in der zeit, zumahl deutsch. Die Schwedische Gräfin war eines unsrer geliebtesten lektüren. – der Magdeburgische Greis, wo viele kleine Erzählungen kommen, Gellerts Comödien, Rabners Briefe, kleine historische Sammlungen, waren unser ganzer vorrath. Reisebeschreibungen lasen wir wenig. – In späterer zeit war der Grandisson ein grosser Genuß, für die Aeltern, u. ich die Jüngere hatte nur noch die freude, meinen Papier männerchen die Nahmen der Helden zu geben, u. auf meine weise kindisch mit ihnen zu spielen.23

Die dialogisierten Romane, das Spiel mit ausgeschnittenen Kalenderfiguren, stellen beide einen entwicklungspsychologischen Topos dar, der in Goethes Autobiographie prominent anhand der kindlichen Verschränkung von Puppenspiel und dichterischer Kreativität eingesetzt ist.24 Zum Ausdruck kommt in Charlottes Schilderung ihr Schicksal, die Jüngere zu sein, so dass manche Lektüren für die größeren Mädchen bereits als statthaft gelten – sie nennt beispielhaft Richardons The History of Sir Charles Grandison (1753 / 54) –, wovon sie offenbar nur die Namen aufschnappt, um dann mit ihren Spielfiguren ganz andere Geschichten zu entwerfen. Der Ausdruck,kindisch‘, den sie für dieses Spiel wählt, ist im heutigen Sprachgebrauch als ,kindlich‘ zu verstehen.

Die Sphären, in denen sich ihre Eltern bewegen, sind mütterlicherseits der Hof – Charlotte bewundert den Putz, den Luise von Lengefeld anlegt, um Donnerstags dort zu erscheinen –, väterlicherseits Wald und Feld. Besonders eng ist Charlottes Bindung an ihren Vater, an dessen geschäftlichen Verrichtungen sie lebhaften Anteil nimmt, an der Aufsicht der Wälder, der Bewirtschaftung der gepachteten Felder. Freudig hilft sie bei der Ernte und beim Einwecken von Obst und Gemüse. Naturverbunden, naturbeobachtend – und wetterfühlig – wird sie zeitlebens bleiben. Ihre Tagebuchblätter aus den 1780er Jahren sind durchdrungen von Natureindrücken. Viele ihrer späteren Briefe beginnen mit einem Stimmungsbild, je nachdem, wie freundlich oder unwirsch sich die Welt ihr am jeweiligen Tag zeigt.

Der tiefe Einschnitt, den der Tod des Vaters für Charlotte bedeutet – er stirbt am 3. Oktober 1775, möglicherweise infolge eines weiteren Schlaganfalls –, wird deutlich im letzten Satz ihrer Kindheitserinnerungen: „So lebte u. trieb ich mein wesen, in engen Umgebungen bis in mein Neuntes Jahr, wo unser guter vater uns entrissen wurde.“25 Einschneidende Veränderungen in den Lebensverhältnissen bringt dieser Verlust mit sich. Charlottes Mutter Luise, im französischen Hofton Chère mère genannt, nimmt eine Tätigkeit als Hofdame und Erzieherin am Rudolstädter Hof auf, ab 1789 mit Unterkunft auf dem Schloss, kann aber gleichwohl als Witwe mit zwei Töchtern langfristig für die Pacht, die der Heißenhof fordert, nicht aufkommen. Zwischen den Möglichkeiten, auf das elterliche Gut in Wolkramshausen zurückzuziehen oder sich in Rudolstadt selbst niederzulassen, wählt sie die letztere. Die Aussicht auf eine standesgemäße Wohnung und finanzielle Absicherung für sich und die Töchter liefert sicher einen der Beweggründe, der älteren von beiden zuzureden, eine raisonable Partie zu machen. 1782 hält der adlige und begüterte Rudolstädter Regierungsrat Friedrich Wilhelm Ludwig von Beulwitz um sie an; Caroline wird mit ihm zunächst verlobt, zwei Jahre später, am 2. September 1784, dann vermählt. Sie zieht offiziell zu ihrem ungeliebten Ehemann in den vorderen Teil des Hauses (in der heutigen Schillerstraße), hält sich aber weiterhin zumeist in dem zum Garten hin gelegenen hinteren Teil auf, den sie zuvor bereits mit Mutter Luise und Schwester Charlotte bewohnt hat.26

Vor dieser Neuordnung der Verhältnisse liegt jedoch die für beide jungen Frauen erste Erfahrung einer größeren Reise, die sie literarisch festhalten, eine gemeinsam mit der Mutter unternommene Fahrt in die Schweiz vom April 1783 bis zum Juni 1784, die durch Carolines Verlobten, Beulwitz, ermöglicht wird. Ziel der Reise ist es, Charlottes Französischkenntnisse zu verbessern, um sie so auf den Hofdienst bei Herzogin Luise in Weimar vorzubereiten. Angeregt hat diese Perspektive ihre Patin Charlotte von Stein. Beulwitz ersucht seinen Fürsten um Urlaub, um „[d]ie Frau von Lengefeld allhier, welche in verschiedenen Angelegenheiten auf bevorstehende Ostern in die französische Schweiz zu reisen und sich daselbst einige Zeit aufzuhalten gedenket, […] dahin zu begleiten“.27 Er geleitet die drei Damen nach Vevey am Nordufer des Genfer Sees, wo er sie ein Jahr darauf wieder abholt. Charlotte führt ein Tagebuch, das sie später überarbeiten und abschreiben wird.28 Das Original enthält Zeichnungen und Skizzen aus ihrer Hand sowie im Anhang eine ausführliche Liste der Personen, deren Bekanntschaft sie macht.

Die am 22. April 1783 angetretene Reise führt über Coburg und Lichtenfels – auf welcher Srecke ein Rad steckenbleibt und der Wagen dank „gutwillige[r] Jäger“29 wieder fahrtüchtig gemacht wird – nach Bamberg und Erlangen. In beiden Städten stellt sie Beobachtungen zur Architektur, Geschichte und Mythologie an. Eine nächste Reisestation, die zahlreiche Eindrücke unterschiedlicher Art zu bieten hat, ist Nürnberg. Ihre Schilderung gibt zugleich ein gutes Beispiel für den Stil der 16-Jährigen sowie Einblick in die zeittypischen orthographischen Eigentümlichkeiten:

Die Lage von der Stadt [ist] angenehm, rings um mit Gärten umgeben, alles war in blüthen gehüllt, und die antiquen Thürme der Stadt gaben einen so angenehmen Anblick mit der verjüngten schönen Natur. Wir besahn noch selbigen Abend einen Spaziergang er war sehr volkreich, es war ein artiger Anblick so viele Menschen auf einen kleinen Plaz versammelt zu sehn. Den 28ten besahn wir die Seebaldi Kirche die eine der größten Kirchen in Deutschland sein soll, sie hat sehr schöne gemählde von Albrecht Dürrer. Auch das Monument des St. Sebaldus ist bemerkungswürdig es ist sehr schön von bronze gegoßen, und mit erstaunender mühe und Arbeit. Wir besahn auch das Rathauß, sahn den Magistrat in seinen sonderbaren Anzug, er hat viel ähnliches mit dem Spanischen, und in ganzen hat er sehr was grosses, u. ehrwürdiges.

Der Kaisersaal ist sehr groß, Die Zimmer sind schön, und haben besonders auch schöne Gemählde, ein Gemählde von Albrecht Dürrer Adam und Eva vorstellend verdient bemerkt zu werden. Wir besahn auch das Zeughaus welches sehr groß ist, und besonders der Ordnung und Zierlichkeit wegen womit alles arrangiert ist gesehn zu werden verdient, ein Oberst Troß hat sich dadurch verdient gemacht, er hat das ganze in Zeit von 9 Jahren so eingerichtet. Man zeigte uns auch einen grossen Brunnen sehr schön künstlich von bronze gegossen, er steht schon 30 jahre in einen Hause daß man zu dem entzwecke hat erbauen laßen, und er wird auch wohl so stehn bleiben müssen, denn er ist so Ungeheuer groß daß man nicht genug Waßer dazu, zusammen bringen kan. Die Rathsherrn von Abbdera fielen mir dabei ein, und ist es wirklich zu glauben daß die guten Nurenberger sie haben nachahmen wollen. Er kostet entsezlich viel Geld, und man kann ihn nie anbringen.30

Über Ansbach, Dinkelsbühl – Charlotte schreibt mundartlich „Dunkelspiel“ –, Ellwangen und Gmünd gelangt man schließlich „in die fruchtbaren Gründe Würtenbergs, alles scheint Da schöner die Felder so bebaut, alles athmet Fruchtbarkeit“. Stuttgart liege „sehr angenehm und hat ein Ansehn von Wohlstand“.31 Im Ludwigsburger Schloss sind „Collosalische Bildsäulen“ sowie eine Gemäldegalerie zu bewundern. Besonders merkwürdig erscheint Charlotte das Bildnis der „Weiber von Weinsberg“.32 Eine Bijouterie in Ludwigsburg erweckt ihr Interesse, mehr aber noch die auf der Höhe gelegene Festung Asperg, in der sie den „unglücklichen Schubart“ sieht: „Er spielte uns auf den Clavier, und er spielt unaussprechlich schön, mit so vielen unbeschreiblichen Ausdruck. Wie schade daß so viel Talente in diesen Mauren eingeschloßen bleiben müssen!“33 Bereits sechs Jahre, seit 1777, ist der Dichter und Musiker Christian Friedrich Daniel Schubart dort inhaftiert und soll es für noch weitere vier Jahre bleiben. Sein Beispiel eines wegen regierungskritischer Schriften eingekerkerten Künstlers hat im Frühjahr 1783 den jungen Friedrich Schiller veranlasst, nach einem von Herzog Carl Eugen erteilten Schreibverbot, sich aus Stuttgart, wo er als Militärarzt stationiert ist, heimlich fortzustehlen und landesflüchtiger Theaterdichter zu werden. Zur Zeit des Besuchs der Damen Lengefeld in Ludwigsburg hält er sich im thüringischen Bauerbach auf, gefördert durch Henriette von Wolzogen, deren beide Söhne an der Stuttgarter Militär-Akademie (später in Karlsschule umbenannt) studieren. Gemeinsam mit Mutter und Schwester besucht Charlotte im Mai 1783 die Eliteeinrichtung des württembergischen Fürsten, und zwar in Begleitung von Henriette von Wolzogen, mit der sie mütterlicherseits verwandt ist. Charlotte wird sich bei Gelegenheit dieses ersten Zusammentreffens mit deren Sohn Wilhelm von Wolzogen anfreunden und einen lebhaften Briefwechsel anknüpfen. Wenige Jahre später wird es Wilhelm sein, der Friedrich Schiller in Rudolstadt einführt, und schließlich wird er 1794 der zweite Ehemann ihrer Schwester Caroline werden – nach deren Scheidung von Beulwitz.

Doch zurück zur 16-jährigen Charlotte, für die sich im Mai 1783 im strengen Führungsstil der Karlsschule der schwäbische Despotismus in nuce spiegelt: „Die einrichtung der Akademie ist sehr hübsch. Aber es macht einen besondren eindruck aufs freie Menschenherz, die jungen leute alle Essen zu sehn. Jede ihrer bewegungen hängt von den wink des Aufsehers ab. Es wird einen nicht wohl zu muthe, menschen wie Drahtpuppen behandlen zu sehn.“34 Ganz gegensätzlich dazu ist ihr erster Eindruck von der Schweiz, die man über Echterdingen, Tübingen, Bahlingen und Altingen am 9. Mai erreicht. Schaffhausen liege zwar im Tale und wirke mit seinen hohen Häusern etwas düster, gleichwohl wird Charlotte beim Anblick der Schweizer Stadt zur Freiheitsschwärmerin: „Wie wohl wird einen nicht beim Gefühl der Freiheit! Der Despotismus verfinstert nicht die Herzen der bewohner dieses glücklichen Landes. Sie sind frei, dies gibt den wesen einen besondren Anstrich, sie sind alle so gütig, gastfrei, wollen gern alle menschen wohl wißen.“35 Der Rheinfall von Schaffhausen, dieses „unnennbar[e] Schauspiel der Natur“, wird ihr zur Allegorie menschlicher Standhaftigkeit: „Der Rhein stürzt sich über einen Felsen der 80 Fuß hoch ist, schäumend herab. Es ist ein grosser schöner Anblick. Die schäumende Welle mit getöse um die Felsen herab stürzen zu sehn. So stehn oft Menschen von wogen des Schicksals umrauscht! ohne Trost, ohne Stüze, gleich der grossen Steinmasse die sich da erhebt ruhig unerschüttert da.“36

Weitere Schweizer Reisestationen, die mehr oder weniger ausführliche Schilderung erfahren, sind Appenzell, Winterthur, Zürich – dort lernt Charlotte Lavater kennen –, dann Lenzburg, Kilchburg, Kanton und Stadt Bern: „Man zeigte uns die Bildsäule Wilhelm Telles mit den Bogen wo mit er wirklich soll den Apfel von Kopf seines Sohns geschossen haben“.37 Nach weiteren Besuchen in Avenches, Lausanne und Morges erreichen die Reisenden schließlich ihren Bestimmungsort Vevey: „Der Weg dahin ist nicht angenehm immer zwischen Mauren. Aber die Aussicht ist herrlich. Der See, die Savoyischen Berge, die in grauer Dämmrung gegen über liegen. Und die fruchtbaren Berge des Pays de Vauds – welcher Contrast! Vevey liegt ganz am See, mit Weinbergen, Landhäusern umgeben. Ueber diese hohe Berge mit Sennhütten bestreut. Und hin und wieder blicken rauhe Felsen hervor.“38

Charlottes Tagebuch der Reise in die Schweiz – die Rückreise hat sie nicht aufgezeichnet – ähnelt einem Logbuch, in dem detaillierte Beobachtungen zu Architektur, zu technischen Neuheiten ebenso wie Natureindrücke und Reflexionen festgehalten sind. Dass sie zu Hause eine Reinschrift anfertigt, lässt darauf schließen, dass es für sie durchaus auch eine literarische Übung darstellt. Während sie offenbar nicht erwägt, ihre Aufzeichnungen zu veröffentlichen, nutzt ihre auf der Rückreise 20-jährige Schwester Caroline die sich ihr bietende Gelegenheit einer ersten Publikation. In Mannheim lernt die Reisegruppe die Schriftstellerin Sophie von La Roche kennen, um die in jungen Jahren Wieland leidenschaftlich geworben hat, die mittlerweile aber mit dem kurtrierischen Kanzler Michael von La Roche verheiratet ist.39 La Roche, bekannt bereits durch ihre beiden Romane Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) und Rosaliens Briefe an ihre Freundin Marianne von St*(1779 – 1781), entdeckt zu dieser Zeit den Reiseschilderungen günstigen literarischen Markt und nimmt Carolines Reisebeschreibung in ihre Zeitschrift Pomona für Teutschlands Töchter auf. Unter dem Titel Schreiben einer jungen Dame, auf ihrer Reise durch die Schweiz erscheint sie im fünften Heft 1784.40 Die formal als Brief an einen „L. F.“ („Lieben Freund“) gestaltete Schilderung beschreibt einen Ausflug von Vevey aus in den Grindelwald und enthält Elemente, die denen von Charlottes Schilderung nicht unähnlich sind, z. B. die Beschreibung der Städte Freiburg, Thun und Zürich, dann des Grindelwaldes und Bienzer Sees. Die Rückreise erfolgt über Thun und Bern. Die Darstellung beginnt mit der ironischen Wendung: „Zu meinem grossen Verdrusse sahe ich wenig; aber aus dem Wenigen schöpfte ich schon viele Freuden.“41 Und sie endet: „Da haben Sie nun eine Skize meiner Reise, L. F. Meine Beschreibung ist sehr verwirrt, aber ich entwarf sie in der Eil. Mündlich will ich Ihnen alles besser erzählen“,42 um abschließend über die Ballonflugversuche des Monsieur Montgolfier, insbesondere „vom zweyten Versuch, der mit dieser aerostatischen Maschine in Versailles gemacht worden ist“,43 zu spekulieren, dessen Bruder derzeit in der Schweiz weilt. Carolines Text wirkt durch die Briefform und die direkte Anrede eines Freundes kapriziöser als die Tagebuchaufzeichnungen Charlottes, die detailfreudige Mitschriften des Beobachteten sind.

Man hat die unterschiedlichen Temperamente der beiden Schwestern gerade auch anhand ihrer Schweizer Schilderungen, insbesondere des Rheinfalls von Schaffhausen in Carolines Erinnerungen aus der Schweiz, betont.44 Vergleicht man aber die veröffentlichte Schilderung Carolines mit der Charlottes, so wäre auch die der jüngeren Schwester durchaus publikationswürdig gewesen; informativer ist sie allemal. Die Schweizer Szenerie – massive Natureindrücke wie Rheinfall und Alpen – verbinden sich in Charlottes Schilderung mit der Vorstellung eines Nationalcharakters, der von größerer Freiheit geprägt ist. Das wiederholt sich noch 1819, als Charlotte gemeinsam mit den Töchtern ihren ältesten Sohn Karl im württembergischen Altshausen besucht:

Ich bin im Gebiet der Poesie sehr freiheitsliebend, und da ich nun dem Sinn für Unabhängigkeit noch mehr Nahrung gab, dadurch daß ich das Gebiet der Freiheit betrat – denn ich war in Schaffhausen, – so dünkt mir die Welt, in der sich unsre nachkrächzenden Sänger bewegen, noch tiefer und düstrer. Wenn alles so klar und rein und groß sein könnte, wie die Schaummasse, die sich von den Felsen herabstürzt, so möchte wol die Vollkommenheit ins Leben gerufen sein. Es geht doch nichts über diesen einzigen Anblick, von dessen Größe mein Herz neue Kraft und Freude geschöpft hat, und dieses unaussprechliche Schauspiel habe ich tief empfunden. Wir haben den Rheinfall den 7. September Abends nach unsrer Ankunft bei der Abendsonne zuerst gesehen und des Morgens darauf den Regenbogen; von allen Seiten sind wir ihm nahe gewesen und Karl, der vor acht Jahren schon da war, hat uns jeden schönen Standpunkt gezeigt. So habe ich diese einzige Naturerscheinung in meinem Geiste festzuhalten gesucht. Die Felsen sind nicht zusammengestürzt, sondern stehen groß und fest da […].45

Fast scheint es, dass die mittlerweile 52-Jährige mit der Äußerung über die Felsen auf ihre Allegorie der Standhaftigkeit anspielt, die ihr der Rheinfall als 16-Jährige bot.

Die Reise in die französische Schweiz 1783 bis 1784 bildete für Charlotte die erste Erfahrung dieser Art; ihre Aufzeichnungen können ebenso wie die ihrer Schwester als Pionierleistungen im Genre der Reisebeschreibung, insbesondere von Frauen, gelten. Die auch bei Charlotte erkennbare Freiheitsschwärmerei, die sich mit der Schweiz und dem Anblick der Alpen verbindet, folgt unverkennbar literarischen Vorbildern.

Sophie von La Roche, die Carolines Schreiben veröffentlicht, wird bald darauf zu einer der ersten professionellen Reiseschriftstellerinnen, beginnend – ebenfalls – mit einer Reise in die Schweiz 1784 (gefolgt dann von Reisen nach Frankreich, 1786, sowie nach Holland und England, 1787).46 Anders als im naiven Zugang der Lengefeld-Töchter, dem staunenden Beobachten, reist La Roche als gebildete Frau, die sich unter anderem mit den wichtigsten literarischen Vertretern der Verbindung von Schweizer Natureindrücken und Freiheitspathos beschäftigt hat, Albrecht von Haller (Die Alpen, 1732) und Salomon Gessner (Idyllen, 1756), den sie mitsamt seiner Frau persönlich antrifft.47 Bemerkenswert ist immerhin, dass sich La Roche, solange sie noch in Deutschland weilt, bei einer vierstündigen Fahrt durch eine dichte Waldgegend die „Erinnerung an Räuber- und Mordgeschichten“48 aufdrängt, während der Umstand, auf Schweizer Gebiet zu sein, sie zuversichtlich stimmt. Wie für Charlotte 1783 wird dieses Gefühl von Freiheit und Standhaftigkeit auch bei La Roche 1784 bildhaft im Rheinfall von Schaffhausen: „Ich saß allein auf der Steinmauer, welche gegen das Anprellen der Wellen aufgeführt ist. Es war Sonntag, also überall Ruhe, und in einem Lande der Freyheit, wo Krieg und räuberische Gewaltthätigkeiten unbekannt sind, konnte ich mich wohl, so furchtsam ich sonst bin, nach meiner Liebe zur Einsamkeit allein da hinsetzen.“49

Über den Aufenthalt der Lengefelds in Vevey am Genfer See ist wenig bekannt. Französischunterricht erhalten die jungen Frauen, sie lesen Schriften Voltaires, Diderots und Rousseaus. An Wilhelm von Wolzogen schreibt Charlotte bereits 1783 aus Vevey, wie froh sie sei, nun endlich „von Rudolstadt weg zu kommen, viele frohe Aussichten zeigten sich mir, sie schwanden zuweilen alle, bis endlich dieser Plan gelang“.50 Sie berichtet ihm von einem Ausflug nach Clarens, dem Schauplatz von Rousseaus Julie, ou la nouvelle Héloïse (1761):

Gestern haben wir eine Spazierfahrt auf dem See nach Clarens gemacht. Es ist herrlich, wie gerne brächte ich einen Theil meiner Tage dort zu. So schön ist’s dort, doch leider keine Spur von all’ den schön angelegten Plätzen, die Rousseau schildert. Es war mir traurig, als ich an’s Land stieg, daß ich nicht glauben konnte, Julie und St. Preux hätten wirklich existirt; ich glaube, ich hätte mich sonst gar nicht von dem Orte trennen können, so nah ist er meinem Herzen.51

Besuche in Zürich und Bern schildert sie ihm, bei denen sie vor allem Lavaters Bekanntschaft macht. In den Briefen an Cousin Wilhelm vom Juni und Juli 1783 thematisiert Charlotte auch ihr eigenes Schreiben, das einem – rousseauistischen – Ideal der Spontaneität folgt: „Ich schreibe nie meine Briefe ab, sondern schreibe hin, was mir vorkommt, ich kann das Conceptmachen nicht leiden“.52 Oder sie kommentiert den graphischen Aspekt ihres Schreibens: „Ich kann noch niemand hier finden der gute Federn schneidet, also schmiere ich gar sehr. Und meine Dinte, ohngeachtet der Kaufmann mir heilig versichert hat, sie wäre von Paris, ist gar herzlich schlecht.“53

Im Unterschied zu den brieflichen Nachrichten, schildert Charlottes Reisetagbuch weder den Aufenthalt in der Schweiz noch die Rückreise. Es ist denkbar, dass eine erste Liebeserfahrung sie gedanklich in der Schweiz zurückhält und an den Ereignissen auf dem Rückweg wenig Anteil nehmen lässt. Im Nachlass findet sich ein Gedicht, in dem sie eines verlassenen Liebenden gedenkt. Es trägt den Titel An … und ist eigenhändig datiert „1785 bis 86“.54 Das Gedicht wurde bisher nur in korrigierter Form – basierend auf einer Abschrift der jüngsten Schiller-Tochter Emilie (von Gleichen-Rußwurm) – im ersten Band von Urlichs veröffentlicht.55 Die Manuskript-Fassung lautet:

O wie oft erwacht in meinen Herzen

Liebevoll dein Bild.

Statt der Freude fühlt ich bittre Schmerzen

war mit Sehnsucht meine Brust erfüllt.

Jener Stunde dacht ich weinend immer,

Da ich einst dich fand,

Dachte dein, beim sanften Abend schimmer,

Oft an meines blauen Flusses Strand.

Endlich heilte meiner Liebe wunden

Die wohlthätige Zeit.

Und mein Herz hat wieder Ruh gefunden,

Aber glaube, nicht vergessenheit.

Wem die schmerzvolle Erinnerung, verfasst vermutlich auf den Jahreswechsel, gilt, ist nicht bekannt. Da von der „wohlthätige[n] Zeit“ die Rede ist, scheint es plausibel, dass die glückliche Stunde in die Zeit der zwei Jahre zurückliegenden Schweizreise fällt.

Zu sehr in Erinnerungen verhaftet, hinterlässt auch der aufstrebende, aus Bauerbach nach Mannheim zurückgekehrte Theaterdichter Friedrich Schiller, den die Reisegesellschaft am 6. Juni 1784 flüchtig antrifft, bei Charlotte keinen besonderen Eindruck. Beulwitz, der die drei Rudolstädter Damen in Vevey in Empfang genommen hat, um sie nach Hause zu begleiten, hinterlässt Schiller seine Karte mit dem Hinweis, dass die Durchreisenden Grüße von Frau von Wolzogen sowie seinen Eltern – die man in Ludwigsburg besucht hat – überbringen wollen. Als Schiller im bezeichneten Gasthof ankommt, ist man jedoch bereits im Aufbruch begriffen, wechselt nur noch zwischen Tür und Angel wenige Worte. In ihrer Schiller-Biographie beschreibt Caroline von Wolzogen dieses erste Zusammentreffen, das auf alle Beteiligten noch wenig Eindruck gemacht habe: „Seine hohe, edle Gestalt frappirte uns; aber es fiel kein Wort, was lebhafteren Antheil erregte.“56 Beschäftigt sind offenbar beide jungen Frauen mit glücklich verlebten Tagen in der Schweiz, so dass sie mit dem Mannheimer Theaterdichter wenig anfangen können: „So sahen wir Schiller zum erstenmal, wie aus einer Wolke wehmüthiger Sehnsucht, die uns nur schwankende Formen erblicken ließ. Der Theaterwelt waren wir fremd. In den Räubern hatten uns einzelne Scenen gerührt, die Masse von wildem Leben zurückgescheucht. Aber es wunderte uns, daß ein so gewaltiges und ungezähmtes Genie ein so sanftes Aeußere haben könne.“57 Das ist freilich aus dem Rückblick geschrieben und veröffentlicht, 25 Jahre nach Schillers Tod und vier Jahre nach dem Charlottes. Die Schilderungen der Schweizer Reise sollen nicht der einzige Fall bleiben, in dem die ältere Schwester die jüngere schriftstellerisch,übervorteilt‘, bzw. den Altersvorteil ausnutzt. Auch ihre Schiller-Biographie basiert zu Teilen auf Beschreibungen Charlottes, einschließlich der Verbesserung eines von ihr verfassten Gedenk-Sonetts, Die wechselnden Gefährten.58 Böswillig geschieht das vermutlich nicht, hat vielmehr mit der Familienkonstellation und mit dem Umstand zu tun, dass eine der jungen Frauen der anderen an Jahren und Bildung voraus ist.

Die poetische Zusammenarbeit der beiden in Jugendjahren dokumentiert sich etwa in dem Weihnachtsgedicht Ein Lied von Reiffen,59 das die winterliche Freude am Raureif auf Bäumen beschreibt und mit der Vorstellung eines Engels verbindet, der zur Weihnacht die Zweige mit weißen Reifkristallen verziert. Die ersten drei Strophen sind in Charlottes Hand geschrieben, die weiteren zwölf in der Carolines. Charlotte beginnt:

Seht meine lieben Bäume an,

Wie sie so herrlich stehn,

Auf allen Zweigen angethan

Mit Reiffen wunderschön.

Von unten an bis oben, naus

Auf allen Zweigelein

Hängts weis und zierlich, zart und kraus,

Und kan nicht schöner sein.

Und alle Bäume rund umher

All alle weit und breit.

Stehn da, geschmückt mit gleicher Ehr

In gleicher herrlichkeit.

Caroline fährt fort:

Und sie beäugeln und besehn

Kann ieder Bauersmann

Kann hin und her darunter gehn

Und freuen sich daran

Auch holt er Weib u. Kinderlein

Vom kleinen Feuerherd,

Und Marsch mit ihm den Wald hinein!

Und das ist wohl was werth.

Einfältiger Natur genuß

Ohn Alfanz Drum und Dran

Ist lieblich wie ein Liebeskuß

Von einen frommen Mann

Ihr Städter habt viel schönes Ding

Viel Schönes überall,

Condit u. Geld u. goldnen Ring

Und Bank u. börsensaal;

Doch Erle, Eiche, Weid’ u. Ficht!

In Reifen nah u. fern –

So gut wirds Euch nun einmal nicht,

Ihr lieben reichen Herrn.

Das hat Natur nach ihrer Art,

Gar eignen Gang zu gehn,

Uns Bauersleuten aufgespart.

Die andres nichts verstehn.

Viel schön, viel schön ist unser Wald!

Dort Nebel überall,

Hier eine weiße Baumgestallt

Im vollen Sonnenstrahl

Lichthell, still, edel rein u. from,

Und über alles fein! –

O aller Menschen Seele sei

So lichthell u. so rein!

Wir sehn das an, u. dencken noch

Einfältiglich dabei:

Woher das Reif, u. wie es doch

zu Stande kommen sei?

Denn gestern abend, Zweiglein owe!

Kein Reiffen in der That! –

Muß einer doch gewesen sein

Der ihn gestreuet hat.

Ein Engel Gottes geht bei Nacht,

Streut heimlich hier u. dort,

Und wenn der Bauersmann erwacht,

Ist er schon wieder fort.

Du Engel, der go gütig ist,

Wir sagen Danck u. Preiß.

O mach uns doch zum heilgen Christ

Die Bäume wieder weiß!

Es ist anzunehmen, dass das gesamte Gedicht von beiden gemeinsam verfasst wurde. Die ersten Strophen schildern einen Natureindruck, der zu einer Allegorie weiterentwickelt wird. Kontrastiert werden darin die „Bauersleute“ und ihre einfältige Perspektive des Naturgenusses mit den „Städter[n]“ bzw. „reichen Herrn“, denen Bank- und Börsenwesen über alles geht. Die Identifikation mit der bäuerlichen Sphäre im Kontrast zum städtischen Geldwesen legt die Möglichkeit zumindest nahe, dass auch dieses Gedicht während des Aufenthaltes in der Schweiz entstanden ist.60 Der Handschrift nach zu urteilen, stammt auch noch zumindest ein weiteres Erzählgedicht Charlottes, der Entwurf einer Ballade oder Romanze, aus dieser frühen Zeit. Vom Archiv wurde es mit dem Titel Erlach versehen nach der in den ersten Versen skizzierten Hauptfigur: Erlach ist der Bewohner eines auf hohem Felsen gelegenen Schlosses, der sein Leben in Festen verrauschen lässt und dessen ebenso schöne wie kaltsinnige Tochter selbst die warmherzigsten Bewerber abweist.61 Ebenfalls der Handschrift nach aus dieser frühen Zeit stammt das Gedicht An Leidende.62

Euch denen mancher Kummer schon

Getrübt das Erde leben

Für die schon manche freuden flohn

O könnt ich Trost euch geben!

Doch menschen Trost ist nur ein Wahn

wenn Schmerz die Seele drücket

Dann lieber blicket himmelan

Der euch die freuden schicket,

Ists auch der euch den Kummer gab

drum stillet eure Klagen,

Der uns die leiden sandt herab,

Giebt muth auch sie zu tragen

Darum beruhigt euer herz

Und denkt ans bessre leben,

Was hier ward Quell zu manchen Schmerz

Wird dort uns Freuden geben.

In jenen schönen bessren land

Da finden wir nicht Thränen

Nicht Kummer mehr, nicht Unbestand

Da hebt kein banges Sehnen,

Das herz uns mehr, nach dem was wir

So ängstlich wünschten, hoften hier.

Bald sind die Tage doch verlebt

Und an des Grabes Schwelle,

Ists gleich ob freude uns umschwebt

ob trübe oder helle

Der Strom der Zeit uns floß dahin

nichts bleibt von diesen leben,

nur gutes Herz und edler Sinn

Kan übern Staub uns heben.

Charlottes jugendlicher Entwurf einer Trostphantasie angesichts menschlichen Leidens basiert auf einer Vorstellung eines besseren Lebens nach dem irdischen. Charakteristisch ist, dass ihre Religiosität in aufklärerischer Tradition steht und eher deistische oder naturreligösen Züge trägt, sie also von einer nicht näher bestimmbaren göttlichen Instanz auszugehen scheint.

In den rückblickenden schriftlichen Aufzeichnungen über die Kindheit sowie aus den Schilderungen der ersten Reiseerfahrung in die Schweiz spiegelt sich der Altersunterschied der beiden jungen Frauen deutlich. Unverkennbar sind aber auch die Unterschiede in Veranlagung und Naturell, die freilich schon früh verknüpft sind mit Vorstellungen der Mutter über die zukünftige Entwicklung der Töchter. Caroline scheint verträumter, phantasiebegabter, auch leichter reizbar zu sein; kapriziös einerseits, mit einem Hang zum Tragischen andererseits. Charlotte dagegen wirkt praktischer veranlagt und vernunftgeleitet, hat es allerdings aber auch nicht nötig, sich zu kaprizieren, da zum Zeitpunkt der Reise ihre Zukunft noch offen und mit dem Plan, am Weimarer Hof anstellig zu werden, vergleichsweise aussichtsreich ist. Das Verhältnis beider Geschwister reflektiert die jüngere in einem Geburtstagsgedicht an die ältere, Zum 3. Februar 1787.63

Noch lag ich tief in Schlumer,

Und kante nicht die Welt

Sah glänzen nicht die Sterne

Sah noch nicht jene Ferne

So schön vom Mond erhellt.

Ich hörte nicht die Winde

Die unsren Hain durchwehn

Sah nicht durch blumen Wiesen

Die Saale lieblich fließen,

Sah nicht die Sonne schön.

Da rief ein guter Engel

Dich in des Lebens Tag

Und sprach: Dir sei die Freude,

Auf immer hold sie leite

Durchs Leben Dich gemach.

Noch liegt in Nacht gehüllet

Ein Wesen daß wie du

Soll sehn den Tag der Erden

laß es Dir theuer werden,

Du gibst ihm Trost und Ruh.

Es sah den Tag der Erde

noch schwebte düstre nacht,

um seinen blick die leiden

kannt es noch nicht, die Freuden,

Und nicht der Freundschaft macht.

Doch fester, immer fester

verknüpfte sich ihr Band,

Nun auf des lebens wegen,

giebt sie uns ihren Seegen

Wir wallen Hand in Hand.

Unterzeichnet ist das Gedicht mit „Lotte“. Die Perspektive, die die 20-jährige Verfasserin einnimmt, ist bemerkenswert: Ein lyrisches Ich beschreibt den eigenen vorgeburtlichen Zustand (erste zwei Strophen), dann die Geburt eines anderen Wesens (dritte Strophe), gefolgt von der eigenen (vierte und fünfte Strophe), und schließt mit einer Hymne der Freundschaft beider (sechste Strophe).64 Geschickt wird die ältere Schwester in die Verantwortung für die jüngere gestellt, wird der Umstand, dass die eine der anderen naturnotwendig ,voraus‘ ist, in eine wechselseitige und ,ebenbürtige‘ Beziehung überführt. Metaphorische Gegensätze von Nacht und Tag der ersten fünf Strophen münden in das Bild des Hand-in-Hand-Gehens: nicht die Jüngere an der Hand der Älteren, auch nicht ihre Emanzipation aus deren Hand. Es ist ein Geburtstagsgedicht, das mehr über die Gratulantin als über die Gefeierte mitteilt, eine fremdperspektivierte Selbstäußerung gewissermaßen. Ähnlich wie Charlotte Schiller sich in ihren Kindheitserinnerungen nicht als autonomes Individuum entwirft, sondern sich vielmehr über das Umfeld, die Familie, die Lebensorte, die Umgebung charakterisiert – ein für autobiographisches Schreiben von Frauen besonders typisches „heterologes“ Verfahren65 –, ähnlich legt sie ihr eigenes Auf-die-Welt-Kommen der Verantwortung einer anderen, der älteren Schwester nahe, interessanterweise aus Anlass von deren Geburtstag, und formuliert zugleich ein Versprechen lebenslanger Verbundenheit.

Tatsächlich sollen sich ihre Wege kaum trennen, so verschieden sich beider Lebensläufe entwickeln werden: Caroline, die trotz besserer finanzieller und räumlicher Entfaltungsmöglichkeiten ihr Lebtag vergeblich nach Liebesglück sucht, und Charlotte, deren Handlungsspielraum durch die Beziehung zu Friedrich Schiller geprägt wird. Eine andere Liebesgeschichte liegt indessen vor der Verbindung mit ihm, die gleichzeitig wichtige Impulse für Charlottes literarische Tätigkeit gibt.

Charlotte Schiller

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